Gemeinsam Unterricht entwickeln

Herr Müller-Hartmann, worum geht es in Ihrem Forschungsprojekt?
Herr Müller-Hartmann:
Bei dem Forschungsprojekt "Lernaufgaben Sekundarstufe I" ging es darum, einen Lernaufgabenpool für den Englischunterricht der Sekundarstufe I zu entwickeln. Die Aufgaben sollen die SchülerInnen dazu befähigen, die fremdsprachlichen Kompetenzen, die in den Bildungsstandards abgebildet sind, zu entwickeln.

Wie kam es zu diesem Projekt?

Auf Grund der schlechten Resultate der PISA-Studie kam man zu dem Entschluss, nationale Bildungsstandards zu entwickeln, die natürlich irgendwie überprüft werden müssen. Die Kultusministerkonferenz der Länder hat daher das "Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen" (IQB) gegründet, das für die Entwicklung der Testaufgaben und Vergleichsarbeiten in Deutschland zuständig ist.
Das IQB hat dann erkannt, dass man die Kompetenzen, die man testen will, erst einmal entwickeln muss. Zur Unterstützung der Lehrkräfte bei der Kompetenzentwicklung wurden deshalb Lernaufgabenpools von ExpertInnen in den Fächern Deutsch, Englisch, Französisch und Mathematik entwickelt. Für den Bereich Englisch wurden meine Kollegin von der PH Freiburg, Frau Prof. Dr. Marita Schocker, und ich angesprochen.

Das IQB kam also auf Sie zu. Was war Ihre eigene Motivation, in diesem Bereich zu forschen?
Ich arbeite seit längerer Zeit in dem Bereich "aufgabenorientiertes Fremdsprachenlernen" (TSLL). Dieser lernorientierte Ansatz, der sich aus dem kommunikativen Fremdsprachenunterricht heraus entwickelt hat, ist besonders dazu geeignet, jungen Menschen zu helfen, eine Fremdsprache zu lernen.
Gleichzeitig interessiert mich, wie ich den Lehrkräften helfen kann, so einen Ansatz für sich anzunehmen und im Schulalltag einzusetzen. Unsere Studierenden bringen ja aus ihrer eigenen schulischen Laufbahn oft recht traditionelle Vorstellungen vom Fremdsprachenunterricht mit. Mit ihnen an diesen Vorstellungen langfristig im Sinne von TSLL zu arbeiten, finde ich spannend.

Wie lange haben Sie an dem Forschungsprojekt gearbeitet?

Frau Schocker und ich haben dieses Forschungsprojekt drei Jahre geleitet und mittlerweile fast abgeschlossen.

Und wie entwickelt man Lernaufgaben?

Seitens des IQB war unsere primäre Aufgabe, einen Lernaufgabenpool zu entwickeln. Wir haben das Projekt allerdings etwas größer gefasst und den Unterricht, der zur Entwicklung der Lernaufgaben durchgeführt wurde, auch komplett videografiert. Dabei haben wir mit insgesamt 16 Lehrkräften aus der ganzen Bundesrepublik zusammengearbeitet.

Wie sind Sie vorgegangen?
Wir haben uns gemeinsam zu zentralen Workshops in Berlin getroffen und für die einzelnen Kompetenzbereiche der Bildungsstandards, also zum Beispiel die Frage der Grammatikvermittlung, Lernaufgaben entwickelt: Die Lehrkräfte haben zunächst aus ihrer eigenen Erfahrung berichtet, wie sie diese Kompetenzen in ihrem Unterricht entwickeln und welche Erfahrungen sie mit dem aufgabenorientierten Ansatz in dem Zusammenhang gemacht haben.
In einem zweiten Schritt haben die Lehrkräfte Aufgaben für die einzelnen Klassenstufen entwickelt. Frau Schocker und ich haben dazu ausführliches Feedback gegeben und letztendlich wurden die oft mehrfach überarbeiteten Lernaufgaben in den Klassen unterrichtet.
Diesen ganzen Prozess, also die Entwicklung eines Aufgabenplans in Zusammenarbeit mit den Lehrkräften, nennen wir im Englischen "task-as-workplan".

Und wie ging es im Anschluss weiter?
Es folgte der "task-in-process": Was passiert, wenn die entwickelte Aufgabensequenz unterrichtet wird?
Der Unterricht, der in allen Schulformen stattfand, wurde videografiert und die Lehrkräfte haben über ihren Unterricht reflektiert sowie die Lernaufgabe nochmals überarbeitet. Diese Reflexionen und die Auswahl von "critical incidents", also wichtigen Punkten im Aufgabenprozess, wurden im nächsten Workshop besprochen, bevor ein neuer Zyklus der Aufgabenentwicklung für einen weiteren Kompetenzbereich begann. Dabei wurde auch über Fragen und bestimmte Situationen diskutiert, wenn zum Beispiel im Unterricht etwas nicht so gut gelaufen war.
Sukzessive entwickeln die Lehrkräfte so ihre Kompetenzen, um ein komplexes Konstrukt wie Lernaufgaben zu entwickeln, einzuführen, zu begleiten und zu bewerten. Für die beteiligten Lehrkräfte war das Projekt somit auch eine intensive Fortbildung.

Werden die Aufgaben für die unterschiedlichen Schulformen in einen Tiegel geworfen?
Nicht ganz. Der aufgabenorientierte Ansatz geht davon aus, dass man erst einmal darüber nachdenkt, für welche Inhalte sich die SchülerInnen interessieren. Am Beispiel der Grammatik erklärt man hier nicht zuerst die Struktur, sondern man entwickelt Situationen, in denen diese Struktur gebraucht wird.
Genau dafür haben wir unterschiedliche Ideen entwickelt und gesammelt. Wenn nun eine Lehrkraft einer lernstarken Gruppe auf diese Art unterrichtet, wählt sie beispielsweise einen anspruchsvolleren Text und weniger Unterstützung als für eine lernschwache Klasse.

Wurden auch SchülerInnen befragt?
Ja, das ist auch ein Teil der Videografie. Die Lehrkräfte waren angehalten, die SchülerInnen in die Reflexion des Unterrichts zu integrieren. Es ist wichtig zu sehen, wie die Durchführung der Aufgabe in der Klasse funktioniert hat und was die SchülerInnen dabei gelernt haben.
Die ausgewählten Videosequenzen zeigen beispielhaft die zu entwickelnden Kompetenzen. Sie sind so aufgearbeitet worden, dass die Nutzer zunächst aufgefordert werden, sich selber Gedanken zu machen, wie man zum Beispiel Kompetenzen zum Entwicklung interkultureller kommunikativer Kommunikation entwickeln bzw. was für Erfahrungen sie damit im Unterricht gemacht haben. Dann folgt die Videosequenz und im Anschluss können die verschiedenen Perspektiven auf diese Sequenz angeschaut werden - die der ExpertInnen, die der Lehrkräfte und auch die der SchülerInnen. Im Sinne der Triangulation hat man so einen guten Einblick in das komplexe Konstrukt Englischunterricht und kann so auch gut damit in der Aus- und Fortbildung arbeiten.

Können Sie weitere Ergebnisse nennen?
Die Ergebnisse sind zum einen die ungefähr 80 Lernaufgaben bzw. Lernaufgabensequenzen und zum anderen rund 120 ausgewählte Videosequenzen, die auf drei DVDs zusammengefasst wurden.
Wir haben Videosequenzen ausgesucht, die die Entwicklung spezifischer Kompetenzen exemplarisch zeigen: Wie kann man zum Beispiel interkulturelles Lernen im Englischunterricht unterrichten und was passiert im Unterricht? Dabei haben die Lehrkräfte beispielsweise so genannte Telekollaborationsprojekte entwickelt: In einer 9. Realschulklasse haben sich die SchülerInnen mit amerikanischen PartnerInnen über ihren Schulalltag ausgetauscht. In einer 7. Gymnasialklasse haben die SchülerInnen einen Fragebogen zu Essgewohnheiten von Jugendlichen entwickelt, ihn selber beantwortet und dann an die Partnerklasse in England geschickt und die Ergebnisse verglichen.

Und das Videomaterial kann man sowohl im Studium als auch bei Fortbildungen einsetzen?
Genau. Dazu gibt es ein Buch, das erläutert, was aufgabenorientiertes Lernen eigentlich bedeutet und wie man mit den Lernaufgaben arbeitet.
Zudem ist das Ganze auch ein wichtiger internationaler Forschungsbereich. Wir waren im vorletzen Jahr auf der "Task-Based World Conference" in Neuseeland und haben einen Vortrag zur Entwicklung von Kompetenzen bezogen auf den Grammatikunterricht gehalten. Im Herbst sind wir auf die "Task-Based World Conference" in Kanada eingeladen worden, wo es vor allem um die Frage der Lehreraus- und -fortbildung im Bereich aufgabenorientiertes Lernen gehen wird.

Ist die aufgabenorientierte Methode nun das beste Werkzeug, zu unterrichten?
Ich glaube, die beste Methode zu unterrichten, gibt es nicht. Der aufgabenorientierte Ansatz ist aber sehr lernorientiert, d.h. man geht von den Interessen der Kinder aus und versucht, sie mit für sie sinnvollen Inhalten zu motivieren und zu involvieren.
Obgleich der Unterricht in der Sekundarstufe I im Fach Englisch auf dem Schulbuch basiert, führt der aufgabenorientierte Ansatz zu einer notwendigen Öffnung der Unterrichtsinhalte und -methoden. Die SchülerInnen werden stärker in die Entwicklung des Unterrichts mit einbezogen (z.B. Wahl der Unterrichtsinhalte); sie werden dazu angeleitet, selber Ideen, Vorschläge und Texte mit in den Unterricht zu bringen. Man bringt den Kindern also nicht alles in den Unterricht mit, sondern sie müssen sich selbst Gedanken über Dinge machen. Das kann zum Beispiel in Form eines Textes geschehen, der zum Thema passt und der sie interessiert.
Die Lehrkräfte entwickeln den Unterricht stärker gemeinsam mit den Kindern, sie lösen sich öfter vom Schulbuch bzw. verändern die Angebote dort im Sinne des aufgabenorientierten Lernens.
Das erfordert eine Reihe von Kompetenzen von den Lehrkräften. Es führt auch zunächst zu Unsicherheit, da mehr Offenheit und damit auch Flexibilität von den Lehrkräften gefordert wird. Deshalb bedarf es auch Zeit, um so einen Ansatz für sich anzunehmen, ihn zu entwickeln und einzusetzen.

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veröffentlicht am 2. Mai 2013