Geschichtsschreibung 2.0

Herr Altenkirch, woran forschen Sie gerade?
Mein Forschungsprojekt nennt sich "Konstruktionsprozesse von Geschichte in der Wikipedia". Ich untersuche die historischen Narration dieser Website: Wie diese zustande kommt, wer dafür verantwortlich ist und wie die Inhalte hineingelangen.

Wie gehen Sie dabei vor?
Am Anfang steht die Frage, wie die Inhalte überhaupt in Wikipedia gelangen.
Viele nutzen die Website tagtäglich, haben sich aber noch nie Gedanken darüber gemacht, wie die Artikel überhaupt zustande kommen. So bin ich auf die Idee gekommen, diesen Weg zu erforschen: An Hand eines konkreten Beispiels - dem Artikel zum Holocaust - habe ich den Entstehungsprozess des Artikels untersucht. Jede Änderung an einem Wikipedia-Artikel führt zu einer neuen Version und alle Versionen werden in Wikipedia gespeichert und sind für jeden einsehbar. Ich gehe nun Version für Version durch und überprüfe, wer welchen Inhalt hinzugefügt hat und was diese für die Aussage des Artikels bedeutet.
Nun frage ich mich auch, ob sich dort Prinzipien von Geschichtsschreibung erkennen lassen? Wie lange die Artikel eigentlich bestehen und welche erfolgsversprechenden Muster sich erkennen lassen, damit ein Inhalt überdauert und nicht irgendwann gelöscht wird.

Was war Ihre Motivation, in diesem Bereich zu forschen?
Ich beschäftige mich bereits seit sechs Jahren sehr intensiv mit Möglichkeiten von digitalen Medien in der historischen Bildung. Zum Beispiel im Bereich von digitalem oder historischem Lernen mit mobilen Endgeräten und E-Learning-Geschichte.
Gerade deshalb finde ich den Aspekt interessant, ob sich historische Narrationen in kooperativ erstellten Systemen wie der Wikipedia von der "normalen" Geschichtserzählung, also wie wir Geschichte "traditionell" erzählen würden, unterscheiden. Das betrifft zum Beispiel das Auswerten von Quellen oder auch das Heranziehen von Literatur.
Für mich ist es spannend, hinter die Kulisse zu schauen: Wer ist eigentlich die tragende Kraft des Artikels und wer verfügt über die Meinungshoheit?

Seit wann arbeiten Sie an diesem konkreten Forschungsprojekt?

An diesem Projekt arbeite ich jetzt seit ungefähr zweieinhalb Jahren.

Und liegen schon Ergebnisse vor?
Ja, es liegen unglaublich viele Ergebnisse vor.
Schwerpunktmäßig untersuche ich ja den Artikel zum Holocaust. Davor habe ich aber bereits eine Untersuchung gemacht, um mich dem Thema "Wikipedia" allgemein zu nähern. Dafür habe ich mehr als 1.000 Artikel zur Geschichte ausgewertet - allerdings nicht so intensiv wie die Inhalte zu dem Thema "Holocaust". Bei dieser Arbeit ist mir aufgefallen, dass es immer so etwas wie einen Hauptautoren gibt. Dies gilt insbesondere für Themen, an denen nur wenige Leute Interesse zeigen, die demnach nur eine geringe gesellschaftliche Relevanz besitzen. An diesen Artikeln nehmen dann meist nur noch zwei oder drei Leute Änderungen vor - und auch das auch meist nur in Form von Rechtschreibkorrekturen oder Formatangleichungen. Besonders erstaunt hat mich, dass gerade bei dem Artikel zu Holocaust kaum direkt erkennbarer Vandalismus stattfindet.

Also bleiben die Artikel zum größten Teil objektiv?

Objektiv würde ich nicht sagen. Die Artikel sind schon sehr subjektiv, von den Sichtweisen der Akteure geprägt. Es gibt ein paar herausragende Akteure, die immer wieder in die Artikel eingreifen und versuchen, den Inhalt auf einer objektiveren Basis darzustellen. Es sind letztendlich aber doch viele einzelne Meinungen, die aufeinander treffen. Diese werden in den Diskussionen, die die Artikel begleiten, auch rege und intensiv besprochen.

Denken Sie, dass die Inhalte darunter leiden?
Wenn so viele Autoren zusammen arbeiten, kommt natürlich die Frage auf, ob nicht ein zu großes Sammelsurium an einzelnen Informationen entsteht. Das war bei dem Artikel zum Holocaust bis zu einem bestimmten Punkt auch zu beobachten: Hier wurden zum Beispiel viele Einzelinformationen additiv angehängt, die später von den Hauptautoren in eine ordentliche Gliederung gebracht und aufgearbeitet wurden.
Häufig wird ja auch gesagt, dass Wikipedia hervorragend dazu geeignet sei, um sich schnell einen ersten Einblick zu schaffen. Davon halte ich allerdings eher wenig. Nicht nur der Artikel zum Holocaust ist sehr ausführlich und beleuchtet viele spezielle Bereiche - da kann ein Artikel fast keinen Überblick mehr bieten.
Dann ist da auch die Frage, wie qualitativ hochwertig der Artikel zu dem Thema "Holocaust" eigentlich ist? Ich halte ihn für gut, was vor allem daran liegt, dass sich so viele Personen für das Thema interessieren und folglich auch den Inhalt überprüfen.
Natürlich kommt es in der Geschichte auch stark auf einzelne Formulierungen an. Wenn man ein Wort in einem Artikel ändert, kann es eine große Auswirkung auf die Aussage einer bestimmten Passage haben. In dem Punkt sind die einzelnen Autoren aber sehr aufmerksam.
Problematisch sind Randbereiche einer Thematik, mit denen sich nur wenige Leute beschäftigen. Hier sind die Artikel oft fehlerbehaftet und häufig qualitativ weniger hochwertig.

Welchen pädagogischen Nutzen kann die PH aus Ihrer Forschung ziehen?
Ich mache schwerpunktmäßig Lehre zu digitalen Medien und Geschichte und meistens halte ich mindestens eine Seminarsitzung zu dem Thema "Wikipedia". Oft biete ich dabei eine Einführung der Wikipedia; die Studierenden arbeiten dann eigenständig an der Untersuchung eines Artikels.
Außerdem versuche ich, der pauschalen Ablehnung der Wikipedia zumindest ein wenig entgegen zu treten. Denn in gewissen Bereichen ist diese Informationsquelle ganz stark und kann einiges.
In der Diskussion, ob Wikipedia als Quelle für den Schullalltag oder sogar für eine Zulassungsarbeit verwendet werden darf, bietet meine Forschung außerdem einen Anhaltspunkt der Orientierung. Der praktische Nutzen meiner Arbeit soll - nach der kompletten Untersuchung der Konstruktionsprozesse - in einer konkreten Handlungsanleitung liegen, wie man mit der Wikipedia am besten umgeht.

Wie sieht denn ein richtiger Umgang mit der Wikipedia aus?
Ich sage meinen Studierenden immer, dass - wenn sie Wikipedia nutzen wollen - sie immer zuerst in die Literaturverzeichnisse schauen sollen. Denn diese sind meistens hochaktuell. Manchmal sogar aktueller als die Bibliothekskataloge! Wikipedia ist unglaublich schnell und aktuelle Änderungen werden sofort übernommen.
Und ich halte es für absolut notwendig, sich die Diskussionen anzuschauen. Denn sie bieten einen Einblick über die Autoren. Das Problem an dem kooperativen Online-Medium ist allerdings, dass es unglaublich "zerfasert" ist. Die Diskussionen werden häufig nicht nur auf den Artikel begleitenden Diskussionsseiten geführt, sondern auch auf den jeweiligen Nutzerseiten der Autoren oder an ganz anderen Stellen. Und das ist dann mühsam herauszufiltern.

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veröffentlicht am 30. November 2013