Gemeinhin bezeichnet man einen Menschen, der ein enges Verhältnis zur Wirklichkeit hat, als Realist. In der Wissenschaft, so auch der Erziehungswissenschaft (zumal als Leitdisziplin der Lehrkräftebildung), impliziert der Begriff des Realistischen hingegen nicht nur die Annahme, dass die Gegenstände der Theorie objektiv existieren und beobachtbar sind, sondern auch hergestellt, strukturiert und verbessert werden können. Ähnlich auch in der Kunstgeschichte: Dort werden mit dem Begriff 'Realismus' aber nicht nur wirklichkeitsnahe Farb- und Formtechniken assoziiert, sondern zugleich zeit- und disziplinkritische Einsätze transportiert.
Diese Kritik am disziplinären Selbstverständnis kommt auch in der häufig zitierten „realistischen Wende“ samt der damit verbundenen Entwicklung von der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft zum Ausdruck. Unsere diesbezügliche These lautet, dass die Verselbständigung des Rückständigkeitsverdachts gegenüber der eigenen Disziplin auch mit einer Art Verselbständigung der Technik und diesbezüglich folgenreichen Programmatik einhergeht. Dies zeigt sich u.a. in der Diskursmächtigkeit von Begriffen und Konzepten, die Erziehung als Tatsache und Bildung als erfolgreiches Problemlösen auffassen. Das so aufs Gelingen verpflichtete pädagogische Denken und Handeln scheint also zunehmend in dem aufgehoben zu sein, was der Fall ist, während das Inkommensurable dethematisiert, pathologisiert oder positiviert wird. Doch gerade weil Pädagogik als Praxis stets mit mehr oder weniger ungewissem Ausgang offen, mühsam und unsicher bleibt, gilt es, das Unmögliche, Ungewollte und Unverfügbare mitzudenken.
Mit dem Attribut „postrealistisch“ stellen wir diese These auf den Prüfstand. Damit soll jedoch weder ein chronologisches "Danach" markiert noch ein neuer "turn" eingeleitet werden. Vielmehr geht es um den Versuch, die realistischen Denkmuster in der Pädagogik von ihrer Kehrseite her auszuleuchten.
Weil Erziehung und Bildung innerhalb der sich zunehmend diversifizierenden Disziplin jedoch unterschiedlich gefasst werden, erscheint es unerlässlich, hierzu eine interdisziplinäre Perspektive einzunehmen. Indem wir also verschiedene Denkansätze aus der Bildungs- und Erziehungsphilosophie, Professionsforschung sowie Inklusions- und Medienpädagogik zusammenführen, wollen wir postrealistische Perspektiven in der Erziehungswissenschaft gemeinsam erarbeiten, abstecken und zur Diskussion stellen.
Die Veranstaltung dient der Erarbeitung von grundlagentheoretischen sowie empirischen Arbeitsfeldern und richtet sich deshalb in erster Linie an Forschende und Lehrende in erziehungswissenschaftlichen Studiengängen, der Lehrer:innenbildung und angrenzenden Disziplinen.
Die Veranstaltung ist im Charakter einer Arbeitstagung organisiert, d.h. wir wollen miteinander ins Gespräch kommen und voneinander lernen. Dabei geht es vor allem darum, postrealistische Perspektiven in der Erziehungswissenschaft zu identifizieren, thematisch auszuleuchten sowie Grenzziehungen und -bestimmungen vorzunehmen.
Für diesen Zweck planen wir, anders als im klassischen Tagungsformat, großzügige Diskussionszeiten ein und begrenzen die Zahl der Teilnehmenden (exklusive Vortragenden) auf 30 Personen. Die Auswahl erfolgt nach dem Eingang der Anmeldung. Die Teilnahme ist kostenlos.