Arbeitsberichte aus dem Forschungsprojekt "Differentialdiagnostik"

Zur Diagnostik bei Sprachentwicklungsauffälligkeiten
Ergebnisse einer Fragebogenerhebung*

Hermann Schöler, Margot Häring und Karin Schakib-Ekbatan

Bericht Nr. 1

Februar 1996

Pädagogische Hochschule Heidelberg
Fakultät I
Keplerstr. 87, D - 69120 Heidelberg
Tel. (06221) 477-426 [-427] - Fax 477-425
Email: k40@
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* Für die finanzielle Unterstützung unserer Forschungsarbeiten danken wir der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG-Az.: SCHO 311/3-1) und der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Teile des vorliegenden Berichts wurden auf der Tagung des Arbeitskreises „Klinische Psychologen in Phoniatrischer Diagnostik und Therapie", 15./16.2.1996 in Göttingen referiert. Für kritische Anmerkungen und Anregungen zu einer vorherigen Fassung des Textes danken wir Waldemar Fromm.


Inhalt

Zusammenfassung
Abstract

Einleitung

1. Zum Stand der Diagnostik und Differentialdiagnostik von Sprachentwicklungsauffälligkeiten

1.1. Zum Klassifizierungsproblem
1.2. Zum Methodenproblem

2. Zur Zielsetzung des Forschungsprojekts „Differentialdiagnostik"

3. Der Fragebogen

4. Zur Fragebogenerhebung

5. Ergebnisse

5.1 Zu den Institutionen
5.2 Wer betreibt Diagnostik in den einzelnen Institutionen?
5.3 Zahl und Symptomatik der untersuchten Kinder
5.4 Art und Anteile der verschiedenen Sprachentwicklungsauffälligkeiten
5.5 Zur Diagnostik und den Untersuchungsmethoden

6. Einige Schlußfolgerungen

Literatur

Zusammenfasssung

Es wird über eine Fragebogenerhebung berichtet, die zu einem Überblick über die Erscheinungsformen der Sprachentwicklungsauffälligkeiten und ihre Häufigkeiten sowie das Vorgehen und die Methoden bei der diagnostischen Urteilsbildung in der Bundesrepublik Deutschland beitragen sollte. Dazu waren alle Einrichtungen angeschrieben worden, von denen angenommen worden war, daß sie Diagnostik im Bereich der Sprachentwicklungsauffälligkeiten betreiben.

Etwa 40% der Institutionen haben sich an der Fragebogenerhebung beteiligt. Ein Vergleich der aufgrund der rückgemeldeten epidemiologischen Zahlen hochgerechneten Schätzwerte mit den offiziellen Schülerstatistiken zeigt, daß die teilnehmenden Institutionen als repräsentativ zu werten sind.

Wesentliche Ergebnisse der Befragung sind: Die Situation der Diagnostik ist als unbefriedigend zu werten, und ein Bedürfnis nach einer Verbesserung der Diagnostik ist vorhanden. Die diagnostischen Klassifikationssysteme und die damit verbundenen Begrifflichkeiten variieren nicht nur von Institution zu Institution, sondern auch in Abhängigkeit von den verschiedenen, an der diagnostischen Urteilsbildung beteiligten Berufsgruppen. Auch die methodischen Vorgehensweisen bei der differentialdiagnostischen Urteilsbildung sind recht unterschiedlich, wobei in vielen Fällen eigenentwickelte informelle Verfahren eingesetzt werden.

Zwei Schlußfolgerungen aus der Erhebung sind:

  1. Die Interdisziplinarität des Gegenstandsbereiches erfordert eine einheitliche, phänomenbezogene Begrifflichkeit.

  2. Zur Vergleichbarkeit diagnostischer Urteile ist die (Weiter-)Entwicklung diagnostischer Verfahren und die Vereinheitlichung diagnostischer Vorgehensweisen dringend geboten.

Abstract

It is reported about a questionary study in which epidemiological aspects of developmental language impairments and assessment procedures are asked. 40% of the German institutions which come to diagnostic decisions participated in the study.

The general results are: the state of diagnosis in developmental language impairments is unsatisfactory, and there is a strong need for improving this situation. The classification systems, the diagnostic criteria, and the nomenclature vary not only between institutions but also depending on the different professions dealing with diagnosis. The assessment procedures are very different too. In many cases informal tests are applicated.

Two conclusions of the study are: firstly, the interdisciplinarity of the domain requires a unified nomenclature which is strongly related to the phenomena. Secondly, a standardization of the assessment procedures is necessary. Researchers are asked to cooperate with the diagnosticians for optimizing and unifying the assessment procedures.


Einleitung

Am Beginn des Projekts „Differentialdiagnostik", dessen Zielsetzung wir im Kapitel 2 kurz vorstellen, steht eine Bestandsaufnahme der Diagnostik und Differentialdiagnostik im Bereich der Sprachentwicklungsauffälligkeiten. Die einschlägigen Institutionen wurden dazu angeschrieben und um Bearbeitung eines Fragebogens gebeten. Durch diese Fragebogenerhebung erhofften wir uns einen genaueren Überblick über die Erscheinungsformen der Sprachentwicklungsauffälligkeiten und ihre Häufigkeiten, insbesondere der spezifischen Sprachentwicklungsstörung, und das Vorgehen und die Methoden bei der diagnostischen Urteilsbildung. Über die Ergebnisse dieser Fragebogenerhebung berichten wir im folgenden.

Diese Bestandsaufnahme sollte dazu dienen, den Stand der Diagnostik empirisch zu dokumentieren und zu problematisieren sowie epidemiologische Informationen zu gewinnen. Eine zweite, nicht minder wichtige Funktion bestand darin, durch die Fragebogenerhebung mit den Institutionen in Kontakt zu kommen und sie um Mitarbeit bei der Durchführung der im Projekt anfallenden Untersuchungen und Erprobungen zu bitten. Ohne eine enge Kooperation mit den Einrichtungen, die bei Sprachentwicklungsauffälligkeiten diagnostisch tätig sind, ist eine Realisierung der Projektziele nicht möglich.

Der Fragebogen wurde im Sommer und Herbst 1995 an die Institutionen verschickt, wobei der Rücklauf lange Zeit beanspruchte (auch bei Abfassung des vorliegenden Berichts treffen immer noch vereinzelt Rückmeldungen im Projekt ein). Die Reaktionen der Institutionen sind zumindest in zweierlei Hinsicht als überaus positiv zu bewerten: Zum einen ist die Rücklaufquote mit etwa 40% (etwa 250 Institutionen) als relativ gut - gemessen an vergleichbaren Erhebungen - zu bewerten, zum anderen haben sich die meisten Institutionen zu einer Kooperation bereit erklärt. Die Rückmeldungen, zum Teil auch die durch den Fragebogen ausgelösten Reaktionen, die von Ärger über einige der Fragen - vor allem über die verwendeten Begrifflichkeiten - bis hin zu intensiven intrainstitutionellen Diskussionen - vornehmlich zwischen den beteiligten Berufsgruppen - reichten, liefern indirekt weitere Evidenz für den Wunsch nach einer Verbesserung der Diagnostik und Differentialdiagnostik bei Sprachentwicklungsauffälligkeiten.

Wir möchten uns an dieser Stelle noch einmal recht herzlich bei allen Institutionen bedanken, die sich der Mühe des Fragebogen-Ausfüllens unterzogen haben. Ein besonderer Dank gilt all den Institutionen, die darüber hinaus auch ihre Bereitschaft erklärt haben, bei der Erprobung einer Differentialdiagnostik mit dem Projekt zu kooperieren. Aufgrund unserer begrenzten Ressourcen wird es leider nicht möglich sein, alle diese Kooperationsangebote auch wahrzunehmen.


1. Zum Stand der Diagnostik und Differentialdiagnostik von Sprachentwicklungsauffälligkeiten

„Die Kompliziertheit der Erscheinungen von Sprachstörungen besteht darin, daß äußerlich ähnliche Sprachstörungen unterschiedliche Strukturen und Entstehungsmechanismen haben können" (Shukowa, Mastjukowa & Filitschewa, 1978, S. 23). Da für Sprachentwicklungsstörungen in besonderem Maße gilt, daß gleichen Phänomenen sehr unterschiedliche ätiologische Bedingungsfaktoren zugrundeliegen können, müssen demzufolge therapeutische und sonderpädagogische Maßnahmen in Abhängigkeit von den unterschiedlichen Störungsformen und ihren Verursachungen variieren. Die Planung und Durchführung geeigneter Interventionen setzen daher eine angemessene und differenzierte sowie differenzierende Diagnostik voraus. Ohne eine detaillierte diagnostische und differentialdiagnostische Erfassung und Beurteilung sprachlicher Störungsformen sind, wie dies Grohnfeldt formulierte, „die vorrangigen Aufgabengebiete der Sprachbehindertenpädagogik, nämlich die Erkennung, Förderung und Prophylaxe im Vorschulbereich sowie eine behinderungsspezifische Unterrichtsgestaltung in der Sonderschule für Sprachbehinderte" (1979, S. 1) nicht möglich. Dies gilt in gleicher Weise für alle Interventions- und Therapie-Entscheidungen im Bereich der Sprachentwicklungsstörungen, die in der ambulanten und klinischen Praxis zu treffen sind.

Wie sieht es aber mit diesem ersten und notwendigen Schritt in der logischen Folge „Diagnose - Prognose - Therapie" (Grimm & Schöler, 1991, S. 3) aus?

Zur Annäherung an eine Antwort möchten wir zunächst einmal folgende zwei Problembereiche bei der Diagnose der Spezifischen Sprachentwicklungsstörung unterscheiden: zum einen das Klassifizierungsproblem und zum anderen das Methodenproblem.

1.1 Zum Klassifizierungsproblem

Bei der diagnostischen Klassifizierung bestand lange Zeit und besteht wohl in weiten Teilen der Praxis heute noch eine sehr große Variabilität und Unsicherheit in der Bezeichnung der verschiedenen und unterschiedenen Sprachentwicklungsstörungen. „Die große Zahl verschiedenartiger Bezeichnungen ist kein Ausdruck für die Differenziertheit der Klassifikation der Sprachentwicklungsauffälligkeiten, sondern ist vielmehr Ausdruck unzureichender bzw. fehlender Klassifikationssysteme und diagnostischer bzw. differentialdiagnostischer Kriterien" (Schöler, Dalbert & Schäle, 1991, S. 58). Die von uns untersuchte Sprachentwicklungsauffälligkeit, die sogenannte Spezifische Sprachentwicklungsstörung1 kann noch nicht positiv definiert werden (zu den Definitionskriterien siehe u.a. Schöler et al., 1991). Es liegen lediglich einige Ausschlußkriterien vor: So soll die Spezifische Sprachentwicklungsstörung nicht (a) mit einer intellektuellen Minderleistung in nichtsprachlichen Fähigkeiten einhergehen, es sollen (b) keine auffälligen emotionalen oder Verhaltensstörungen, (c) keine diagnostizierten Hörschäden oder -störungen, (d) keine cerebralen Dysfunktionen oder Hirnschädigungen vorliegen. Die ersten sprachlichen Äußerungen dieser Kinder treten meist verspätet auf, und die Sprachauffälligkeiten werden besonders in den strukturellen Bereichen (Syntax und Morphologie) ohrenfällig. In jüngster Zeit werden einige Definitionskriterien zunehmend in Frage gestellt, vor allem das Merkmal „durchschnittliche (nonverbale) Intelligenz". So meint Judith Johnston (1993) unseres Erachtens zurecht, daß die Forschung die intellektuellen Leistungen von SLI-Kindern überschätzt hat. „In spite of their normal-range nonverbal IQ, children with SLI have performed less well than their age peers on a wide range of nonverbal cognitive tasks" (Johnston, 1993, p. 582; siehe dazu auch Schöler, 1992; Schöler & Fromm, 1995).2

In der diagnostischen Praxis findet sich häufig noch die Kategorisierung der Spezifischen Sprachentwicklungsstörung in drei Schweregrade (leicht, mittel, schwer)3, wie sie Liebmann bereits 1901 vorschlug. Diese - meist als quantitative Abstufung gemeinte - Einteilung ist allerdings völlig unzureichend und hält auch einer empirischen Prüfung nicht stand: Wie wir zeigen konnten, sind diese Attribute in keiner Weise trennscharf und können die Leistungen und Störungsbilder der Kinder nicht diskriminierend beschreiben (Schöler, Anzer & Illichmann, 1987; Schöler & Fromm, 1995).

Die Forschungen in den letzten beiden Jahrzehnten haben aber in diesem ersten Problembereich „Klassifikation" zu einer deutlichen Verbesserung geführt. Wenn auch noch keine eindeutigen Erklärungen für die unterschiedenen Störungsbilder vorliegen, so ist nicht zuletzt aufgrund unserer eigenen Untersuchungen (zsf. Schöler, 1993, Schöler & Fromm, 1995) davon auszugehen, daß die bisherige Klassifizierung „Spezifische Sprachentwicklungsstörung" zu allgemein und unscharf ist. Es gibt nicht die Spezifische Sprachentwicklungsstörung, sondern hinter diesem Etikett und den beobachtbaren Phänomenen verbergen sich unterscheidbare Subgruppen, die auf unterschiedliche Ätiologien hinweisen. Diese Subgruppen benötigen jeweils zu einer Kompensation oder einer Minderung der Störung bzw. der Auffälligkeit andere therapeutische Maßnahmen. Über die Gewinnung reliabler und valider differentialdiagnostischer Kriterien hinaus muß es daher Ziel weiterer Forschungen sein, nicht nur die Kompensationsmöglichkeiten der spezifisch sprachentwicklungsgestörten Kinder aufzufinden, sondern auch Kompensationstechniken zu entwickeln, damit sie therapeutisch intensiviert angewendet werden können, um die sprachlichen Defizite zu mindern oder zu beseitigen. Auf dem Hintergrund unserer Annahmen kann es bei der Planung von Interventionsmaßnahmen nicht genügen, die „normalen" Entwicklungsprozesse anzuregen, sondern es müssen auch weiterhin gezielt Wege gesucht werden, die gestörten Entwicklungs-, Lern- oder Verarbeitungsprozesse durch andere Lernprozesse zu kompensieren. Nach unserer Auffassung ist es daher auch unumgänglich, andere Lern- bzw. Verarbeitungsprozesse im Hinblick auf ihre Eignung für den Erwerb und Aufbau sprachlichen Wissens zu prüfen. Für eine Gruppe der spezifisch sprachentwicklungsgestörten Kinder, bei denen wir eine auditive Verarbeitungsstörung als bedingend für die Sprachprobleme annehmen, erscheint uns u.a. die gezielte Förderung des sogenannten metasprachlichen Wissens sinnvoll zu sein, um Defizite im sprachlich-strukturellen Wissen reflektiert ausgleichen zu können, wie dies durch das Lernen von Fertigkeiten und deren Automatisierung (vgl. dazu das ACT-Modell von Anderson, 1982) und wie dies in vielen Bereichen des Zweit- und Fremdsprachenerwerbs geschieht.

1.2 Zum Methodenproblem

Im Bereich der Sprachentwicklungsdiagnostik können im wesentlichen zwei methodische Zugänge unterschieden werden: (1) standardisierte Entwicklungs- und Leistungstests und (2) Spontansprachanalysen.4 Diese beiden methodischen Zugangsweisen sind nach unserer Auffassung als komplementär zu bewerten, da jeweils unterschiedliche Aspekte der sprachlichen Leistungen im Vordergrund stehen, die allesamt für eine umfassende Diagnose erhoben werden sollten. Die zur Zeit auf dem Markt befindlichen Tests und Analyseverfahren scheinen aber noch nicht den Ansprüchen zu genügen, die für eine differenzierte und differenzierende Sprachentwicklungsdiagnostik erforderlich sind. Denn in allen uns bekannten Publikationen wird der mangelhafte Stand der Diagnostik und Differentialdiagnostik im Bereich der Sprachentwicklungsstörungen immer wieder beklagt (vgl. u.a. Dannenbauer, 1983; Grohnfeldt, 1979; Knura, 1977). Die angeführten Arbeiten wurden zwar bereits vor einigen Jahre publiziert, der aktuelle Stand des Problems hat sich aber nicht wesentlich geändert, da zwischenzeitlich keine neue Methode oder neue Verfahren5 entwickelt wurden. Die Forschungen des letzten Jahrzehnts zu umschriebenen Entwicklungsstörungen der Sprache und des Sprechens zentrierten - sinnvollerweise - zunächst

einmal auf ätiologische Fragestellungen und die Unterscheidung von Subgruppen sprachentwicklungsgestörter Kinder - als Voraussetzung zur Ableitung und Entwicklung differenzierender Kriterien.

(1) Zu den standardisierten Tests. In einer Befragung, die Grohnfeldt 1978 an Sonderschulleitern durchführte, wurde zum Ausdruck gebracht, daß die Testpraxis als unbefriedigend empfunden wird und vor allem „der Wunsch nach besseren Testverfahren zur Bestimmung des Sprachstandes" (Grohnfeldt, 1979, S. 1) geäußert wurde. Erste von uns durchgeführte aktuelle Befragungen ergaben ebenfalls für die medizinisch-logopädische Diagnostik, daß diese nur als mangelhaft bewertet werden kann, wobei die in diesen Bereichen Beschäftigten den Zustand selbst als äußerst unbefriedigend erleben und schildern.6 Die zum Teil berechtigten Kritikpunkte, zum Teil aus Unverständnis resultierende (z.B. Heidtmann, 1990; vgl. hierzu die Kritik von Schöler, 1992a) generelle Kritik an standardisierten Tests und speziell an den im deutschsprachigen Raum vorhandenen Sprachentwicklungstests geht von „zu oberflächlich, zu ungenau" bis hin zu völliger Ablehnung solcher Tests. Diese standardisierten Tests 7 erheben in der Regel nicht den Anspruch, eine umfassende differenzierende Diagnose liefern zu können. Sie sind nicht speziell für die Differentialdiagnostik im Bereich sprachlicher Entwicklungsstörungen konzipiert, sondern sie sollen den allgemeinen Sprachentwicklungsstand und Abweichungen von einer altersgemäßen Sprachentwicklung in ausgewählten Leistungsbereichen diagnostizieren. 8

In einer neueren Arbeit von Friedrich (1993) wird ein kognitionspsychologischer Ansatz in der Sprachentwicklungsdiagnostik und -förderung bei entwicklungsrückständigen Kindern diskutiert. Das vorgestellte Inventar hat jedoch für eine Differentialdiagnostik von Sprachentwicklungsauffälligkeiten nur eingeschränkten Wert: (1) Es bezieht sich lediglich auf den Bereich der verbalen Verfügbarkeit semantischer Relationen. (2) Das Verfahren ist für die Diagnose der Altersangemessenheit sprachlicher Fähigkeiten konzipiert, wobei sowohl Retardierungen als auch Akzelerationen festgestellt werden sollen.

(2) Zu den Spontansprachanalysen. Die Spontansprachanalysen (vgl. dazu u.a. Clahsen, 1986) wurden als Alternative zu den standardisierten Tests bewertet, mit der man die Unzulänglichkeiten der Tests und der Testsituation zu überwinden glaubte. „Eine umfassende linguistische Analyse ist nur anhand freier Sprachproben möglich" (Füssenich & Heidtmann, 1987, S. 24). Diese Verfahren, die geradezu als ein diagnostisches „Allheilmittel" gepriesen wurden, weisen aber ebenfalls verschiedene, zum Teil gravierende Nachteile auf. Nach einer ersten anfänglichen Euphorie, mit der diese linguistischen Beschreibungssysteme sprachlicher Äußerungen begrüßt und eingesetzt wurden, trat insofern wieder Ernüchterung in der Praxis ein, als sich die Beschränkungen dieser Beschreibungsverfahren zeigten.9 Ohne auf diese Kritik näher eingehen zu wollen, sei nur zum einen auf die sehr zeitkonsumptive Prozedur einer repräsentativen Erhebung der Daten und deren Analyse (auch wenn der letzte Auswertungsschritt computerunterstützt ablaufen kann; Clahsen & Hansen, 1991) und zum anderen darauf hingewiesen, daß nur die Äußerungsproduktion analysiert wird. Eine vergleichende Analyse der Spontansprachdaten und der durch bestimmte Aufgaben elizitierten sprachlichen Leistungen zeigt, daß gerade in der Diagnose der Sprachentwicklungsstörungen die Spontansprachdaten nur geringen Informationswert haben können, da der sprachliche Ausdruck dieser Kinder sich als wenig variationsreich erweist (Kany, Fromm, Schöler & Stahl, 1990). Sie beschränken sich auf relativ wenige beherrschte Ausdrucksformen (Routinen), bei denen dann auch die Fehlerrate niedrig liegt. Ein völlig anderes Bild ergibt sich dagegen bei der Elizitationsaufgabe „Nachsprechen von Sätzen" (siehe Schöler, Fromm & Kürsten, 1993; Schöler, Kratzer, Kürsten & Schäle, 1991): Selbst die 16-17jährigen, die wir über 10 Jahre in ihrer Entwicklung beobachten konnten, versagen bei dieser Aufgabe, während sie in der alltäglichen sprachlichen Interaktion unauffällig wirken (Schakib-Ekbatan & Schöler, 1995a, 1995b).

Bei der Konzipierung einer Differentialdiagnostik sollten freie Sprachstichproben und Elizitationstechniken gemeinsam eingesetzt werden. Freie Sprachproben, die (noch) zumeist favorisiert werden, sind durch Elizitationstechniken zu ergänzen. Solche Aufgaben wie Nachsprechen von Sätzen, Einfügen von Flexionen in Texte oder Erkennen und Korrigieren falscher Flexionen in Sätzen (siehe Schöler, 1993) eignen sich nach unserer Auffassung gut zur Beobachtung spezifischer sprachlicher Formen und zur Inferenz zugrundeliegender Verarbeitungssysteme. Nicht nur der enorme Zeitaufwand, der mit der Erhebung und Analyse einer freien Sprachstichprobe verbunden ist, spricht für gezielte und rationell handhabbare Elizitationstechniken. Die Erhebungen freier Sprachstichproben in „natürlichen" Kommunikationssituationen innerhalb des „Heidelberger Dysgrammatismus Projekts" haben weiterhin gezeigt, daß sprachauffällige Kinder mit dem ihnen zur Verfügung stehenden Wissen rationell umgehen; Problembereiche werden von ihnen eher verdeckt, denn offensichtlich gemacht. Die festgestellte reduzierte Komplexität der Satzmuster beim Erzählen von Geschichten (Kany et al., 1990) deutet darauf hin, daß sprachauffällige Kinder einfache Satzbaupläne bevorzugen, die sie fehlerfrei produzieren können. Die Vermeidung von adjektivischen und/oder adverbialen Erweiterungen der Nominal- bzw. Verbalphrasen bei sprachauffälligen Kindern ist von standardisierten Tests zur Erfassung des Sprachentwicklungsstandes bisher nicht berücksichtigt worden. Aufgrund der Ergebnisse erscheint es sinnvoll, bei der Konzeption einer Diagnostik diesen Aspekt zur Bestimmung einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung heranzuziehen.

Resümee. Zusammenfassend bleibt festzustellen, daß der Stand der Differentialdiagnostik bei Sprachentwicklungsstörungen aufgrund der vorhandenen Diagnosemethoden als unzureichend bewertet werden kann. Zwar gibt es zwei methodische Zugangsweisen: Tests und Spontansprachanalysen, mit denen jeweils Aspekte des Sprachentwicklungsstandes erfaßt werden können. Diese beiden komplementären diagnostischen Methoden weisen jedoch noch erhebliche Mängel auf, die sie einerseits als zu unspezifisch, andererseits als zu eingeschränkt zur Differenzierung verschiedener Formen von Sprachauffälligkeiten bewerten lassen. In einer umfassenden Differentialdiagnostik der Sprachentwicklungsstörungen werden beide Methoden jedoch einen angemessenen Stellenwert besitzen.


2. Zur Zielsetzung des Forschungsprojekts „Differentialdiagnostik"

Die Ergebnisse unserer Untersuchungen zeigen, daß die Definitions- und Abgrenzungsprobleme der Spezifischen Sprachentwicklungsstörung (wir haben diese Störung früher als "kindlichen Dysgrammatismus" benannt) und die mangelnde Vergleichbarkeit verschiedener Forschungen zu einem großen Teil auf die Heterogenität der untersuchten Populationen zurückzuführen sind. Wie bereits oben angesprochen, verbergen sich nach unserer Auffassung zumindest drei unterscheidbare Subgruppen hinter dem Etikett „Spezifische Sprachentwicklungsstörung", die auf unterschiedliche Ätiologien hinweisen (Schöler & Fromm, 1995). Diese Subgruppen benötigen jeweils zu einer Kompensation oder einer Minderung der Störung bzw. der Auffälligkeit andere therapeutische Maßnahmen. So wird nach unserer Auffassung eine Gruppe bei dem Übergang in die Schule von den dort einsetzenden Schriftspracherwerbsprozessen profitieren, während man bei einer anderen Gruppe sozusagen eine Symptomverschiebung in Richtung auf Lese-Rechtschreibprobleme prognostizieren kann. Die Entwicklung einer Differentialdiagnostik wird sich danach auszurichten haben.

Ziel des Projektes ist die Konzeption und erste Erprobung einer Differentialdiagnostik bei Sprachentwicklungsauffälligkeiten. Im Rahmen des Projektes kann - aus naheliegenden Ressourcen-Gründen - und soll kein weiterer Einzeltest entwickelt werden. Ein solcher einzelner Leistungstest würde nur die Liste der vorhandenen Verfahren ergänzen, nach unseren Vorstellungen aber nicht den Ansprüchen der erforderlichen und geforderten individualdiagnostischen Vorgehensweise alleine genügen können. Standardisierungen und Normierungen der einzelnen Leistungsbereiche sind zwar unabdingbar, wir möchten aber neben Leistungsindikatoren auch andere Informationen in die Diagnose einbeziehen, die sich naturgemäß einer solchen einzelnen Standardisierung und Normierung entziehen würden. Standardisiert und normiert werden soll das Konglomerat aus verschiedenen Indikatoren quantitativer und qualitativer Art, nämlich die Konfiguration der unterschiedlichen, die Sprachentwicklungsstörungen diskriminierenden Informationen, die aus verschiedenen Quellen gewonnen werden können. Als Informationsquellen dienen neben den von uns entwickelten und sich als diskriminativ valide erweisenden Aufgaben auch andere diagnostische Instrumente, die sich in der diagnostischen Praxis als valide zeigen, sowie biographische und anamnestische Daten.

Mit Bedacht haben wir daher den Namen „Differentialdiagnostik" gewählt und sprechen nicht von einem Diagnostikum. Bestandteile dieser Differentialdiagnostik werden also nicht alleine Aufgaben als Indikatoren für spezifische zugrundeliegende quantifizierbare Leistungen sein, wie dies in Tests ausschließlich der Fall ist, sondern es sollen ebenfalls Informationen aus der Biographie und der Anamnese einbezogen werden, die sich als diskriminativ valide im Rahmen unserer Längsschnittstudie und in der diagnostischen Praxis erwiesen haben.

Eine Differentialdiagnostik bei Sprachentwicklungsauffälligkeiten muß im Vorschulbereich einsetzen, um frühzeitig angemessene Förder- oder therapeutische Maßnahmen ergreifen zu können. Da unsere bisherigen Untersuchungen erst im Schulalter (1. - 9. Klasse) einsetzten, müssen entsprechende Ergänzungen und Modifikationen der Aufgaben erfolgen und die Kritik an einzelnen Aufgaben berücksichtigt werden.

Unsere bisher durchgeführten „Pilotbefragungen" zeigen übereinstimmend, daß in vielen Institutionen diagnostische Urteile aufgrund selbstentwickelter informeller Verfahren gebildet werden. Positiv gewendet ist dementsprechend davon auszugehen, daß viele Diagnostikerinnen und Diagnostiker in den einzelnen Einrichtungen über große Erfahrungen und Kompetenzen verfügen, gerade im Hinblick auf die Relevanz einzelner Leistungswerte sowie biographischer und anamnestischer Informationen in ihrer Indikatorfunktion für bestimmte Sprachentwicklungsauffälligkeiten. Es gilt, diese in der Praxis vorhandenen Erfahrungen und Kompetenzen abzugleichen und in die Erstellung einer Differentialdiagnostik einzubinden.

Die im „Heidelberger Dysgrammatismus-Projekt" erhobenen Daten und die vielen Kompetenzen und Erfahrungen der Diagnostikerinnen und Diagnostiker sollten nach unserer Überzeugung die Erstellung solcher „differentiellen Indikator-Konfigurationen"10 erlauben.


3. Der Fragebogen

Der Fragebogen soll eine Bestandserhebung bzgl. der Epidemiologie der Sprachentwicklungsauffälligkeiten und des Einsatzes von diagnostischen Verfahren ermöglichen. Die Definition der Sprachauffälligkeiten, die diagnostizierbaren Symptome und die Auftretenshäufigkeiten sowie die eingesetzten diagnostischen Methoden bilden daher die wesentlichen Bestandteile.

Der Fragebogen wurde im Rahmen einer Arbeitsgruppe entwickelt, an der u.a. zwei Lehrlogopädinnen und eine Diplompädagogin/Sonderpädagogin teilnahmen.11

Der Fragebogen enthält insgesamt 21 Fragen. Um die Beantwortung zu vereinfachen und die Bearbeitungszeit zu reduzieren, haben wir versucht, möglichst viele Antwortmöglichkeiten vorzugeben. Vorgesehen ist aber meist auch, entsprechende Ergänzungen anzufügen.

Mit den ersten drei Fragen werden Angaben zur Institution (Fragen 1 und 2) und zur Beteiligung und Zahl der verschiedenen Berufsgruppen an der Diagnostik (Frage 3) erfaßt. Damit soll bei der anonymen Befragung auch eine Zuordnung zu den entsprechenden Berufsgruppen und den befragten Institutionen gewährleistet werden.

Mit den Fragen 4 bis 9 sollen Angaben zur Epidemiologie und zur Symptomatik der Sprachentwicklungsauffälligkeiten erfolgen. Da wir bei Pilotbefragungen feststellten, daß in den Einrichtungen in aller Regel keine Statistik der verschiedenen Sprachentwicklungsauffälligkeiten vorliegt, waren wir gezwungen, Schätzwerte zu erfragen.

Die Fragen 4 und 5 sollen die Auftretenshäufigkeit von Sprachentwicklungsauffälligkeiten in den jeweiligen Institutionen schätzen. Dabei haben wir den Altersbereich bis acht Jahre gewählt, um auch die Kinder zu erfassen, die erst bei oder nach der Einschulung durch Störungen des Sprechens oder der Sprache auffällig werden. Die Fragen 6 und 9 listen eine Reihe von sprachlichen Symptomen bzw. Auffälligkeiten der Sprache und des Sprechens auf, die bei diesen Kindern beobachtet werden. Bei dieser Aufstellung haben wir bewußt auf eine Subkategorisierung verzichtet, sondern eher ungeordnet diejenigen Begrifflichkeiten vorgegeben, die man in Gutachten lesen kann. Die Aufstellung enthält dabei Bezeichnungen für Syndrome und für Symptome und nennt Synonyme. Letztere haben wir in die Liste aufgenommen, weil wir feststellen konnten, daß die an der Diagnostik beteiligten Berufsgruppen zum Teil sehr eigene Begriffs- und Kategoriensysteme entwickelt haben und verwenden. In pädagogischen Gutachten ließ sich auch der Begriff "Bilingualismus" als Kennzeichnung für sprachliche Auffälligkeiten finden, der im Rahmen der Frage 6 aber eher Distraktorenfunktion hat.

Vor den Fragen 10 und 11 führen wir in das Klassifikationssystem der WHO bezüglich der "umschriebenen Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache" ein. Damit sollte der Versuch unternommen werden, die Terminologie zu vereinheitlichen. Auf dieser gemeinsamen terminologischen Basis sollten dann erneute Schätzungen der drei unterschiedenen Sprachentwicklungsstörungen (Artikulationsstörungen, expressive und rezeptive Sprachstörungen) erfolgen. Im Gegensatz zur Ungeordnetheit der Symptome in den Fragen 6 und 9 wird in Frage 11 versucht, zum einen verschiedene sprachliche Symptome, geordnet nach den üblicherweise unterschiedenen Sprachebenen (Morphologie und Syntax, Semantik, Phonetik und Phonologie, Pragmatik) und Auffälligkeiten des Sprechens, zum anderen Auffälligkeiten in Bezug auf nichtsprachliche Leistungsbereiche sowie psychosoziale Faktoren, Verhaltensauffälligkeiten der Bezugspersonen und genetische Aspekte in ihren Auftretenshäufigkeiten zu erfassen.

Die Fragen 12 bis 21 beziehen sich auf die diagnostische Situation und Vorgehensweisen. Frage 12 erfaßt eine grobe Schätzung der Zeitdauer für die Diagnostik. In den Fragen 13 und 14 werden die Ausschlußkriterien für die Diagnose "Spezifische Sprachentwicklungsstörung" bzw. "Entwicklungsdysphasie" und die Art ihrer ihrer diagnostischen Abklärung abgefragt. Die Fragen 15 bis 21 dienen der Erfassung der verschiedenen Diagnosemethoden, die von den Institutionen eingesetzt werden.


4. Zur Fragebogenerhebung

Mit dem Fragebogen sollten alle Einrichtungen angeschrieben werden, die mit der Diagnostik im Bereich der Entwicklungsauffälligkeiten der Sprache und des Sprechens befaßt sind. Nicht einbezogen werden sollten - nicht nur aus naheliegenden Ressourcengründen - die vielen Einzelpraxen, vor allem der Logopäden und Sprachheilpädagogen.

Der erste, sich als außerordentlich schwierig und zeitaufwendig herausstellende Schritt bestand in der Feststellung der Grundgesamtheit dieser Institutionen und der Erstellung eines Adressenverteilers.12 Dazu wurden von uns alle einschlägigen Ministerien der einzelnen Bundesländer angeschrieben. Wir haben im Anhang (nicht in der Online-Version.) den von uns ursprünglich erstellten Adressenverteiler (1.007 Einrichtungen geordnet nach Postleitzahlen) angeführt, um (a) anderen einige Mühen zu ersparen und (b) darum zu bitten, in der Liste vergessene Einrichtungen zur Ergänzung an uns rückzumelden.

In einem ersten Anschreiben an diese 1.007 Institutionen haben wir nachgefragt, ob Interesse (1) an einer Beteiligung bei der Fragebogenerhebung und (2) an einer Kooperation in der Erprobungsphase der Differentialdiagnostik besteht. Aufgrund dieser ersten Anfrage erhielten wir in drei Bundesländern die Auflage, um Genehmigungen für diese Fragebogenerhebung in den zuständigen Ministerien nachzusuchen, was die Erhebung wiederum zeitlich verzögerte.

Den Fragebogen haben wir daraufhin an die rückmeldenden Institutionen mit einem Begleitschreiben versandt. Da wir anhand einiger Rückmeldungen und Anfragen von einer Reihe von Mißverständnissen bzgl. der Fragebogenerhebung ausgehen mußten (so wurden beispielsweise bis zu 150 Fragebögen pro Institution angefordert; man war wohl fälschlicherweise davon ausgegangen, daß pro Kind ein Fragebogen ausgefüllt werden sollte), haben wir den Fragebogen auch an alle diejenigen Institutionen versandt, die auf das erste Anschreiben nicht geantwortet hatten.

Aufgrund einer Reihe von Rückmeldungen konnten wir auch feststellen, daß wir Institutionen angeschrieben hatten, bei denen die Diagnose von Sprachentwicklungsauffälligkeiten nicht zu ihrem Aufgabenbereich gehört. Wir haben darauf hin solche Einrichtungen, die nicht oder nur sehr randständig mit der diagnostischen Urteilsbildung bei Sprachentwicklungsauffälligkeiten befaßt sind, aus dem Verteiler gestrichen. Dadurch reduziert sich die Zahl der Institutionen auf etwa 750.

Eine sinnvolle Untergliederung der verschiedenen Institutionen ist schwierig. Einen Anhaltspunkt für die inhaltliche Schwerpunktsetzung der jeweiligen Institution bietet unseres Erachtens der Beruf des jeweiligen Leiters der Einrichtung. Da die Einrichtungen in der Regel entweder von einem Mediziner oder einem Pädagogen geleitet werden, haben wir aufgrund der jeweiligen Leiter eine Dichotomisierung der Einrichtungen vornehmen. Die folgende Tabelle 1 gibt einen Überblick über die 750 Einrichtungen, wobei diese ungefähren (aufgerundeten) Zahlenangaben mit aller gebotenen Vorsicht zu werten sind.

Tabelle 1 Zahl der Einrichtungen, die (vordringlich) Aufgaben in der Diagnose von Sprachentwicklungsauffälligkeiten wahrnehmen (ungefähre Zahlenangaben)

Medizinische Einrichtungen                      
Spezielle Abteilung in Kinderklinik, Kinder- und Jugendpsychiatrie          

90      

Neuropädiatrisches, sozialpädiatrisches Zentrum

60      

Pädaudiologische Abteilung, Stimm- und Sprachabteilung

30      

Logopädische Abteilung/Einrichtung

40      
     

Summe

220      

Sonderpädagogische Einrichtungen
Sprachheilschule, Sprachheilzentrum

280      

Beratungsstelle, Frühförderstelle

250      

Summe

530      


Gesamtzahl


750      

Ausgehend von dieser Grundgesamtheit von etwa 750 Einrichtungen ergibt sich bei 298 Rückmeldungen eine Beteiligung von 40%. Von den rückmeldenden Institutionen haben wiederum 261 (etwa 35%) zugesagt, nicht nur den Fragebogen auszufüllen, sondern auch mit dem Projekt bei der Erprobung zu kooperieren. Nur 37 Institutionen haben uns eine Absage erteilt. Diese insgesamt zufriedenstellende Rücklaufquote drückt unseres Erachtens deutlich - wenn auch indirekt - den Wunsch nach einer Optimierung der bestehenden diagnostischen Praxis aus.


5. Ergebnisse

Die folgenden Ergebnisdarstellungen beziehen sich auf 219 Fragebögen, die uns zum Stichtag 15. Februar 1996 vorlagen. 42 der 261 Einrichtungen, die eine Teilnahme und Kooperation zugesagt hatten, haben bislang den Fragebogen noch nicht zurückgesandt.

5.1 Zu den Institutionen

Das Antwortverhalten bei Frage 1 zeigt, daß viele der rückmeldenden Institutionen Probleme hatten, sich einer der acht vorgegebenen Kategorien zuordnen zu können. 44 weitere Bezeichnungen wurden angeführt, wobei uns durchaus möglich erscheint, daß sich eine Reihe der Einrichtungen den vorgegebenen Kategorien hätten zuordnen können. Viele der Bezeichnungen sind als synonym zu werten, insbesondere im sonderpädagogischen Bereich, sie variieren in Abhängigkeit von den Bundesländern. Wir haben alle Einrichtungen sechs Kategorien (analog Tabelle 1) zugeordnet (siehe Tabelle 2).

Tabelle 2 Zahl und Art der Einrichtungen, die an der Fragebogenerhebung teilgenommen haben und eine Kooperation befürworten

Medizinische Einrichtungen                  
Spezielle Abteilung in Kinderklinik, Kinder- und Jugendpsychiatrie

11    

Neuropädiatrisches, sozialpädiatrisches Zentrum

27    

Pädaudiologische Abteilung, Stimm- und Sprachabteilung

9    

Logopädische Abteilung/Einrichtung

5    

Summe

52    

Sonderpädagogische Einrichtungen

Sprachheilschule, Sprachheilzentrum

80    

Beratungsstelle, Frühförderstelle

87    

Summe

167    

Gesamtzahl

219    

Vergleicht man die Rückmeldungen mit der von uns angenommenen Grundgesamtheit, so liegt die Zusagequote bei den medizinischen Einrichtungen bei 24%, bei den sonderpädagogischen Einrichtungen bei 32%.

Medizinische oder (sonder)pädagogische Leitung? (Frage 2): 44 Einrichtungen haben medizinische Leitungen, 160 pädagogische Eirichtungen, bei zwei Fragebögen wird angegeben, daß sowohl eine medizinische als auch eine pädagogische Leitung vorhanden ist, bei sieben Fragebögen sind keine Antworten bei dieser Frage gegeben, so daß die Häufigkeiten mit denen in Tabelle 2 nicht völlig übereinstimmen. Lediglich bei drei Einrichtungen werden davon abweichende Institutsleitungen genannt: Zwei Einrichtungen (Beratungs- und Therapiezentren für einen sozialen Brennpunkt) werden von einem Sozialwirt, eine Frühförderstelle wird von einem Psychologen geleitet.

5.2. Wer betreibt Diagnostik in den einzelnen Institutionen?

Die Zahl der einzelnen Berufsgruppen, die nach dem Antwortverhalten der Befragten an der Diagnostik beteiligt sind, ist recht hoch: Insgesamt werden 19 Berufe genannt (wir hatten in Frage 3 bereits 10 angeführt). Diese 19 Berufe haben wir in sechs Berufsgruppen zusammengefaßt. In Tabelle 3 sind die Häufigkeiten dieser Berufsgruppen in Abhängigkeit von der Art der Institution (medizinisch vs. sonderpädagogisch) angeführt. Danach sind 1.073 Mitarbeiter in den rückmeldenden Einrichtungen mit der diagnostischen Urteilsbildung beschäftigt. Die größte Berufsgruppe bilden dabei erwartungsgemäß die (Sonder-)Pädagogen.

Tabelle 3 Zahl der an der Diagnostik beteiligten Berufsgruppen und durchschnittliche Zahl pro Institution in Abhängigkeit von der Art der Einrichtung (medizinisch vs. sonderpädagogisch)

     medizinisch     sonderpädagogisch
Berufsgruppe

f

M*

f

M*

Ärztin

75       

1.6    

24      

1.3      

Psychologin

50       

1.4    

42      

1.1      

Pädagogin

40       

1.4    

427      

3.0      

Linguistin

7       

1.4    

6      

1.0      

Logopädin

74       

2.1    

63      

1.6      

Med. Assistenzberufe

111       

3.3    

154      

2.7      

* In die Berechnung des Mittelwertes wurden nur diejenigen Einrichtungen einbezogen,
in denen die betreffende Berufsgruppe auch vertreten ist.

Wir hatten auch nach der Berufsgruppe des antwortenden Mitarbeiters13 gefragt: Von den 219 Personen, die einen Fragebogen ausgefüllt haben, waren über die Hälfte (Sonder-)Pädagogen (122 entsprechend 56%), darüber hinaus haben 18 Ärzte, 12 Psychologen, 45 Logopäden, jeweils 9 Heilpädagogen und Sprachtherapeuten, ein Linguist und ein Motopäde einen Fragebogen ausgefüllt; bei zwei Fragebögen ist keine Angabe erfolgt.

5.3 Zahl und Symptomatik der untersuchten Kinder

Die Gesamtzahl der Kinder bis zum Alter von acht Jahren, die zur Erstdiagnose vorgestellt werden (Frage 4), beträgt bei den rückmeldenden Institutionen etwa 40.000 pro Jahr. In den einzelnen Institutionen schwankt die Zahlangabe zwischen 3 und 1.550 Kindern (siehe Tabelle 4). Bei den medizinischen Einrichtungen liegt das Mittel bei etwa 370, bei den sonderpädagogischen Einrichtungen bei etwa 160 Kindern. Da die Streuung beträchtlich ist, bieten die Quartilwerte bessere Anhaltspunkte: In 25% der Einrichtungen werden weniger als 40 Kinder, in 50% weniger als 80 Kinder, in 75% weniger als 200 Kinder pro Jahr zur Erstdiagnose vorgestellt und untersucht.

Tabelle 4 Zahl der Kinder bis zum Alter von acht Jahren, die im Durchschnitt pro Jahr zur Erstdiagnose vorgestellt werden (f = Summe der Häufigkeitsschätzungen; M = durchschnittliche Zahl; Range = minimale und maximale Häufigkeit)

 f

     M   

      Range      

Medizinische Einrichtungen

Spezielle Abteilung in Kliniken

800

115

5 - 350

Neuro-, sozialpädiatrisches Zentrum

10.600

550

15 - 1.550

Pädaudiologische Abteilung  

6.550

725

80 - 1.500

Logopädische Abteilung/Einrichtung

250

60

10 - 160

Summe

18.200

Sonderpädagogische Einrichtungen

Sprachheilschule, -zentrum

7.200

115

10 - 1.300

Beratungs-, Frühförderstelle

13.700

185

10 - 1.350

Summe

20.900

Gesamtzahl

39.100

Erwartungsgemäß ist der Anteil der Kinder, bei denen die sprachliche Symptomatik im Vordergrund steht (Frage 5), in den sonderpädagogischen Einrichtungen höher (siehe Tabelle 5). Es ist anzunehmen, daß in den behinderungsspezifischen sonderpädagogischen Einrichtungen (vor allem in den schulischen Einrichtungen) bereits eine Vorselektion stattgefunden hat und insofern anteilig mehr Kinder mit Sprachauffälligkeiten vorgestellt werden. Da nur prozentuale Anteile erfragt wurden, haben wir die Zahlen hochgerechnet nach der Formel: Zahl der Kinder der Institution (Angabe bei Frage 4) multipliziert mit dem mittleren angekreuzten Prozentsatz (12,5/37,5/62,5/87,5). Danach beträgt die geschätzte Zahl der Kinder pro Jahr, bei denen die sprachliche Symptomatik im Vordergrund steht, in den medizinischen Einrichtungen etwa 8.600, in den sonderpädagogischen Einrichtungen etwa 14.600. Gemessen an der Zahl der Kinder, die zur Erstdiagnose vorgestellt werden, liegt der Prozentsatz der sprachauffälligen Kinder insgesamt bei rund 60%. In den medizinischen Einrichtungen werden etwa die Hälfte aller vorgestellten Kinder als sprachauffällig diagnostiziert, in den sonderpädagogischen Einrichtungen sind es mehr als Zweidrittel aller erstdiagnostizierten Kinder (vgl. Tabelle 5).

Frage 5
Bei wievielen dieser Kinder stand die sprachliche Symptomatik dabei im Vordergrund?
(absolute Antworthäufigkeiten)

Medizinische Einrichtungen

0-25%

25-50%

50-75%

75-100%

Spezielle Abteilung in Kliniken

2    

1    

2    

2    

Neuro-, sozialpädiatrisches Zentrum

13    

4    

3    

8    

Pädaudiologische Abteilung

1    

1    

7    

0    

Logopädische Abteilung/Einrichtung

0    

0    

2    

2    

Sonderpädagogische Einrichtungen

Sprachheilschule, -zentrum

3    

6    

15    

57    

Beratungs-, Frühförderstelle

10    

11    

14    

45    

Tabelle 5

Zahl der Kinder bis zum Alter von 8 Jahren, bei denen die sprachliche Symptomatik im Vordergrund steht (M = durchschnittliche Zahl; s = Standardabweichung; f = hochgerechnete Summe aufgrund der Häufigkeits- und der prozentualen Schätzung; Range = minimale und maximale Häufigkeit; % = Anteil der sprachauffälligen Kinder bezogen auf die Gesamtzahl der erstdiagnostizierten Kinder, siehe Tabelle 4)

M

s

Range

f

%

Medizinische Einrichtungen

Spezielle Abteilung in Kliniken

41  

44  

3 - 131  

290  

36  

Neuro-, sozialpädiatrisches Zentrum

247  

351  

2- 1.356  

4.700  

44  

Pädaudiologische Abteilung

383  

343  

50 - 938  

3.450  

53  

Logopädische Abteilung/Einrichtung

39  

41  

9 - 100  

160  

64  

Summe

8600  

47  

Sonderpädagogische Einrichtungen

Sprachheilschule, -zentrum

87  

159  

3 - 1.137  

5.575  

77  

Beratungs-, Frühförderstelle

123  

223  

2 - 1.163  

8.980  

66  

Summe

14.555  

70  

Gesamtzahl

23.155  

59  

5.4 Art und Anteile der verschiedenen Sprachentwicklungsauffälligkeiten

Welche sprachlichen Symptome bzw. Auffälligkeiten der Sprache und des Sprechens wurden diagnostiziert? (Frage 6). Die im Fragebogen vorgegebenen 17 Antwortmöglichkeiten werden um weitere 63 Kategorien erweitert, wobei sehr seltsame Auffälligkeiten notiert wurden, die zumindest zweifeln lassen, ob die Frage richtig verstanden worden ist, so u.a. "nonverbale Kommunikation", "cerebrale Schwerhörigkeit", "noch keine Sprache - geistige Behinderung", "zentral bedingte Sprachstörung", "visuelle Wahrnehmungsprobleme", "Hörbehinderungen", "Integrationsstörungen", "Störungen der Sensumotorik", "Absehprobleme", "Codierungsschwäche", "Störungsbewußtsein", "falsches Schluckmuster", "Verhaltensstörungen", "verzögerter Mengenbegriff". Diese 80 verschiedenen Auffälligkeiten, die allerdings - wie auch die oben angeführten Beispiele zeigen - nicht nur auf die Auffälligkeiten des Sprechens und der Rede beschränkt bleiben, haben wir in 12 Kategorien zusammengefaßt. Die Nennungshäufigkeiten sind in Prozentanteilen bezogen auf die Art der Einrichtung (medizinisch vs. sonderpädagogisch) in Tabelle 6 angegeben.

Unabhängig von der Art der Institution (medizinisch oder sonderpädagogisch) ergibt sich für die 12 Kategorien eine annähernd gleiche Häufigkeitsfolge, wobei Dyslalien, ein verzögerter Sprechbeginn, dysgrammatische Störungen, ein eingeschränkter Wortschatz von mindestens 90% der Einrichtungen genannt werden.

Tabelle 6 Diagnostizierte Symptome bzw. Auffälligkeiten der Sprache und des Sprechens (Frage 6) (relative Häufigkeiten, Angaben in %)

Einrichtung

  medizinisch   sonderpädagogisch
Dyslalie

95

99

verzögerter Sprechbeginn

92

89

Grammatikstörung

91

97

eingeschränkter Wortschatz

89

92

Redeflußstörung

84

91

Sprachverstehensprobleme

81

79

fehlerhafte Flexionen

61

71

Wortfindungsstörung

59

69

Apraxie

50

34

verlangsamtes Sprechtempo

30

39

Rhinolalie

 9

 8

Dysphonie

 8

 6

Wir hatten des weiteren gefragt (Frage 7), welche der Auffälligkeiten (a) fast immer, welche (b) in etwa der Hälfte und welche (c) nur selten beobachtbar sind: In den Abbildungen 1a - c sind die jeweils von mehr als 10% genannten Auffälligkeiten dargestellt.

Abbildung 1a Sprachauffälligkeiten, die sehr häufig/fast immer beobachtet werden in Abhängigkeit von der Art der Institution (relative Häufigkeiten, Angaben in %)

Abbildung 1b Sprachauffälligkeiten, die in etwa der Hälfte aler Fälle beobachtet werden in Abhängigkeit von der Art der Institution (relative Häufigkeiten, Angaben in %)

Abbildung 1c Sprachauffälligkeiten, die selten beobachtet werden in Abhängigkeit von der Art der Institution (relative Häufigkeiten, Angaben in %)

Sprachentwicklungsstörungen und Sprachentwicklungsverzögerungen (Frage 8). Die Häufigkeitsangaben von 198 Institutionen bezüglich (a) der Diagnose "SES" („Kindlicher Dysgrammatismus", „Entwicklungsdysphasie", „Spezifische Sprachentwicklungsstörung") und (b) der Diagnose "SEV" ("Sprachentwicklungsverzögerung") sehen wie folgt aus:

  0-25% 25-50% 50-75% 75-100%
(a) SES

51

60

 55

32  

(b) SEV

23

42

74

66

Die Zahlen zeigen die große Bandbreite, die in Abhängigkeit von den Institutionen im Hinblick auf die Diagnosen "SES" und "SEV" besteht. Die Diagnose "SEV" wird dabei häufiger als die Diagnose "SES" gegeben. Eine genaue Zahl der entsprechenden Diagnosen können wir selbstverständlich nicht angeben. Eine Hochrechnung (analog wie in Tabelle 5) erbringt die folgenden Schätzwerte: Die Diagnose "Sprachentwicklungsverzögerung" wird etwa 11.760 mal vergeben, zweieinhalb mal so häufig wie die Diagnose "Sprachentwicklungsstörung" (4.830 mal; siehe Tabelle 7).

Tabelle 7

Hochgerechnete Häufigkeiten der Diagnose "SEV" und "SES" in Abhängigkeit von den Einrichtungen

SEV

SES

   M   

  s  

  f  

  M   

  s  

  f  

Medizinische Einrichtungen

Spezielle Abteilung in Kliniken

20   

20   

120   

30   

25   

85   

Pädaudiologische Abteilung

240   

250   

1.920   

60   

15   

170   

Neuro-, sozialpädiatrisches Zentrum

85   

75   

1.470   

360   

450   

2.150   

Logopädische Einrichtung

20   

20   

70   

60   

45   

120   

Summe

3.580   

2.525   

Sonderpädagogische Einrichtungen

Sprachheilschule, -zentrum

65   

135   

3.800   

35   

20   

165   

Beratungs-, Frühförderstelle

65   

130   

4.380   

95   

210   

2.140   

Summe

8.180   

2.305   

Gesamtzahl

11.760   

4.830   

Sprachauffälligkeiten insgesamt: 23.155 (100%)
davon SEV : 11.760   (51%)
davon SES:   4.830   (21%)

 davon:

in medizinischen Einrichtungen insgesamt

sprachauffällig :

 

 8.600

(100%)

    davon SEV  3.580   (42%)
    davon SES  2.525   (29%)
in sonderpädagogischen Einrichtungen insgesamt

sprachauffällig:

14.555

(100%)

    davon SEV  8.180   (56%)
    davon SES  2.305   (16%)

Abbildung 2 Häufigkeiten der Diagnosen "SEV" und "SES" (Schätzwerte)

Vergleicht man diese Zahlen für die Diagnosen "SEV" und "SES" (Tabelle 7) mit den Zahlen für die diagnostizierten Sprachauffälligkeiten (Tabelle 5), ergibt sich für Sprachentwicklungsverzögerungen ein Anteil von etwa 51%, für Sprachentwicklungsstörungen ein Anteil von 21% (vgl. Abbildung 2). Folglich würden 28% der diagnostizierten Sprachentwicklungsauffälligkeiten nicht in diese beiden Kategorien klassifiziert. Unterteilt man wiederum die Gesamtzahl der rückmeldenden Einrichtungen in medizinische und sonderpädagogische Institutionen, zeigen sich zwar geringe Unterschiede, die aber keine statistische Bedeutsamkeit bei einer zweifachen Varianzanalyse mit Meßwiederholung auf dem Faktor "Diagnose" (SEV vs. SES) haben: Der Effekt der Institution (medizinisch vs. sonderpädagogisch; F = .97; p > .05) und die Interaktion (F = .79, p > .05) sind nicht signifikant. Die Diagnose "SEV" wird bedeutsam häufiger als die Diagnose "SES" gestellt (F = 5.78; p < .05). Da sich kein Effekt der Art der Institution (medizinisch vs. sonderpädagogisch) zeigt, werden wir im folgenden auf diese Differenzierung verzichten.

Eine Schätzung der Zahl sprachbehinderter Schulkinder. Wenn wir die Grundgesamtheit der schulischen Einrichtungen für sprachentwicklungsgestörte Kinder in Deutschland annähernd korrekt haben schätzen können (f = 280)14 und die rückmeldenden Institutionen (f = 80) diese annähernd repräsentieren, dann würde dies bei den schulischen Einrichtungen zu folgenden Anteilen der beiden Diagnosen führen: 18.200 Kinder würden als sprachentwicklungsverzögert, 9.800 Kinder als sprachentwicklungsgestört diagnostiziert (bei 80 von 280 teilnehmenden schulischen Einrichtungen wird im Mittel etwa 65 mal die Diagnose "SEV" und etwa 35 mal die Diagnose "SES" pro Jahr gestellt).

Wenn wir diese Zahlen mit der Schüler-Statistik 1994 vergleichen - 1994 gab es 3.608.151 Schüler im Primarbereich (1.-4. Klasse)14 - dann würden unsere hochgerechneten Zahlen bedeuten, daß etwa 3% eines Jahrganges (28.000) als sprachentwicklungsgestört (SES) oder -verzögert (SEV) anzunehmen sind. Dieser Prozentsatz liegt am unteren Ende der heute diskutierten Zahlen von Sprachentwicklungsauffälligkeiten (hier werden Schätzungen von bis zu 20% eines Jahrganges abgegeben), aber immerhin zehnmal höher als die offizielle Quote für den Besuch von Schulen für Sprachbehinderte.14

Häufigkeiten der verschiedenen Symptome bei Sprachauffälligkeiten. Die Institutionen bzw. Antwortenden unterscheiden sich zum Teil beträchtlich in der Einschätzung der prozentualen Anteile der verschiedenen sprachlichen Symptome bzw. Auffälligkeiten der Sprache und des Sprechens (siehe Tabelle 8). So variiert die Einschätzung der grammatischen Schwierigkeiten (Syntaxstörung, Dysgrammatismus, Flexionsfehler, Wortstellungsfehler), der Sprachverstehensprobleme sowie des eingeschränkten Wortschatzes nahezu gleichmäßig über den gesamten Skalenbereich.

Häufigkeiten der "umschriebenen Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache" (Klassifikation nach WHO). Die drei umschriebenen Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache werden sehr unterschiedlich eingeschätzt. Bei den Artikulationsstörungen verteilen sich die Antworten über die vier Skalenstufen annähernd gleich (siehe Tabelle 9). Für die expressiven und rezeptiven Sprachstörungen wird die Skala um die letzte Stufe reduziert; ansonsten werden auch hier die Antworten auf die drei ersten Skalenstufen annähernd gleichverteilt. Die rezeptiven und expressiven Sprachstörungen nehmen in der Häufigkeitskategorie 75-100% deutlich ab.

Tabelle 8  Absolute Antworthäufigkeiten bei Frage 9 (der Modus ist jeweils hervorgehoben)

Frage 9: Wie häufig wurden die folgenden sprachlichen Symptome bzw. Auffälligkeiten der Sprache und des Sprechens diagnostiziert?

10-20%

20-40%

40-60%

60-80%

80-100%

Stammeln/Dyslalie

5   

8   

22   

68   

99   

Stottern

142   

31   

6   

-   

1   

Poltern

128   

19   

-   

1   

-   

Artikulationsprobleme

10   

17   

25   

50   

68   

Ausspracheschwierigkeiten

17   

19   

23   

38   

44   

Sprechtempo verlangsamt

105   

14   

8   

5   

-   

Sprechtempo erhöht

92   

40   

10   

3   

-   

Syntaxstörung

10   

47   

36   

36   

26   

Dysgrammatismus

14   

42   

51   

54   

41   

Flexionsfehler

17   

35   

39   

31   

34   

Wortstellungsfehler

24   

40   

41   

24   

27   

verzögerter Sprechbeginn

16   

30   

46   

57   

42   

Wortbildungsprobleme

26   

36   

34   

18   

12   

Wortfindungsstörung

62   

52   

42   

12   

5   

eingeschränkter Wortschatz

12   

34   

55   

24   

13   

Sprachverständnisschwierigkeiten

39   

48   

54   

24   

13   

Apraxie

83   

21   

2   

2   

1   

Mutismus

111   

2   

-   

-   

-   

Tabelle 9 Relative Häufigkeiten (Angaben in %) der "umschriebenen Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache" (Klassifikation nach WHO)

Frage 10: Wie hoch schätzen Sie den Anteil dieser drei Formen umschriebener Sprachentwicklungsstörungen an den von Ihnen diagnostizierten Sprachentwicklungsauffälligkeiten?

0-25%

25-50%

50-75%

75-100%

Artikulationsstörungen

27

20

25

28

Expressive Sprachstörungen

20

30

38

12

Rezeptive Sprachstörungen

39

27

27

  8

Tabelle 10 Relative Häufigkeiten (Angaben in %) der Auftretensschätzungen der einzelnen Symptome bei expressiven und rezeptiven Sprachstörungen (die Modalwerte sind hervorgehoben)

Frage 11: Welche Symptome treten bei den expressiven und den rezeptiven Sprachstörungen auf? Schätzen Sie bitte bei jedem der nachfolgend genannten Symptome die Auftretenshäufigkeit.

Auffälligkeiten in Sprache,
Sprechen, Kommunikation 
In bezug auf

Expressive
Sprachstörungen

Rezeptive
Sprachstörungen

0-25%

25-50%

50-75%

75-100%

0-25%

25-50%

50-75%

75-100%

Satzbau und Phrasenbildung

11   

16   

51   

21   

10   

25   

38   

28   

Flexion

6   

34   

40   

20   

17   

24   

33   

25   

Wortbildung

18   

40   

32   

11   

19   

26   

28   

26   

Wortschatz

11   

30   

36   

24   

6   

17   

36   

40   

Wortfindung

31   

40   

20   

9   

19   

24   

39   

18   

Wortbedeutung

35   

36   

23   

6   

11   

20   

32   

37   

Lautanalyse und -synthese                       

11   

34   

39   

16   

13   

21   

40   

27   

Lautdiskrimination

11   

34   

39   

16   

9   

27   

32   

32   

Artikulation

5   

14   

41   

39   

17   

23   

35   

25   

Sprechatmung

70   

24   

5   

2   

69   

26   

4   

1   

Stimmgebung

74   

23   

3   

1   

76   

19   

4   

2   

Redefluß

64   

23   

9   

4   

59   

29   

7   

5   

Diskurs

55   

26   

6   

13   

58   

18   

14   

11   

Andere Auffälligkeiten   
in bezug auf

0-25%

25-50%

50-75%

75-100%

0-25%

25-50%

50-75%

75-100%

Auditive Wahrnehmung            

11   

32   

38   

19   

5   

17   

36   

41   

Visuelle Wahrnehmung

27   

45   

24   

4   

22   

32   

32   

14   

Taktile Wahrnehmung

30   

38   

27   

5   

19   

37   

29   

15   

Motorik

9   

37   

40   

14   

9   

30   

41   

20   

Gedächtnis

18   

33   

37   

12   

10   

21   

35   

34   

Rhythmus

14   

29   

45   

12   

13   

29   

36   

23   

Aufmerksamkeit

7   

29   

47   

17   

1   

23   

44   

31   

Konzentration

5   

29   

46   

20   

2   

18   

45   

35   

  

  

Psychosoziale Faktoren

12   

44   

32   

12   

9   

34   

46   

11   

Verhaltensmuster der Interaktionspartner

17   

49   

24   

10   

17   

42   

31   

10   

Familiäre Häufung

28   

41   

27   

4   

30   

40   

24   

5   

In Frage 11 haben wir nach den Auftretenshäufigkeiten einer Reihe von Symptomen bei denexpressiven und den rezeptiven Sprachstörungen gefragt. Die Verteilung der Antworten auf die vier Häufigkeitskategorien (siehe Tabelle 10) zeigt zweierlei: Zum einen sind die beiden Störungsformen aufgrund der Antwortverteilungen kaum voneinander zu unterscheiden. Zum anderen wird - wenn auch nur indirekt erschließbar - deutlich, wie different die einzelnen Auffälligkeiten bei den Sprachstörungen beobachtet werden bzw. wie unterschiedlich die Auffälligkeiten definiert sind: Bei einer Reihe von Symptomen verteilen sich die Antworten über drei, zum Teil sogar über alle vier Häufigkeitskategorien annähernd gleich.

Es wird außerdem deutlich, daß neben den Auffälligkeiten in Sprache, Sprechen und Kommunikation auch eine Reihe anderer Auffälligkeiten zu beobachten sind, wobei sogar auditive Wahrnehmungsprobleme die größte Häufigkeit aller Symptome bei den rezeptiven Sprachstörungen aufweisen: Nach 41% der Einrichtungen treten auditive Wahrnehmungsprobleme fast immer mit rezeptiven Sprachstörungen auf.15

5.5 Zur Diagnostik und den Untersuchungsmethoden

Für die Diagnostik stehen bei den meisten Institutionen "1-2 Stunden" oder "bis zu einem halben Tag" zur Verfügung (Frage 12). Medizinische und sonderpädagogische Institutionen unterscheiden sich darin nicht. Ein geringfügiger, statistisch nicht bedeutsamer Unterschied zwischen den Institutionen besteht nur in der Kategorie "eine Stunde": Immerhin 20% der medizinischen Institutionen schließen die Diagnostik innerhalb von einer Stunde ab, sonderpädagogische Institutionen sind es nur etwa 7% (vgl. Abbildung 3), bei denen die Diagnostik "eine Stunde" erfordert.

Frage 12: Wieviel Zeit erfordert in Ihrer Institution in der Regel die Diagnostik dieser umschriebenen Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache?

eine Stunde 1 - 2 Stunden bis zu einem halben Tag bis zu einem Tag mehr als einen Tag



Abbildung 3 Zeitdauer für die Diagnostik in den einzelnen Institutionen (relative Häufigkeiten, Angaben in Prozentwerten)

Wenn ein Kind in der Institution vorgestellt wird, sind in etwa Zweidrittel der Fälle noch keine Differentialdiagnosen im Hinblick auf Aphasien, psychiatrische Auffälligkeiten, Autismus, Mutismus und eine Intelligenzminderung erfolgt. In der Hälfte der Fälle wurden Hörschädigungen oder Cerebralparesen bereits ausgeschlossen. Erfolgten diese Differentialdiagnosen vorher noch nicht, dann werden - bis auf die Prüfung der Intelligenz - diese Abklärungen zumeist außerhalb der Institution durch einen Facharzt oder Psychologen durchgeführt (siehe Tabelle 11).
Tabelle 11 Die differentialdiagnostische Abklärung verschiedener Störungen (relative Häufigkeiten, Angaben in Prozentwerten)

Frage 13: Wenn in Ihrer Institution ein Kind wegen einer Sprachauffälligkeit vorgestellt wird, sind dann in der Regel bereits folgende Störungen bzw. Schädigungen ausgeschlossen worden?

ja, durch

  nein  

Fachärztin

Psychologin

unsere Institution

Hörstörung/-schädigung

42    

1    

7        

50    

Aphasie

30    

1    

5        

64    

Cerebralparese

45    

1    

6        

47    

psychiatrische Auffälligkeit

11    

14    

6        

69    

Autismus

13    

13    

8        

65    

Mutismus

11    

5    

13        

71    

Intelligenzminderung

4    

11    

20        

64    

Die sonderpädagogischen Einrichtungen müssen erwartungsgemäß häufiger (P2=10.16; p < .01) als die medizinischen Einrichtungen die Kinder zur differentialdiagnostischen Abklärung in Fachpraxen oder -kliniken überweisen (vgl. Tabelle 12). 23% der medizinischen und 19% der sonderpädagogischen Einrichtungen führen die Diagnostik in Teilbereichen selbst durch.
Tabelle 12 Weitere differentialdiagnostische Abklärung nach der Erstvorstellung (relative Häufigkeiten, Angaben in Prozentwerten)

Frage 14: Falls Sie bei Frage 13 bei einer oder mehreren Zeilen "Nein" angekreuzt haben: Wie wird dieser Bereich im folgenden abgeklärt?

   medizinisch    

sonderpädagogisch

Wir führen die Diagnostik in allen Bereichen
in unserer Institution durch.

19          

5            

Wir überweisen in eine Fachpraxis/in
eine Fachklinik.

58          

76            

Wir führen die Diagnostik zum Teil
in unserer Institution durch.

23          

19            

Zur Intelligenzdiagnostik. Die Hälfte der befragten Institutionen führt die Intelligenzüberprüfung mit den Culture Fair Grundintelligenztests nach Cattell (CFT: CFT20, Weiß, 1987; CFT 1, CFT 2, Weiß & Osterland, 1982), den Hamburg-Wechsler-Intelligenztests (HAWIK-R, Tewes, 1983; HAWIVA, Eggert & Schuck, 1975) oder den Raven Matrizentests (CPM, Schmidtke, Schaller & Becker, 1978; SPM, Kratzmeier, 1979) durch. 19 Institutionen beschränken sich nahezu ausschließlich auf den Grundintelligenztest sensu Cattell, zwölf auf die Matrizentests sensu Raven, zwei auf die Wechsler-Tests (vgl. Tabelle 13). Der Median der Anwendungshäufigkeit variiert bei diesen drei Tests zwischen 10% (Matrizentests) und 25% (CFT). Die größte Verwendungshäufigkeit weist allerdings ein relativ neuer Test (1. Auflage der deutschsprachigen Bearbeitung 1991) auf: die Kaufman-Assessment Battery for Children (K-ABC; Kaufman & Kaufman, 1994). In den 50 Einrichtungen, in denen er eingesetzt wird, wird dieser Test in der Hälfte aller IQ-Messungen verwendet, zehn Institutionen setzen ihn ausschließlich ein. Neben den in Tabelle 13 aufgeführten Tests (S-O-N, Snijders, Tellegen & Laros, 1989; CMM 1-3/CMM 1-4; Schuck, Eggert & Raatz, 1975, 1976; FBIT, Hebbel & Horn, 1976; Kramer-Test, Kramer, 1954) wurden noch weitere 12 Tests genannt (z.B. Mann-Zeichen-Test, Ziller, 1975; Münchner Funktionelle Entwicklungsdiagnostik, Hellbrügge, Lajosi, Menara, Schamberger & Rautenstrauch, 1978; Scenotest, von Staabs, 1964), die aber nur von einer, maximal zwei Institutionen genannt wurden. Erwähnenswert ist noch, daß sechsmal mitgeteilt wurde, daß die Intelligenzdiagnose aufgrund von informellen Verfahren erfolge.

Tabelle 13 Art und Einsatz der Intelligenztests (absolute Häufigkeit f; angeführt sind nur die Tests, die in mindestens 5  Einrichtungen eingesetzt werden; Mdn: Median der Verwendungshäufigkeit, Prozentangabe; f(90-100%): Häufigkeit einer 90-100%igen Testanwendung)

  f  

  Mdn   

 f(90-100%)  

Grundintelligenztests (CFT20/CFT1-3)

116  

25  

19      

Hamburg-Wechsler-Intelligenztests (HAWIVA/HAWIK)

105  

15  

2      

Raven-Matrizentests (CPM/SPM)

104  

10  

12      

Snijders-Oomen nonverbaler Intelligenztest (S-O-N)

77  

15  

2      

Kaufman-Assessment Battery for Children (K-ABC)

50  

50  

10      

Binet-Tests (Binet-Simon/Kramer/Binetarium)

37  

10  

-      

Columbia Mental Maturity Scale (CMM 1-3)

36  

10  

-      

French Bilder Intelligenztest (FBIT)

25  

5  

2      

McCarthy Scales for Children's Abilities

8  

20  

-      

Adaptives Intelligenz Diagnostikum (AID)

7  

10  

-      

Zur Sprachentwicklungsdiagnostik. Zweidrittel der Einrichtungen (f = 146; entsprechend 67%) führen eine Sprachentwicklungsdiagnostik mit standardisierten Verfahren durch. 13 Einrichtungen geben bei dieser Frage nach dem Einsatz standardisierter Tests an, daß sie eigenentwickelte, informelle Verfahren verwenden. Mehr als die Hälfte der Einrichtungen verwenden zur Diagnose des Sprachentwicklungsstandes den Psycholinguistischen Entwicklungstest PET (Angermaier, 1974) und/oder den Heidelberger Sprachentwicklungstest H-S-E-T (Grimm & Schöler, 1978), davon zehn Einrichtungen ausschließlich den PET, sieben ausschließlich den H-S-E-T (siehe Tabelle 14). Im Hinblick auf den Einsatz dieser beiden Sprachentwicklungstests sind noch folgende Zahlen interessant: In 75 Einrichtungen (34%) wird keiner der beiden Tests angewendet, in 70 (32%) kommen beide, in 41 (19%) nur der H-S-E-T, in 33 (15%) nur der PET zum Einsatz.

Neben diesen beiden Tests werden noch der Landauer Sprachentwicklungstest für Vorschulkinder LSV (Götte, 1976) und das Ravensburger Dysgrammatiker Prüfmaterial (Frank & Grziwotz, 1978) von mehr als fünf Institutionen eingesetzt. Darüber hinaus kommen weitere 19 Tests zur Anwendung, u.a. der Logopädische Sprachverständnistest LSVT (Wettstein, 1984), der Aktive Wortschatztest für 3-6jährige Kinder AWST 3-6 (Kiese & Kozielski, 1979), die Differenzierungsprobe (Breuer & Weuffen, 1986), das Screeningverfahren zur Erfassung von Sprachentwicklungsverzögerungen SEV (Heinemann & Höpfner, 1993), die Sprachentwicklungsskalen von Reynell (Sarimski, 1985).
Tabelle 14 Art und Einsatz von Sprachentwicklungsdiagnostika (angeführt sind nur die Verfahren, die in mindestens 5 Einrichtungen eingesetzt werden; absolute Häufigkeit f; Mdn: Median der relativen Verwendungshäufigkeit, Angabe in %; f(90-100%): Häufigkeit einer 90-100%igen Testanwendung)

  f  

 Mdn  

 f(90-100%)  

Psycholinguistischer Entwicklungstest (PET)

116  

20  

10      

Heidelberger Sprachentwicklungstest (H-S-E-T)

111  

20  

7      

Landauer Sprachentwicklungstest für Vorschulkinder (LSV)

32  

10  

1      

Ravensburger Dysgrammatiker Prüfmaterial

9  

60  

2      

Zur Spontansprachanalyse. Zur Frage nach der Häufigkeit der Erhebung und Analyse von Spontansprachdaten (Frage 17) liegen 183 Antworten vor: 42% der Einrichtungen führen solche Analysen nicht durch, 24% dagegen immer (siehe Tabelle 15). Von den Institutionen, die keine Spontansprachdaten erheben, wenden 57 (entsprechend 74%) standardisierte Tests an. Einrichtungen, in denen immer eine Spontansprachanalyse erfolgt, führen in 84% auch einen standardisierten Test durch.

Tabelle 15 Absolute Häufigkeit f der Spontanspracherhebungen und Durchführung standardisierter Sprachentwicklungsdiagnostika

Spontanspracherhebung

   standardisierte Diagnostik  

f

ja

nie

   77    

57             

in bis zu 25% der Fälle

   33    

29             

in bis zur Hälfte der Fälle

   17    

14             

in bis zu 75% der Fälle

   13    

11             

immer

   43    

36             

Prüfungen der "Semantik". 136 Institutionen (62%) geben an, daß sie Leistungen im Bereich Semantik mit einem Verfahren überprüfen, wobei eine solche Prüfung in 24 Institutionen immer erfolgt. Am häufigsten (von 102 Einrichtungen; siehe Tabelle 16) wird der AWST 3-6 eingesetzt, gefolgt von dem Wortschatztest für Schulanfänger WSS 1 (Kamratowski & Kamratowski, o.J.), dem Frankfurter Test für Fünfjährige - Wortschatz FTF-W (Raatz, Möhling & Ruchti, 1971), dem Ulmer Lexik und Semantiktest ULST (Holtz, 1988). Desweiteren werden noch sieben Verfahren genannt, die bis maximal zweimal aufgeführt werden, wobei es sich in der Mehrzahl um Subtests aus den oben genannten Sprachentwicklungstests oder um Prüfverfahren handelt, die ansonsten im Bereich "Grammatik" und "Phonologie/Phonetik" erwähnt werden.

Tabelle 16 Verfahren zur Überprüfung sprachlicher Leistungen im Bereich "Semantik" (absolute Häufigkeiten f; angeführt sind nur Verfahren, die mehr als dreimal genannt wurden)

davon

   f  

-25%  

-50%  

 -75%  

immer

Aktiver Wortschatztest AWST 3-6

102  

35  

10  

14  

16  

Wortschatztest für Schulanfänger WSS 1

62  

26  

7  

2  

-  

Frankfurter Test für Fünfjährige - Wortschatz FTF-W

46  

17  

2  

2  

-  

Ulmer Lexik und Semantiktest ULST

31  

2  

-  

-  

1  

Prüfungen der "Grammatik". Bei dieser Frage hatten wir nur ein Verfahren vorgegeben (Dysgrammatiker Prüfmaterial; Frank & Grziwotz, 1978), das von 148 Institutionen auch eingesetzt wird. Es werden weitere 10 Verfahren genannt. Bis auf den in Tabelle 17 angeführten "Agrammatismustest" (Schüler, 1978)16 wird keines dieser Verfahren mehr als dreimal genannt. 38 Institutionen (17% aller Einrichtungen) geben hier explizit an, daß sie eigene informelle Verfahren entwickelt haben und diese anwenden.

Tabelle 17 Verfahren zur Überprüfung sprachlicher Leistungen im Bereich "Grammatik" (absolute Häufigkeiten f; angeführt sind nur Verfahren, die mehr als dreimal genannt wurden)

davon

  f   

 -25%  

  -50%  

 -75%  

immer

Ravensburger Dysgrammatiker Prüfmaterial

148  

36  

30  

29  

43  

"Agrammatismustest"

12  

-  

4  

5  

2  

Prüfungen des "Sprachverständnisses". Bei dieser Frage war kein Verfahren vorgegeben. Standardisierte bzw. publizierte Verfahren wenden 72 Einrichtungen (33%) an. Ein bevorzugtes Verfahren für diesen - vom Testangebot her sicher als stiefmütterlich zu bezeichnenden - Sprachleistungsbereich läßt sich nicht ausmachen. Die Sprachentwicklungsskalen von Reynell (Sarimski, 1985) weisen mit 15 Nennungen die größte Verwendungshäufigkeit auf (siehe Tabelle 18). Einige Einrichtungen prüfen das Sprachverstehen durch Subtests aus H-S-E-T und PET. Daneben werden noch der LSVT (Wettstein, 1984), der Ravensburger Dysgrammatiker Prüfbogen und die Differenzierungsprobe (Breuer & Weuffen, 1986) häufiger als dreimal genannt.

Tabelle 18 Verfahren zur Überprüfung sprachlicher Leistungen im Bereich "Sprachverständnis" (absolute Häufigkeiten f; angeführt sind nur Verfahren, die mehr als dreimal genannt wurden)

davon

  f   

 -25%  

 -50%  

 -75%  

immer

Sprachentwicklungsskalen (Reynell)

  15   

3     

3     

4      

4      

Subtests des H-S-E-T

 14   

4     

5     

-      

3      

Logopädischer Sprachverständnis-Test LSVT

11   

5     

-      

2      

-      

Ravensburger Dysgrammatiker Prüfbogen

10   

2     

1     

1     

5     

Subtests des PET

6   

3     

-     

    -      

2     

Differenzierungsprobe

5   

-     

  3     

1    

-     

Prüfungen der "Phonologie/Phonetik". 154 Einrichtungen (70%) führen eine Überprüfung des Lautinventars der Kinder mit publizierten Verfahren durch. Insgesamt werden 27 unterschiedliche, im Handel erhältliche Verfahren angegeben. In Tabelle 19 sind nur diejenigen Verfahren aufgeführt, die von mindestens drei Einrichtungen genannt wurden. Es sind in der Reihenfolge der Nennungshäufigkeit: der Stammler-Prüfbogen (Metzker, 1967), der Ravensburger Lautprüfbogen (Frank & Grziwotz, 1974), die Lauttreppe nach Möhring (Möhring, 1938), das Phonetische Bilder- und Wörterbuch (Cerwenka & Demmer, 1971), der Bilder Sprachtest (Sulser, 1977), der Werscherberger Lautprüfbogen (Gey, 1976) und die Lautprüfmittel nach Theiner (Theiner, 1968). Trotz der recht zahlreich vorhandenen Verfahren wenden viele Institutionen zusätzlich oder sogar ausschließlich eigene Prüfverfahren an.

Tabelle 19 Verfahren zur Überprüfung sprachlicher Leistungen im Bereich "Phonologie/Phonetik" (absolute Häufigkeiten f; angeführt sind nur Verfahren, die mehr als dreimal genannt wurden)

davon

  f   

 -25%  

 -50%  

 -75%  

immer

Stammler Prüfbogen (Metzker)

76  

15  

10  

11  

27 

Ravensburger Lautprüfbogen 51 2 5 10 33
Lauttreppe nach Möhring 38 19 4 1 4
Phonetisches Bilder- und Wörterbuch (Cerwenka) 34 9 4 3 3

Bilder Sprachtest (Sulser)

21

5  

3  

-    

Werscherberger Lautprüfbogen

12  

1  

3  

-  

Lautprüfmittel nach Theiner

8  

-  

1  

3  

Prüfungen in nichtsprachlichen Leistungsbereichen. Die Frage nach der Diagnostik in den nichtsprachlichen - von uns sehr allgemein formulierten - Bereichen "Motorik", "Gedächtnis" und "Wahrnehmung" zeigt, daß diese Entwicklungs- bzw. Leistungsbereiche routinemäßig nur in weniger als einem Viertel der Institutionen überprüft werden (siehe Tabelle 20): Mehr als die Hälfte aller Institutionen (126 entsprechend 58%) führt eine Prüfung der Motorik durch, 80 Einrichtungen (37%) prüfen Gedächtnisfunktionen bzw. -leistungen, 68 Einrichtungen (31%) Wahrnehmungsfunktionen bzw. -leistungen.

Tabelle 20 Häufigkeiten der Prüfung der Leistungsbereiche "Motorik", "Gedächtnis" und "Wahrnehmung"

 

davon

  f   

     %      nie

 -25%  

 -50%  

 -75%  

immer

Motorik

126  

58    

8    

29   

15   

20   

62    

Gedächtnis

80  

37    

19    

16   

15   

12   

37    

Wahrnehmung

68  

31    

4    

16    

15   

11   

26    

Motorik. 62 Einrichtungen (entsprechend 28% aller Einrichtungen) prüfen routinemäßig motorische Leistungen. Etwa 20 publizierte Verfahren werden genannt, wobei nicht immer eindeutig ist, welche Testverfahren gemeint sind. Die am häufigsten eingesetzten Verfahren sind (siehe Tabelle 21): die Lincoln-Oseretzky-Skala LOS KF 18 (Eggert, 1971), der Motoriktest für vier- bis sechsjährige Kinder MOT 4-6 (Zimmer & Volkamer, 1987) und der Körper-Koordinationstest für Kinder KTK (Kiphard & Schilling, 1974).

Tabelle 21 Verfahren zur Überprüfung motorischer Leistungen (absolute Häufigkeiten f; angeführt sind nur Verfahren, die mehr als dreimal genannt wurden)

davon

  f   

 -25%  

 -50%  

 -75%  

immer

Lincoln-Oseretzky-Skala LOS KF 18

72  

35   

12   

4   

6     

Motoriktest für 4- bis 6jährige Kinder MOT 4-6

35  

16    

3    

4    

6     

Körper-Koordinationstest für Kinder KTK

23  

13   

3   

1   

4     

Gedächtnis. In 37 (entsprechend 17% bezogen auf alle rückmeldenden) Einrichtungen werden routinemäßig Gedächtnisleistungen geprüft (vgl. Tabelle 20). Die entsprechenden Subtests des PET und einiger Intelligenztests werden genannt, mit denen die Merkspanne erfaßt wird (siehe Tabelle 22).

Tabelle 22 Verfahren zur Überprüfung von Gedächtnisleistungen (absolute Häufigkeiten f; angeführt sind nur Verfahren, die mehr als dreimal genannt wurden)

davon

  f   

 -25%  

 -50%  

 -75%  

immer

ZFG, SFG aus PET, ZN aus HAWIK

35  

12   

6   

4   

10   

Kaufman-Assessment Battery for Children K-ABC

16  

1    

 3   

3   

3   

Mottier-Test

6  

3    

1   

1   

1    

Wahrnehmung. Im Widerspruch zur Beantwortung bei der Frage, ob überhaupt Prüfungen stattfinden - nur 26 Einrichtungen (entsprechend 12% aller Einrichtungen) geben regelmäßige Prüfungen an (vgl. Tabelle 20) -, antworten 145 Institutionen, daß sie Frostigs Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung FEW (Frostig, 1979) zur Wahrnehmungsprüfung anwenden. Die Frage nach dem Bereich "Wahrnehmung" war sicher sehr weit gefaßt, und es entsteht der Eindruck, daß einige Einrichtungen darunter ausschließlich die auditive, andere wiederum nur die visuelle Wahrnehmung verstanden haben.

26 Einrichtungen verwenden die Differenzierungsprobe (Breuer & Weuffen, 1986), achtmal wird der Bremer Lautdiskriminationstest BLDT (Niemeyer, 1976) eingesetzt. Darüber hinaus werden mehr als 20 weitere Verfahren, vorwiegend Subtests aus Intelligenztests, genannt.
Tabelle 23 Verfahren zur Überprüfung von Wahrnehmungsleistungen (absolute Häufigkeiten f; angeführt sind nur Verfahren, die mehr als dreimal genannt wurden)

davon

  f   

 -25%  

 -50%  

 -75%  

immer

Frostigs Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung

145   

62    

34   

13   

21   

Differenzierungsprobe

26   

8   

2   

8   

8   

Bremer Lautdiskriminationstest BLDT

8   

4   

2  

2   

-    


6. Einige Schlußfolgerungen

Wir haben im vorigen Abschnitt die Ergebnisse der Fragebogenerhebung kommentarlos dargestellt, so daß sich jede Leserin und jeder Leser ein eigenes Bild machen kann. Im folgenden Abschnitt möchten wir diese beschreibende Ebene verlassen und thesenartig einige - unseres Erachtens mögliche und notwendige - Schlüsse aus der Fragebogenerhebung ziehen.

  • Die Situation der Diagnostik im Bereich der Sprachentwicklungsauffälligkeiten ist unbefriedigend. Es besteht ein Bedürfnis nach einer Verbesserung der Diagnostik.

Die überaus erfreuliche Resonanz auf den Fragebogen, die Diskussions- und Kooperationsbereitschaft sind nach unserer Auffassung dahingehend zu werten, daß viele mit diagnostischen und differentialdiagnostischen Fragen Beschäftigte mit der Praxis der diagnostischen Urteilsbildung unzufrieden sind. Dies wurde uns auch in einer Reihe von Begleitschreiben und Gesprächen immer wieder bestätigt. Resümee: Der Stand der Diagnostik im Bereich der Sprachentwicklungsauffälligkeiten scheint sich in den letzten beiden Jahrzehnten (siehe die Befragung von Sonderschulleitern durch Grohnfeldt, 1979) nicht wesentlich verbessert zu haben.

  • Die Interdisziplinarität des Gegenstandsbereiches erfordert eine einheitliche, phänomenbezogene Begrifflichkeit.

Es gibt kein allgemein akzeptiertes Klassifikationssystem der Sprachentwicklungsauffälligkeiten. Die recht zahlreich im Rahmen der Diagnostik beteiligten Berufsgruppen präferieren unterschiedliche Bezeichnungen für gleiche Phänomene, aber auch bei gleicher Bezeichnung scheinen sich dahinter sehr verschiedene Konzepte zu verbergen. Die Klassifikationssysteme, Bezeichnungen und Konzepte variieren nicht nur von Institution zu Institution, sondern auch innerhalb einer Institution. Es ist daher dringend geboten, entweder (a) ein neues allgemein akzeptiertes Klassifikationssystem an den Phänomenen orientiert und interdisziplinär zu entwickeln oder (b) - und dies scheint uns der realistischere Weg - sich auf eines der vorhandenen Klassifikationssysteme zu einigen und schrittweise dessen Optimierung voranzutreiben.

  • Zur Vergleichbarkeit diagnostischer Urteile ist die (Weiter)Entwicklung diagnostischer Verfahren und die Vereinheitlichung diagnostischer Vorgehensweisen dringend geboten.

Diagnostik ist - vor allem in der Sonderpädagogik - seit vielen Jahren aus verschiedenen Perspektiven in der Diskussion, sie ist - wie es so schön heißt - ins Gerede gekommen bzw. von Beginn an eigentlich immer mehr oder weniger gewesen. Die klassische traditionelle Diagnostik wurde beispielsweise zurecht kritisiert (siehe z.B. Cronbach & Gleser, 1965; Fischer, 1968)17. Nur können wir uns bei der aktuellen Kritik des Eindrucks nicht erwehren, daß wieder einmal das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird. Nicht zuletzt seit der Propagierung der sogenannten Förderdiagnostik in der Sonderpädagogik sind schärfere Töne angeschlagen worden und große Teile methodischer Zugangsweisen in Verruf geraten. Gemeint sind damit in aller Regel normorientierte Verfahren und hier insbesondere standardisierte Tests. Folgerichtig werden daher in der Ausbildung immer öfter wesentliche Teile des diagnostischen Methodeninventars nicht mehr gelehrt, sondern sie gelten von vorneherein als inhuman, Personen klassifizierend und damit abwertend und etikettierend. Im Bereich der Sonderpädagogik hört man auch, daß sogar jegliches Klassifizieren und Diagnostizieren, gemeint ist dann immer die Operationalisierung von Konstrukten und somit auch deren Erfassung/Messung inhuman sein soll.

Wie sieht die vermeintliche Alternative aus? Die Alternative zu diesen "inhumanen" diagnostischen Methoden ist die ganzheitliche Erfassung des Menschen „als Subjekt in seiner Unver-fügbarkeit" (Fornefeld, 1995, S. 39). Der Mensch kann demnach nur ganzheitlich erfaßt werden, es verbietet sich, einzelne Merkmale isoliert zu betrachten und zu messen. Nach unserem Dafürhalten eine gefährliche Illusion. Denn ein Diagnostiker kann - wie jeder andere Mensch auch - immer nur mehr oder weniger kleine Ausschnitte in Abhängigkeit von bestimmten Zielsetzungen, Perspektiven und Kontextbedingungen erfassen und verstehen. „Diagnostik ist ein theoretisch begründetes System von Regeln und Verfahren zur Gewinnung und Analyse von Kennwerten für inter- und intraindividuelle Merkmalsunterschiede, ..." (Tent, 1985, S. 146). Wie Langfeldt, der 1988 in einem Beitrag die Aufgaben der Sonderpädagogischen Diagnostik sehr deutlich formuliert hat, fügen wir der Klarheit halber noch hinzu: „und sonst nichts". Ein Diagnostiker geht immer von einer Fragestellung aus, und in Abhängigkeit von dieser Fragestellung kann er geeignete und ungeeignete Methoden zur Erreichung seiner Ziele anwenden. Die Anwendung ungeeigneter Methoden ist daher nur dem Diagnostiker anzulasten.

Eine Argumentationsfigur, die auch in einem anderen Kontext schon einmal gescheitert ist, nämlich in der Chomskychen Kritik an den Lerntheorien (Chomsky, 1959)18, ist folgende negative Argumentationsfigur: Da es zur Zeit für diese oder jene Fragestellung keine angemessenen diagnostischen Verfahren gibt, ist daraus abzuleiten, es kann keine geben, und es wird darauf verzichtet, solche zu entwickeln. „Die Einzigartigkeit möglicher Fragestellungen bringt den Praktiker häufig in die Lage, Dinge zu diagnostizieren, für die es keine Verfahren oder Verfahrensregeln gibt, die unscharf definiert sind oder die allenfalls durch das Alltagsverständnis („den gesunden Menschenverstand") erfaßt werden. Er arbeitet dann ohne gesicherte wissenschaftliche Konzepte oder Verfahren und glaubt allzu leicht, er könne schließlich auch auf sie verzichten. Jede diagnostische Tätigkeit impliziert jedoch ein theoretisches Konzept. [...] Die Not der Praktiker sollte nun nicht zur Tugend der Diagnostik als Wissenschaft werden. Vielmehr sollte an der Grundüberzeugung festgehalten werden, daß wir nur Ausschnitte menschlichen Verhaltens und Erlebens zu erkennen vermögen, die einer expliziten, operationalisierten (zumindest: operationalisierbaren) und validen Definition bedürfen" (Langfeldt, 1988, S. 73).

Die heute weit verbreitete Förderdiagnostik bzw. besser formuliert: die mit förderdiagnostischen Ansätzen oft verbundenen ideologischen Positionen haben dazu Vorschub geleistet, daß in vielen diagnostischen Urteilsbildungen - zum Teil aus falschem Verständnis, zum Teil aus Inkompetenzgründen - Willkür und Beliebigkeit Einzug gehalten haben. Neben einem Appell zur (Weiter)Ent-wicklung und Verbesserung der diagnostischen Verfahren und Vorgehensweisen ist darüber hinaus zu fordern, daß (a) über die zu diagnostizierenden Leistungsbereiche und (b) über die diagnostischen Methoden und Vorgehensweisen ein Minimal-Konsens herbeigeführt wird. Nur so können wir zu einer erfolgreicheren intersubjektiv vergleichbaren und differenzierenden diagnostischen Urteilsbildung gelangen.

Die Fragebogenerhebung zeigt die Dringlichkeit einer solchen Systematisierung an. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die wissenschaftliche Diagnostik eher stagniert, wenn nicht sogar sich gegenläufig disparat entwickelt. Andererseits ist ebenfalls zu beobachten, daß Praktiker Defizite durch die Entwicklung eigener Verfahren kompensieren, wie der häufige Einsatz von institutsintern entwickelten Verfahren zeigt.19 Das ist aus unserer Sicht zwar eine erfreuliche Reaktion auf die oben erwähnte Entwicklung, arbeitet aber institutsübergreifenden Kriterien zur Beurteilung von Sprachentwicklungsauffälligkeiten entgegen und kann als anhaltender Trend die Situation der Diagnostik und Differentialdiagnostik von Sprachentwicklungsauffälligkeiten verschlimmern.

Einen letzten Gesichtspunkt, der sowohl für die individuelle Therapie als auch gesellschaftlich relevant ist, möchten wir aus einer aktuellen Untersuchung zitieren, in der u.a. auch die mangelhafte begriffliche Schärfe diagnostischer Aussagen im Bereich der Sprachentwicklungsauffälligkeiten kritisiert wird19: "Die allgemeine Kostensteigerung im Sozial- und Gesundheitsbereich legt die Überlegung nahe, daß man sich in diesem Arbeitsfeld auch Gedanken machen müßte über eine Kosten-Nutzen-Relation therapeutischer Maßnahmen. Präzise gestellte Diagnosen z.B. können zu erfolgreichen Therapievorschlägen führen" (Kaschade, Männche & Weber, 1996, S. 10).

Fazit. Einen ersten, aber erforderlichen Schritt zur Überwindung der unbefriedigenden Situation der Diagnostik im Bereich der Sprachentwicklungsauffälligkeiten sehen wir in einer Vereinheitlichung der diagnostischen Urteilsbildung. Eine Vereinheitlichung würde gleichzeitig zu einer Optimierung der bestehenden Begrifflichkeiten beitragen. Dieser Schritt kann nur in enger Kooperation und gemeinsam von Forschung und Praxis erfolgen, wobei für die Forschung gilt, die in der Praxis vorhandenen Erfahrungen und Kompetenzen zusammenzuführen, abzugleichen und in die Entwicklung wissenschaftlicher diagnostischer Verfahren einzubinden.

Literatur

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Anderson, J.R. (1982). Acquisition of cognitive skill. Psychological Review, 89, 369-406.

Angermaier, M. (1974). Psycholinguistischer Entwicklungstest PET. Weinheim: Beltz.

Becker, K.-P., Dietze, R., Döbbeling, K., Gerisch, E., Matthes, G., Schicke, B., Schmidt, L., Schuster, K.-M., Wellmitz, B. & Zschocke, H.-G. (1991). Entwicklungsdynamik drei- bis neunjähriger Kinder. Berlin: Verlag Gesundheit.

Breuer, H. & Weuffen, M. (61986). Differenzierungsprobe. Gut vorbereitet auf das Lesen- und Sreibenlernen? Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaft.

Cerwenka, M. & Demmer, H. (41971). Phonetisches Bilder- und Wörterbuch. Wien: Jugend und Volk.

Chomsky, N. (1959). Buchbesprechung: Skinner, B.F., Verbal behavior. Language 35, 26-58.

Clahsen, H. (1986). Die Profilanalyse. Ein linguistisches Verfahren für die Sprachdiagnose im Vorschulalter. Berlin: Marhold.

Clahsen, H. & Hansen, D. (1991). COPROF - Computerunterstützte Profilanalyse. Köln: Focus.

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FUßNOTEN

1 Der Begriff "Spezifische Sprachentwicklungsstörung" ist zur Zeit international gebräuchlich (engl. specific language impairment - abgekürzt SLI), im deutschsprachigen Raum auch als Kindlicher Dysgrammatismus oder als Entwicklungsdysphasie bezeichnet.

2 Bei der vorwiegend in medizinischen oder medizinnahen Untersuchungen (z.B. Amon, Beck, Castell, Mall & Wilkes, 1993) verwendeten Bezeichnung „umschriebene Entwicklungsstörung der Sprache" (zur Definition der „umschriebenen Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache" siehe die Internationale Klassifikation psychischer Störungen ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation; Dilling, Mombour & Schmidt, 1991) ist das Kriterium der durchschnittlichen Intelligenz allerdings weiter gefaßt: Alle Kinder im Bereich von zwei Standardabweichungen unter dem Mittel (IQ < 70) sind definitionsgemäß eingeschlossen.pfeil

3 Von Schüler wurde diese Skala 1978 auf vier Schweregrade des Agrammatismus erweitert: Agrammatismus (a) schwersten Grades, (b) schweren Grades, (c) mittleren Grades und (d) leichten Grades. Diese Einteilung wird auch in heutiger Zeit zur Kategorisierung benutzt (siehe dazu Becker, Dietze, Döbbeling, Gerisch, Matthes, Schicke, Schmidt, Schuster, Wellmitz & Zschocke, 1991; Kaschade, Männche & Weber, 1996).pf

4 Für die diversen informellen Verfahren, die im Rahmen der diagnostischen Urteilsbildung eingesetzt werden, liegen in der Regel keine Erkenntnisse über die Güte dieser Verfahren vor. Wie jedes Meßinstrument, so müssen aber auch alle diagnostischen Methoden - seien es Beobachtungsverfahren wie beispielsweise Spontanspracherhebungen oder Elizitationstechniken wie beispielsweise Tests - bestimmten Gütekriterien genügen, will man nicht den Boden einer intersubjektiv überprüfbaren Diagnose verlassen. „Solange Diagnostik ein rationales Verfahren mit möglichst geringer Willkür sein soll, solange ist die intersubjektive Kontrolle von Diagnosen unverzichtbar" (Langfeldt, 1988, S. 73).p

5 Kürzlich wurde ein neues Sprachentwicklungsdiagnostikum publiziert: der „Kindersprachtest für das Vorschulalter" (KISTE; Häuser, Kasielke & Scheidereiter, 1994). Die Probleme der bisherigen Tests werden nach unserer Auffassung auch mit diesem Verfahren nicht überwunden.p

6 In einer ersten „Pilotbefragung" haben wir u.a. die Ausbildungsstätten für Logopädie bzw. die angeschlossenen Ambulanzen nach den dort eingesetzten diagnostischen Instrumenten und Verfahren befragt (die meisten dieser Befragungen wurden von Angelika Pauli und Sita Vellguth durchgeführt). Übereinstimmend war festzustellen, daß kein einheitliches Vorgehen existiert und lediglich informelle Verfahren, die von Institution zu Institution variieren, angewendet werden.p

7 Gemeint sind in der Regel die drei Sprachentwicklungstests H-S-E-T (Heidelberger Sprachentwicklungstest, Grimm & Schöler, 1978), PET (Psycholinguistischer Entwicklungstest, Angermaier, 1974) und LSV (Landauer Sprachentwicklungstest für Vorschulkinder, Götte, 1976).p

8 Nicht unerwähnt bleiben sollte aber, daß die genannten Sprachentwicklungstests durchaus in bestimmten Bereichen differentielle Validität aufweisen. So konnte beispielsweise der H-S-E-T zwischen dyslalischen und spezifisch sprachentwicklungsgestörten Kindern diskriminieren (Schöler & Moerschel, 1983).p

9 Interessant bleibt hier anzumerken, daß einer der Protagonisten für die Spontansprachanalysen im deutschsprachigen Raum, Harald Clahsen, in seinen Forschungen seit geraumer Zeit vermehrt auf Elizitationstechniken zurückgreift bzw. solche entwickelt (z.B. Weyerts & Clahsen, 1993).p

10 Unter "Indikator" subsumieren wir sowohl quantifizierte Leistungsindikatoren als auch qualitative biographische und anamnestische Daten.p

11 Unser Dank gilt Angelika Pauli und Sita Vellguth, die aus beruflichen und zeitökonomischen Gründen nicht weiter an der Arbeitsgruppe teilnehmen konnten.p

12 Für die Mithilfe bei der Erstellung des Adressenverteilers, dem Versand der Fragebögen, der Kodierung der Antworten und der Eingabe der Daten bedanken wir uns bei Stefan Braun, Waldemar Fromm und Christina Scherer.p

13 Aus Vereinfachungsgründen wählen wir im Text die männlichen Formen, in den Tabellen die weiblichen Formen der Berufsbezeichnungen.p

14 1994 gab es 933.719 Erstklässler (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, 1995a). Die Zahl der Schüler an Schulen für Sprachbehinderte betrug 31.247 (1993: 29.972; Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, 1995b) in 295 Einrichtungen für Sprachbehinderte (1993: 266 Einrichtungen). Die Sonderschulbesuchsquote für Sprachbehinderte liegt bei 0,348% 1994 (1993: 0,341%) im Vergleich zu der Gesamtzahl der "Schüler im Alter der Vollzeitschulpflicht". Die Zahlen des BMBF differieren von den Zahlen der KMK (siehe Tabelle A5, S. 34).p

15 Diese Zahlen sind für die Diskussion um die Frage interessant, ob die Spezifische Sprachentwicklungsstörung eine rein sprachspezifische Störung ist (siehe u.a. Schöler, 1993).p

16 Ein spezieller "Agrammatismus-Test" ist uns nicht bekannt. Gemeint ist vermutlich mit den Kennzeichnungen "Agrammatikertest nach Dr. Schüler", "Agrammatismustest nach Remmler", "Kienitz/Remmler-Test" und "Remmler Nachsprechprobe" jeweils das von Schüler (1978; 1975 erstmals unter ihrem Mädchennamen Remmler als Dissertation erschienen) entwickelte Material.p

17 Siehe aber auch Sixtl (1968), der aufweist, daß "die klassische Testtheorie ein `weiches' Modell (ist), mit dem man immer einen Test konstruieren kann" (1968, S. 207).p

18 Bei Chomsky war die Argumentation etwas anders: Da die damals vorhandenen Lerntheorien (Skinner, 1957) den Spracherwerb nicht umfassend erklären konnten, können Lerntheorien überhaupt nichts zur Erklärung beitragen, Sprachentwicklung ist kein Vorgang, der etwas mit Lernen zu tun hat (vgl. Piatelli-Palmarini, 1979). Zwischenzeitlich ist wieder unbestritten, daß der Nachahmung eine bedeutende Rolle bei der Sprachentwicklung zukommt (z.B. Speidel & Nelson, 1989) und daß es sinnvoll ist, von unterschiedlichen Lernprozessen im Kontext der Sprachentwicklung auszugehen.p

19 "Die Merkmale, die aus den Akten erhoben werden konnten, waren nicht sehr einheitlich, so daß man sie nicht präzise genug zusammenfassen konnte und die Menge der Angaben, die zur Verfügung standen, war letztendlich nicht groß genug, weil ein erheblicher Teil wegen ungenauer Angaben in den Unterlagen immer herausfiel. Die Unterlagen zu den Kindern waren immer aufzufinden, die Angaben allerdings unvollständig. Darüber hinaus erschwerte die Unschärfe der Therapeutenaussagen eine eindeutige Definition des Sprachstatus bei der Auswertung der erfaßten Daten" (Kaschade, Männche & Weber, 1996, S. 8).p