Arbeitsberichte aus dem Forschungsprojekt "Differentialdiagnostik"
Nachsprechen
Sein Stellenwert bei der Diagnostik von Sprachentwicklungsstörungen*
Hermann Schöler, Waldemar Fromm, Karin Schakib-Ekbatan und Birgit Spohn
Bericht Nr. 2
April 1997
Pädagogische Hochschule Heidelberg Fakultät I
Keplerstr. 87, D - 69120 Heidelberg
Tel. (06221) 477-426 [-427/-428]
Email: K40@POPIX.URZ.Uni-Heidelberg.DE
ISSN 1433-7193
*Für die finanzielle Unterstützung unserer Forschungsarbeiten danken
wir der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG-Az.: SCHO 11/3-3) und der Pädagogischen
Hochschule Heidelberg.
1.1 Zum Nachsprechen von Sätzen
1.1.1 Nachsprechen von Sätzen: eine Methode
zur Prüfung sprachlichen Wissens?
1.1.2 Nachsprechen von Sätzen: ein Differentialdiagnostikum?
2.1 Zur Stichprobenbeschreibung
2.1.1 Die Untersuchungsgruppe
2.1.2 Die Vergleichsgruppen
2.2 Die Aufgabe „Nachsprechen von Sätzen"
2.3 Zur Durchführung der Untersuchungen
2.4 Zur Bewertung und Kodierung der Nachsprech-Leistungen
3.1 Zur Güte der Aufgabe „Nachsprechen von Sätzen"
3.1.1 Zur Reliabilität
3.1.2 Zur Stabilität und Prognose
3.2 Veränderungen der Nachsprech-Leistungen der sprachauffälligen Kinder mit zunehmendem Alter und ein Leistungsvergleich mit sprachunauffälligen Kindern
3.3 Zur differentiellen Validität der Aufgabe: Einzelfallbeschreibungen
3.3.1 Michael
3.3.2 Andreas
3.3.3 Florian
3.3.4 Tobias
Es wird über eine Studie zur (differential-)diagnostischen Relevanz der Aufgabenstellung „Nachsprechen von Sätzen" bei Sprachentwicklungsstörungen berichtet.
Untersucht werden sollte, ob eine aus zwölf sinnvollen Sätzen und vier Sätzen mit Kunstwörtern bestehende Nachsprechaufgabe (a) erwartungskonform zwischen sprachunauffälligen und sprachentwicklungsgestörten Kindern differenzieren kann und (b) Indikatorfunktion in Hinblick auf die Unterscheidung von Subgruppen spezifisch sprachentwicklungsgestörter Kinder besitzt.
Hierzu wurde die Entwicklung der Nachsprech-Leistungen bei einer Gruppe von neun zum ersten Untersuchungszeitpunkt zwischen sechs und acht Jahre alten spezifisch sprachentwicklungsgestörten Kindern über einen Zeitraum von zehn Jahren - auf Individual- und auf Gruppenebene - betrachtet und ein Leistungsvergleich mit Gruppen von hinsichtlich Alter und Geschlecht vergleichbaren sprachunauffälligen Kindern bzw. Jugendlichen vorgenommen. Im Anschluß daran erfolgten Einzelfallanalysen, mit deren Hilfe Hinweise auf die differentielle Validität der Nachsprechaufgabe erhalten werden sollten.
Die Reliabilität der eingesetzten Nachsprechaufgabe sowie die Schwierigkeit und die Trennschärfe der einzelnen Sätze, die ebenfalls überprüft wurden, erwiesen sich als sehr zufriedenstellend.
Die Ergebnisse der Studie zeigen auf, daß die sehr zeitökonomische Nachsprechaufgabe ein reliables und valides Meßinstrument für die Sprachentwicklungsdiagnostik darstellt, mit dessen Hilfe spezifisch sprachentwicklungsgestörte Kinder sehr trennscharf von sprachunauffälligen differenziert werden können.
Darüber hinaus liefert die Aufgabe auch deutliche Hinweise für eine weitere Differenzierung der Gruppe der spezifisch sprachentwicklungsgestörten Kinder im Sinne einer Unterscheidung von Subgruppen. Diese Differenzierung erfordert jedoch ergänzend zu einer quantitativen Richtig-Falsch-Bewertung eine qualitative Detailanalyse der Satzreproduktionen bzw. -rekonstruktionen.
The study deals with the relevance of sentence repetition tasks to the diagnosis and differential diagnosis of developmental language disorders.
We intended to investigate whether a sentence repetition task consisting of sixteen sentences, four of them containing nonsense words, can differentiate between specific language impaired (SLI) and nonimpaired (NI) children, and whether it is valuable in differentiating subgroups of SLI children.
Therefore, nine SLI children aged from six to eight years at the beginning of the study were studied in a ten years follow-up. The performance of the group as a whole and of each child was analysed and the results of the SLI children were compared with those of several groups of NI children/adolescents matched for age and sex. Afterwards, case studies were conducted to assess the differential validity of the task.
The reliability of the task, the difficulty and the discrimination value of each of the sixteen sentences proved to be satisfactory.
Our results indicate that the sentence repetition task used is a reliable and valid assessment tool that can differentiate between SLI and NI children.
Furthermore, it is valuable in differentiating subgroups of SLI children. The second differentiation requires a qualitative analysis of the reproductions/reconstructions made.
Der mangelhafte Stand der Diagnostik und Differentialdiagnostik1 im Bereich der Sprachentwicklungsstörungen ist unbestritten (zu einer Befragung über den aktuellen Stand der Diagnostik in Deutschland siehe Schöler, Häring & Schakib-Ekbatan, 1996; siehe auch Kaschade, Männche & Weber, 1996). Beklagt wird des öfteren, daß für verschiedene Sprachleistungsbereiche keine oder nur ungenügend standardisierte Verfahren zur Verfügung stehen bzw. die auf dem Markt befindlichen Sprachentwicklungsdiagnostika sich nicht als differenziert genug für die erforderliche Diagnose erweisen (vgl. u.a. die rezente Arbeit von v. Suchodoletz & Höfler, 1996). Dies gilt im übrigen nicht nur für deutschsprachige Länder, sondern diese Diagnose der Diagnostik der Sprachentwicklungsstörungen gilt weltweit (u.a. Huang, Hopkins & Nippold, 1997). Von Zeit zu Zeit werden zwar neue Wege der Diagnostik aufgetan (so z.B. Clahsen, 1986; Heidtmann, 1990), diese Wege stellen sich aber allzu oft nur als Neben- oder Umwege, wenn nicht sogar als Sackgassen (so bestimmt Heidtmann, 1990; zur Kritik siehe u.a. Rothweiler, Pitsch & Siegmüller, 1995) heraus. Als Beispiel sei die auf Spontansprachdaten operierende linguistische Profilanalyse (im deutschsprachigen Raum eingeführt durch Clahsen, 1986) genannt, die oft als der einzige Weg zur Diagnose der sprachlichen Fähigkeiten eines Kindes propagiert wurde und wird (z.B. Hansen, 1996, S. 78ff.). Neben theoretischen und methodischen Problemen (z.B. die Definition und Selektion von sprachlichen Einheiten, die Postulierung von Entwicklungssequenzen auf dem Hintergrund unzureichender Daten) birgt dieses Verfahren eine Reihe von Schwierigkeiten bei der Anwendung, wie sie Motsch kürzlich zutreffend formulierte: „So ist die Einarbeitung in die Profilanalyse nicht einfach. Abschreckend wirkt auch der erforderliche Zeitaufwand zur Durchführung, Verschriftung und Auswertung ggf. mehrerer Spontansprachproben. Entmutigend ist dann die Feststellung, dass nach Durchlaufen dieses zeitlich unökonomischen Verfahrens einerseits nicht alle erhaltenen Informationen förderrelevant sind und andererseits selbst in repräsentativen Sprachkorpora aufgrund ihres kontextuellen Zufälligkeitscharakters förderrelevante Informationen fehlen" (persönliche Mitteilung 1997). Wir möchten aber unbedingt betonen, daß wir die beiden Verfahren "Spontanspracherhebung und -analyse" und "Nachsprechen von Sätzen" als komplementäre Zugangsweisen bewerten. Die Verfahren sollten daher nicht nach dem `Entweder-Oder-Prinzip' diskutiert werden. Wie wir im folgenden näher ausführen, halten wir aber, was differentialdiagnostische Fragestellungen angeht, den Einsatz der Aufgabe „Nachsprechen von Sätzen" zum Auffinden der sprachlich-strukturellen Defizite für geeigneter und zeitökonomischer. Im weiteren Verlauf der diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen erhält die Spontansprachanalyse durch das Erkennen von Kompensationsmöglichkeiten ihren besonderen Stellenwert. Sie erlaubt, die Sprechhandlungsmöglichkeiten bzw. kommunikativen Kompetenzen des Kindes zu erfassen.
Die Erwartung bzw. der Anspruch, reliabel und valide sowie zeitökonomisch mit einem einzigen Test ausreichend in Hinblick auf verschiedene Sprachentwicklungsstörungen differenzieren zu können, ist nach unserer Auffassung falsch gesetzt. Wenn auch noch keine Ursachen(er)klärungen für die spezifischen Sprachentwicklungsstörungen2 vorliegen, so kann doch aufgrund der Befundlage davon ausgegangen werden, daß eine Reihe von ätiologischen Faktoren eine Rolle spielt und verschiedene Bedingungsgefüge anzunehmen sind.3 Muß dementsprechend von einer Heterogenität und nicht von einer Homogenität der Störung und ihrem zugrundeliegenden Bedingungsgefüge ausgegangen werden, so bedeutet dies nicht nur für die Diagnostik, daß man Subgruppen zu differenzieren hat, sondern auch für die Intervention müssen jeweils unterschiedliche Ansätze entwickelt werden. Dies hat Liebmann bereits 1901 formuliert: „Was nun die Therapie des Agrammatismus betrifft, so ist sie je nach dem Grade verschieden. Bei den Agrammatikern des ersten und zweiten Grades4 ist es nöthig, im einzelnen Falle durch detaillirte Untersuchung genau die Art und den Grad der centralen Defecte festzustellen und den Kindern durch geeignete Demonstrationen in natura oder in effigie die fehlenden Begriffe beizubringen" (S. 252). Der alleinige Nachvollzug des „normalen" Erwerbsprozesses, wie dies in der Therapie oft angestrebt wird (vgl. u.a. Dannenbauer, 1992)5, würde dann nur für diejenige Subgruppe von Kindern angemessen sein, bei denen lediglich zeitlicheVerzögerungen6 im Entwicklungsverlauf zu beobachten sind.
Vor diesem Hintergund der Heterogenität und den multifaktoriellen Bedingungsgefügen erscheint es uns nahezu unmöglich, mittels eines Tests zu den erforderlichen differentialdiagnostischen Urteilen zu kommen, sondern wir gehen davon aus, daß im Rahmen der Diagnostik und Differentialdiagnostik eine Reihe von Datenquellen7 genutzt werden muß, um zu Subgruppen beschreibenden und differenzierenden Konfigurationen von Daten zu gelangen. Solche Daten-Konfigurationen zur Beschreibung von Subgruppen sprachentwicklungsgestörter Kinder versuchen wir zur Zeit aufzufinden und zu validieren.8
Im Rahmen dieser Zielsetzung bleibt es nach wie vor erforderlich, daß die einzelnen Datenquellen, die in eine solche Konfiguration einbezogen werden, reliabel und valide sind. Im folgenden möchten wir eine dieser Datenquellen, nämlich die Aufgabe „Nachsprechen von Sätzen" detaillierter beschreiben, die Ergebnisse eines zehnjährigen Längsschnittes, bei dem diese Aufgabe vorgegeben wurde, darstellen und begründen, warum wir diese Aufgabe innerhalb eines umfangreicheren „Aufgaben-Sets" für außerordentlich valide im Hinblick auf Diagnostik und Differentialdiagnostik von Sprachentwicklungsstörungen halten.
Das unmittelbare Wiederholen von akustisch vorgegebenen Sätzen ist einerseits integraler Bestandteil vieler sprachdiagnostischer Verfahren (z.B. Dysgrammatiker-Prüfmaterial, Frank & Grziwotz, 1978; H-S-E-T, Grimm & Schöler, 1978), andererseits werden immer wieder große Vorbehalte gegen diese Methode vorgebracht. Unbestreitbar bleibt auf jeden Fall die Beobachtung, daß sprachentwicklungsgestörte Kinder bedeutsam größere Schwierigkeiten beim Nachsprechen von Sätzen zeigen als sprachunauffällige Kinder. Und dieser empirische Befund ist nicht trivial, sondern erklärungsbedürftig.
Wir möchten im folgenden die Aufgabe „Nachsprechen von Sätzen" unter zwei Gesichtspunkten, die allerdings nur analytisch zu trennen sind, betrachten: (1) unter methodologischem Aspekt (als Methode zur Prüfung sprachlichen Wissens) und (2) unter diagnostischer bzw. differentialdiagnostischer Perspektive.
1.1.1 Nachsprechen von Sätzen: eine Methode zur Prüfung sprachlichen Wissens?
Neben prinzipiellen Diagnostik-Gegnern9, die Diagnostik als inhuman kennzeichnen und die grundsätzlich Menschen für nicht „meßbar", sondern nur für „ganzheitlich" erfaßbar und beurteilbar halten (siehe z.B. Fornefeld, wenn sie vom Menschen als „Subjekt in seiner Unverfügbarkeit" schreibt, 1995, S. 39, oder auch Rodenwaldt, 199010), führen Gegner dieser speziellen diagnostischen Methode u.a. an, daß das Nachsprechen von Sätzen eine „unnatürliche" Aufgabenstellung sei und mit solchen Verfahren nichts über die (spontan)sprachlichen Möglichkeiten der Kinder ausgesagt werden könne (Füssenich & Heidtmann, 1985)11. Einmal abgesehen davon, daß man sich über die „Natürlichkeit" (bzw. deren Relevanz als Beurteilungskriterium für diagnostische Verfahren) trefflich streiten könnte (zur Argumentation gegen diese Unnatürlichkeits-Kritik siehe u.a. Grimm & Schöler, 1985, S. 40; Günther, 1985, S. 54ff.), soll mit dem Nachsprechen auch nichts über die Spontansprache ausgesagt werden, sondern mittels dieser Methode will man etwas über das Verstehen sprachlicher Strukturen und die Rekonstruktionsmöglichkeiten der verstandenen Aussage erfahren.12
Nachsprechaufgaben bieten, so die Fürsprecher (u.a. Berry-Luterman & Bar, 1971; Bloom & Lahey, 1978; Grimm & Schöler, 1985; Günther, 1985; Menyuk, 1963, 1964; Meßing, Günther & Kegel, 1980; Slobin & Welsh, 1973; Smith, 1970), Möglichkeiten, Erkenntnisse über sprachliches Wissen und Spracherzeugungsprozesse zu gewinnen. Kinder können demnach solche Strukturen nicht nachsprechen, über die sie sozusagen keine kognitive Kontrolle haben (Kuczaj & Maratsos, 1975). Beim Nachsprechen eines vorgegebenen Satzes, der nicht papageienhaft imitiert werden kann, weil seine Länge über der unmittelbaren Gedächtnisspanne liegt, muß der Satz verstanden und auf der Grundlage des gegebenen sprachlich-strukturellen Wissens rekonstruiert werden. „In imitation, one ordinarily decodes a sentence, retains it as a meaning, and then encodes it for production" (Fraser, Bellugi & Brown, 1963, p.133).13 Eine Analyse der Reproduktion oder Rekonstruktion sollte daher Rückschlüsse auf die aktuellen Sprachverarbeitungsprozesse und das zugrundeliegende sprachliche Wissen zulassen. Wir gehen daher, wie u.a. auch Kuczaj und Maratsos (1975; siehe auch Günther, 1985), davon aus, daß ein Kind beim Nachsprechen von Sätzen nur solche grammatischen Strukturen reproduzieren kann, die es bereits beherrscht. Ein vorgesprochener Satz muß mit Hilfe des vorhandenen sprachlichen Wissens rekonstruiert werden (siehe dazu auch Lombardi & Potter, 1992).
Die Nachsprechleistungen sollten strukturell - zumindest
theoretisch - mit den spontansprachlichen Äußerungen des Kindes in Beziehung
stehen. Die empirischen Befunde dazu sind allerdings widersprüchlich: So sind
beispielsweise bei den Vorschulkindern in der Untersuchung von Connell und
Myles-Zitzer (1982) die Nachsprechleistungen besser als die
Spontansprachproduktionen (siehe auch Weber-Olson, Putnam-Sims & Gannon,
1983); bei der Untersuchung von Menyuk (1963) hingegen zeigt sich das Gegenteil.
Andere Untersuchungen erbringen inkonsistente Ergebnisse (z.B. Fujiki &
Brinton, 1987; eine Diskussion hierzu findet sich auch in Schöler, Illichmann,
Kany & Seeger, 1988; für einen Überblick siehe auch Prutting &
Connolly, 1976). „Die Leistung bei Nachsprechaufgaben und ihre Beziehung zur
Spontansprache scheinen demnach von einer Fülle von Faktoren beeinflußt zu
werden, beispielsweise durch Merkmale des Modellsatzes und seiner Darbietung
sowie durch individuelle Eigenschaften des untersuchten Kindes" (Kratzer
& Schöler, 1992, S. 1f.).
Die (positive) Beantwortung dieser Frage gelingt recht überzeugend vor dem Hintergrund empirischer Befunde (u.a. Babiæ, 1995; Grimm, 1984; Günther, 1981; Hay, 1985; Kegel, 1981; Menyuk, 1964), die zeigen, daß die Nachsprechleistungen der sprachauffälligen Kinder sowohl quantitativ als auch qualitativ stark von denen sprachunauffälliger Kinder abweichen (siehe schon Liebmann, 1901). So kommen auch Sturner, Kunze, Funk und Green (1993) zu dem Ergebnis, daß Nachsprechaufgaben in Hinblick auf das Abfragen von sprachlichen Fähigkeiten und Defiziten ein effektives Verfahren sind, um Sprech- und Sprachprobleme differenzieren und vorhersagen zu können.
Ein wesentlicher Nutzen in der Verwendung von Nachsprechaufgaben liegt darin, daß hier die Produktion bzw. Reproduktion spezieller sprachlicher Strukturen gezielt erfaßt werden kann. In das vorgegebene sprachliche Material können - und dies scheint uns ein wichtiges Kriterium in Hinblick auf eine Differentialdiagnostik zu sein - auch solche Strukturen einbezogen werden, die in der Spontansprache selten auftreten oder fehlen. In einer früheren Studie hatten wir festgestellt, daß Nachsprechaufgaben gut dazu geeignet sind, Produktion (bzw. Rekonstruktion) bestimmter interessierender sprachlicher Strukturen gezielt zu provozieren (Kratzer & Schöler, 1992, S. 2). Im Gegensatz zu Spontansprachanalysen, bei denen sprachentwicklungsgestörte Kinder „möglichst auf sprachliche Konstruktionen zurückgreifen, die ihnen geläufig sind (notfalls auch zu Lasten des Inhalts), so daß möglichst wenig Fehler entstehen" (Meßing, 1981, S.10), ermöglicht die Reproduktion bzw. Rekonstruktion vorgesprochener Sätze einen Überblick über den Umfang der sprachlichen Fertigkeiten. Hinsichtlich der Zielsprache, die das Kind erlernen soll, ermöglichen Nachsprechaufgaben sowohl die sprachlichen Fertigkeiten als auch die in den Spontansprachstichproben z.T. verborgen gebliebenen problematischen sprachlichen Strukturen zu erfassen.14
Im Gegensatz zu alltäglichen Kommunikationssituationen, in denen zusätzliche paraverbale, situationale Informationen das Verstehen von Äußerungen weitgehend sicherstellenkönnen (Herrmann, 1985), ist für das Verstehen der Sätze beim Nachsprechen die Beachtung grammatischer Markierungen unbedingt erforderlich. Da sprachentwicklungsgestörte Kinder vorrangig im morphosyntaktischen Bereich Defizite zeigen, sind in den Nachsprechleistungen entsprechende Auffälligkeiten zu erwarten. Dies bestätigen auch unsere bisherigen Untersuchungen (Kratzer & Schöler, 1992; Schöler, Illichmann, Kany & Seeger, 1988). In der quantitativen Analyse der erhobenen Daten zeigt sich sowohl ein Gruppen- als auch ein Alterseffekt, d.h. die Leistungen der sprachauffälligen Kinder steigen mit zunehmendem Alter an, erreichen jedoch nie die Reproduktionsleistung der sprachunauffälligen Kinder. Zwar nehmen die syntaktischen Fehler nach der zweiten Klassenstufe ab, doch persistieren Defizite im morphologischen Bereich. Unterschiede zwischen sprachentwicklungsgestörten und sprachunauffälligen Kindern bestehen aber auch, wenn von beiden Gruppen (einfache) Sätze korrekt nachgesprochen werden können: Die Kinder unterscheiden sich dann immer noch bei der Zeitstruktur (Dames, 1986), sie brauchen länger, um einen Satz nachzusprechen, und verfügen offenbar nicht über einen feststehenden zeitlichen Ablauf beim Nachsprechen.
Weiner (1969) stellt fest, daß die Aufgabe „Nachsprechen von Sätzen" eindeutig zwischen sprachauffälligen und sprachunauffälligen Kindern trennt. Wir wollen im folgenden Weiners Beschreibung der Fehler beim Nachsprechen ausführlicher zitieren, weil diese Beschreibung auch für die Fehler deutschsprachiger Kinder gilt:
Despite the small number of transformations in the sentences, grammatical structure proved to be of importance in the repetitions made by the experimental subjects. Seven made errors involving morphology or syntax, types of errors made by only two of the control group children. The most frequently occurring error (made by five of the experimental subjects) was the substitution of a present tense form for an irregular past tense verb, e.g., „take" for „took". The children were not necessarily consistent. The same children who repeatedly made this particular substitution (even when pressed to change on a third and fourth presentation) usually did not use „buy" for „bought". The omission of the infinitival „to" and the substitution of „me" for "I" were the grammatical errors made by two other experimental subjects.
Two of the control group children made verb form errors, but not on the same verbs as did the experimental subjects („bring" and „brang" for „brought" - both by the same child - and „come" for „came".) The errors were made during the repetition of much longer and more complex sentences than those failed by the experimental group children.
Quite evidently it was not only a less adequate „auditory-vocal system" which was involved in the experimentals' difficulties in repeating sentences. Their mastery of linguistic rules also seemed to be defective and to influence their performance on this task. (Weiner, 1969, p. 448f.)
Auch im deutschsprachigen Bereich tauchen beim Nachsprechen von Sätzen vorrangig Flexionsfehler auf, und zwar insbesondere in Präpositionalphrasen (Günther, 1981; Hay, 1985; Kegel, 1981), bei Artikeln, Verben und Auxiliaren. Solche Fehler finden sich ebenfalls im Kroatischen (Babiƒ, 1995).
Unterschiede zwischen sprachauffälligen und sprachunauffälligen Kindern zeigen sich auch in der Strategie bei der Reproduktion bzw. Rekonstruktion eines Satzes: Sprachunauffällige Kinder, die die Satzaussagen verstanden haben, (re-)produzieren u.U. zwar nicht die geforderte, jedoch eine korrekte Satzstruktur, während sprachauffällige Kinder mangels sprachlich-strukturellen Wissens sich eher an der Lautfolge des vorgegebenen Satzes orientieren (Kratzer & Schöler, 1992). Dies hat zur Folge, daß eine große Zahl von Auslassungen, starke Abweichungen vom Inhalt des vorgesprochenen Satzes und Flexionsfehler auftreten (ausgezeichnete Beschreibungen dazu liefert bereits Liebmann, 1901). Im Gegensatz zu den sprachunauffälligen Kindern profitieren die sprachentwicklungsgestörten auch nicht von einer semantischen Nachsprech-Strategie. Auch Wörter oder Phrasen, die den sprachentwicklungsgestörten Kindern bekannt sein dürften, werden nicht isoliert und in eine sinnvolle oder fehlerlose Satzstruktur eingebettet.
Gleichzeitig zur Möglichkeit, Informationen über den Stand des sprachlich-strukturellen Wissens zu gewinnen, können mit der Aufgabe des Nachsprechens von Sätzen auch Beeinträchtigungen im auditorischen Bereich sowie kognitive und expressive Defizite erfaßt werden (vgl. z.B. Marcell, Ridgeway, Sewell & Whelan, 1995).15 An anderer Stelle (Fromm & Schöler, 1997) haben wir ausgeführt, in welcher Weise sich eine auditive Verarbeitungsstörung auf das „Nachsprechen von Sätzen" auswirken kann. Dabei unterscheiden wir zumindest zwei Quellen einer Störung der auditiven Informationsverarbeitung: (a) eine strukturelle Störung in Form einer zu geringen Kapazität und (b) eine prozessuale Störung z.B. in Form einer Zeitverarbeitungsstörung, die u.a. Auswirkungen auf die Diskriminationsleistungen haben muß. Beide Störungsquellen müssen zu Schwierigkeiten bei der Abstraktion (Bildung von Generalisierungen) führen und können damit nachfolgend auch die für die aktuelle Sprachverarbeitung notwendige Automatisierung von Prozeduren beeinträchtigen. Solche Defizite könnten dazu führen, daß diejenigen spezifisch sprachentwicklungsgestörten Kinder, bei denen wir eine auditive Verarbeitungsstörung als bedingend postulieren, nicht genügend Informationen aus dem sprachlichen Input enkodieren können, um zu einem ähnlichen sprachlichen Können zu gelangen wie sprachunauffällige Kinder (für eine ausführliche Diskussion dazu siehe Fromm & Schöler, 1997). In mehreren Untersuchungen ist der enge Zusammenhang zwischen auditivem System und Sprachstörung untersucht worden. Nach Bliss und Peterson (1975) wirken sich die grammatische Komplexität und die Satzlänge auf die Gedächtnisspanne von aphasischen Kindern aus. Bei Rosenblum und Dorman (1978) ergab ein Vergleich zwischen 20 sprachbegabten und 20 sprachauffälligen Kindergartenkindern, daß die Fähigkeit, Sätze richtig nachzusprechen, im Zusammenhang steht mit einer abweichenden akustischen Verarbeitung von sprachlichen Informationen und einem geringeren Stand kognitiver Aktivitäten. Die Autoren vertreten im übrigen die Auffassung, daß eine mangelnde Dominanz einer Hirnhemisphäre (mit)-bedingend für die Sprachentwicklungsstörung sei (siehe dazu auch Locke, 1994).
Neben semantisch sinnvollen Sätzen halten wir auch den Einsatz von Sätzen mit Kunstwörtern16 für geeignet, um defizitäres sprachliches Wissen zu erfassen und zugleich Aufschlüsse über defizitäre Informationsverarbeitungen zu erhalten. Die Rekonstruktion von Sätzen mit Kunstwörtern erfordert ausschließlich grammatisches Wissen. In unseren bisherigen Untersuchungen hatten wir zur Prüfung des sprachlich-strukturellen Wissens Sätze mit Kunstwörtern vorgegeben, deren (Re-)konstruktion allein durch die Beachtung der grammatischen Markierungen möglich ist. Die Ergebnisse zeigten, daß die (Re-)Produktionsleistungen der sprachauffälligen Kinder auch in dieser Aufgabe geringer waren.
Das Nachsprechen von sinnvollen Sätzen überprüft zugleich die Speicher- und die Verarbeitungskapazität. Das Nachsprechen von Sätzen mit Kunstwörtern in der vorliegenden Version (siehe Tabelle 3) überprüft eher die Verarbeitungskapazität, da die Satzlänge nicht mehr als sechs Wörter beträgt. Beim Nachsprechen sinnvoller Sätze können Kinder sowohl auf morpho-syntaktische als auch auf semantische Merkmale des Vorgabesatzes zurückgreifen. Bei Sätzen mit Kunstwörtern sind sie allein auf die Nutzung morpho-syntaktischer Merkmale der Vorgabesätze angewiesen. Im Fall der sinnvollen Sätze können Gruppierungen prosodisch, semantisch und/oder syntaktisch vorgenommen werden, im Fall von Sätzen mit Kunstwörtern allein prosodisch und/oder syntaktisch. Durch den Verzicht auf die Semantik bei Kunstwörtern wird das sprachlich-strukturelle Wissen der Kinder überprüft, womit Hinweise auf die Verarbeitungskapazität in Hinsicht auf formale Kriterien der Gruppierungsleistung gewonnen werden können. Mit den Ergebnissen Kegels (1991) ließe sich ergänzen, daß für das Nachsprechen nicht nur von (Kunst-)Wörtern, sondern von ganzen Sätzen diese Probleme zusätzlich mit einem Defizit bei der Zeitverarbeitung erklärt werden können. Es ist davon auszugehen, daß eine wenig synchronisierte Verarbeitung der gehörten Sätze sich insbesondere auf der morphologischen Ebene auswirkt (vgl. Schöler, 1994).
Beide Aufgaben - „Nachsprechen von sinnvollen Sätzen" wie auch „Nachsprechen von Sätzen mit Kunstwörtern" - können nicht nur für das einzelne Kind einen Überblick über die defizitären sprachlichen Bereiche geben, unsere ersten Auswertungen (Schöler & Fromm, 1995, S. 15f.) lassen vermuten, daß sie auch zur Diskrimination bzw. Identifikation von Subgruppen eingesetzt werden können. Sicher ist heute, daß unter der Bezeichnung der Spezifischen Sprachentwicklungsstörung eine heterogene Gruppe von Kindern zusammengefaßt wird; unterschiedliche ätiologische Faktoren können demnach zu einem ähnlichen Erscheinungsbild führen.
Als Fazit können wir festhalten: „Nachsprechen von Sätzen" ist eine Aufgabe, mit der mehrere Einflußvariablen auf das Verstehen und die Rekonstruktion von vorgesprochenen Sätzen wie auditorisches System, sprachlich-strukturelles Wissen bzw. sprachliche Fertigkeiten geprüft werden können.17 Im Zusammenhang mit weiteren sprachlichen und nicht-sprachlichen Aufgaben erleichtert das Nachsprechen die differentialdiagnostische Erfassung der spezifischen Sprachentwicklungsstörung. Da bei der Aufgabe auch Variablen die Rekonstruktion von Sätzen beeinflussen, die nicht ausdrücklich nur den sprachlich-strukturellen/linguistischen Bereich betreffen (z.B. Wahrnehmungs- oder Aufmerksamkeitsprobleme im auditorischen System, vgl. Fujiki & Brinton, 1987), sollten die Ergebnisse in eine Differentialdiagnostik eingebunden und auf weitere Leistungsbereiche bezogen werden. Nach unserem Dafürhalten kann das „Nachsprechen von Sätzen" besonders zum Erkennen sprachlich-strukturellen Wissens beitragen: Gerade die relative Kontextfreiheit der Aufgabe (weitgehender Wegfall der kommunikativen, situativ-pragmatischen Aspekte) ermöglicht am ehesten die Untersuchung dieses sprachlich-strukturellen Wissens.18
Für die Handhabung im diagnostischen Vorgehen ist jedoch besonders wichtig, daß Nachsprechaufgaben einheitlich, institutionsunabhängig und auch weitgehend situationsunabhängig eingesetzt werden. Sie sollten darüber hinaus möglichst umfassend sein und alle aus der Forschung bekannten relevanten sprachlichen Phänomene abfragen können. Im Vergleich mit Spontansprachanalysen ist hier der zeitliche Aufwand einschätzbar. Für den Vorschulbereich müssen allerdings noch adäquatere und vor allem standardisierte Satzvorgaben entwickelt werden.19 Die Aufgabe kann dann auch im therapeutischen Umfeld eingesetzt werden, um vor dem Hintergrund der differentialdiagnostischen Erfassung von sprachlichen Defiziten bessere therapeutische Alternativen zu formulieren (vgl. Dannenbauer, 1988).
Bisherige Untersuchungen zeigen, daß gezielt konstruierte Nachsprechaufgaben bessere Lerneffekte erzielen, als das Sprachlernen am Modell (Connell, 1987; Connell & Stone, 1992; kritisch diskutiert von Camarata, Nelson & Camarata, 1994).20
Die Aufgabe „Nachsprechen von Sätzen" überprüft gleichzeitig rezeptive und produktive Aspekte der Sprachverarbeitung. Sie ist einerseits wenig diskriminativ hinsichtlich einzelner an der Rezeption und Produktion beteiligten Strukturen und Prozesse, andererseits aber gerade wegen der umfassenden Überprüfung vieler an der Sprachrezeption und -produktion beteiligten Bereiche ein geeignetes Mittel, um einen (wenn auch nicht vollständigen) Überblick über die Leistungen einzelner Kinder zu erhalten.
In der vorliegenden Studie möchten wir nicht nur erneut prüfen, ob die Aufgabe „Nachsprechen von Sätzen" zwischen sprachunauffälligen und sprachentwicklungsgestörten Kindern differenzieren kann, sondern wir untersuchen darüber hinaus, ob sich die Nachsprechleistungen verschiedener Subgruppen spezifisch sprachentwicklungsgestörter Kinder ebenfalls unterscheiden lassen. Wir betrachten dazu die Entwicklung der Nachsprechleistungen bei neun Kindern bzw. Jugendlichen über einen Zeitraum von zehn Jahren. Diese Kinder waren bei einer Clusteranalyse vier verschiedenen Gruppen zugeordnet worden (siehe dazu Schöler & Fromm, 1995). Lassen sich in Abhängigkeit von diesen Subgruppen und dem möglichen unterschiedlichen Entwicklungsverlauf der Nachsprechleistungen qualitativ unterscheidbare Reproduktionen bzw. Rekonstruktionen beobachten und dementsprechend Indikatoren ableiten, die differentialdiagnostisch valide sind?
Vorbemerkung. Im Rahmen des „Heidelberger Dysgrammatismus"-Projektes21 wurden insgesamt 100 als dysgrammatisch sprechend diagnostizierte Kinder22 in sprachlichen und nicht-sprachlichen Leistungsbereichen längsschnittlich (Untersuchungszeiträume UII bis UV)23 untersucht. Einige der Kinder waren im Rahmen von Pilotuntersuchungen (UI; siehe dazu Schöler, 1985) bereits untersucht worden, so daß für diese Kinder ein vierjähriger Längsschnitt vorliegt.24 Für die vorliegende Studie sollten alle diejenigen Kinder ausgewählt werden, die bereits in UI teilgenommen hatten und bei UII im Grundschulbereich (2. - 4. Klasse) waren. Es verblieben insgesamt zehn Kinder (bzw. besser: Jugendliche), die 1994, also 10 Jahre nach ihrer Erstuntersuchung, erneut angesprochen und in ausgewählten Leistungsbereichen untersucht werden sollten. Für uns überraschend waren neun der zehn Jugendlichen bereit, an dieser - fünf Jahre nach der letzten Untersuchung (UV) stattfindenden - Studie (UVI; Schakib-Ekbatan, 1994) teilzunehmen.
In Tabelle 1 sind das Alter und Geschlecht der neun Jugendlichen angeführt, das Alter variiert zu UVI zwischen 15;11 und 17;3 Jahren; das Durchschnittsalter beträgt 16;5 Jahre bei einer Standardabweichung von 6 Monaten. Das Geschlechtsverhältnis entspricht mit 2:1 in etwa den Anteilen in der Gesamtstichprobe (69 Jungen, 31 Mädchen). Anamnestische Besonderheiten, Beobachtungen und Diagnosen sowie die aktuelle schulische bzw. berufliche Situation der Jugendlichen werden in Schakib-Ekbatan und Schöler (1995a, 1995b) näher beschrieben.
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In Tabelle 1 ist ebenfalls das Alter und der IQ zu UII angegeben. Das Alter variierte zu UII zwischen 9;3 und 10;10 Jahren, das Durchschnittsalter betrug 9;11 Jahre, der IQ lag mit 91,6 im Durchschnittsbereich, er variiert zwischen 78 und 109. Bei zwei Kindern lag demnach der IQ zu UII unterhalb des Durchschnittsbereiches. Wie aus Tabelle 1 zu ersehen, waren die Werte bei der Erstuntersuchung zu UI durchschnittlich, weshalb wir eine Selektion zu UII nicht mehr vorgenommen haben.25
Die Vergleichsgruppe 1 (VG1) wurde zum Untersuchungszeitpunkt UI erhoben und ist nach Alter, Geschlecht und Klassenstufe mit der Untersuchungsgruppe zu UI vergleichbar. Der um drei Monate leicht erhöhte Altersdurchschnitt von VG1 ist statistisch nicht bedeutsam (t = 1.21; p > .24).
Die Vergleichsgruppe 2 (VG2) wurde zum Untersuchungszeitpunkt UII erhoben und ist nach Alter, Klassenstufe und IQ mit der Untersuchungsgruppe zu UII vergleichbar. Ob wohl VG2 sich aus fünf Mädchen und vier Jungen zusammensetzt, ergibt sich kein statistisch bedeutsamer Unterschied bzgl. der Geschlechtsverteilungen in UG und VG2 (P2 = 0.9; p = .34).
** In der Klammer ist die projektinterne Personen-Kennzeichnung angegeben. |
Die Vergleichsgruppe zu UVI (VG6) setzt sich aus neun nach Alter und Geschlecht vergleichbaren Jugendlichen zusammen (siehe Tabelle 2), die die 10. Klasse einer Realschule26 besuchten. Alle Jugendlichen sind zu keinem Zeitpunkt in ihrer Entwicklung sprachtherapeutisch behandelt worden und bei keinem waren in der Entwicklung irgendwelche sprachlichen Auffälligkeiten beobachtet worden. Alle Jugendlichen sind rechtshändig.
VG6 ist durchschnittlich fünf Monate jünger als die Gruppe der sprachauffälligen Jugendlichen zu UVI, das Durchschnittsalter beträgt 16;0 Jahre bei einer Standardabweichung von sieben Monaten; der Altersunterschied zwischen den beiden Gruppen ist aber statistisch nicht bedeutsam (F = 1.25; p = .28).
Den Kindern bzw. Jugendlichen wurden zu UVI insgesamt 16 Sätze vorgegeben (siehe Tabelle 3). Diese Sätze wurden als Kurzform aus den zu UII präsentierten 32 Sätzen (Schöler, Abele, Kany, Ljubešic & Seeger, 1987, 1988) zusammengestellt. Vier der 16 Sätze enthalten dabei Kunstwörter.
Die zwölf sinnvollen Sätze bestehen jeweils aus 13 Wörtern, wobei die Satzstruktur variiert: Drei Sätze sind als Hauptsatz (HS), vier als Hauptsatz mit nachgestelltem Relativsatz (HS+NS), fünf als Hauptsatz mit eingeschobenem Relativsatz [H(NS)S] konstruiert. Die Überprüfung der Auswirkungen der Satzstruktur auf die Nachsprechleistung ergab zwar in einer früheren Studie den erwarteten Effekt, es ließen sich aber keine Wechselwirkungen zwischen der Satzstruktur und der Gruppenzugehörigkeit (sprachauffällig vs. sprachunauffällig) feststellen (Kratzer & Schöler, 1992). Wir werden bei der vorliegenden Studie deshalb den Faktor der Satzstruktur nicht weiter berücksichtigen.
Die Sätze mit Kunstwörtern sind deutlich kürzer, ihre Länge variiert zwischen fünf und acht Wörtern. Drei der vier Sätze mit Kunstwörtern sind passivisch formuliert, wobei jeweils ein anderes Tempus eingesetzt ist.
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Zu UI waren andere Sätze zum Nachsprechen vorgegeben worden, die wir in Anlehnung an Kegel (1981) konstruiert hatten (siehe dazu Schöler et al., 1988).
Die Sätze wurden den Jugendlichen (UVI) in der angegebenen Abfolge (siehe Tabelle 3) zum Nachsprechen von einer Koautorin vorgesprochen. Die Untersuchungen der UG fanden Anfang 1994, die Untersuchungen der VG6 Ende 1995 statt.
Zu UII, UIII, UIV und UV war jeweils der komplette Aufgabensatz (32 Sätze, davon acht Sätze mit Kunstwörtern) in zwei getrennten Sitzungen (jeweils 16 Sätze) von Tonband vorgegeben worden.27 Aus Vergleichsgründen werden für die vorliegende Arbeit aber nur die Sätze der Kurzform in die Auswertung einbezogen.
Die Untersuchungen zu UI fanden 1984, die Untersuchungen zu UII 1987 statt.
Um diagnostische bzw. differentialdiagnostische Entscheidungen (zeit)ökonomisch zu gestalten, haben wir - neben sehr detaillierten Kodierungen (siehe Anhang A und Kratzer & Schöler, 1992) - auch eine Dichotomisierung der Nachsprechleistungen vorgenommen. Als korrekt reproduziert (Kodierung: 1) gilt danach ein Satz, wenn alle Satzkonstituenten grammatisch korrekt reproduziert werden, wobei Umstellungen von Wörtern oder Erweiterungen (z.B. durch Adverbien oder Adjektive) toleriert werden, sofern dadurch keine grammatischen Fehler entstehen. Darüber hinaus sind geringfügige inhaltliche Modifikationen oder Substitutionen (z.B. in Satz 2: „mit seiner Familie" statt mit seinen Eltern; in Satz 11: „viele Junge" statt mehrere Junge; in Satz 2: „nach der Krankheit" statt nach seiner Krankheit) und definierte Auslassungen von bestimmten Adjektiven (z.B. in Satz 10: „viele Möglichkeiten" statt viele berufliche Möglichkeiten) und von Kompositateilen (z.B. in Satz 9: „Lehrer" statt Musiklehrer) zulässig. (Die zulässigen Abweichungen vom Vorgabesatz sind in Anhang A2 angeführt.) Bei allen anderen Auslassungen, Modifikationen oder Umstellungen, die zu meist erheblichen Sinnveränderungen führen, sowie bei morphologischen und/oder syntaktischen Fehlern werden die Reproduktionen als falsch bewertet (Kodierung: 0).
Da sich auch bei unseren bisherigen Untersuchungen (siehe Kratzer & Schöler, 1992; Schöler et al., 1988, 1991) gezeigt hat, daß sich das Nachsprechen von Sätzen als eine sehr valide, trennscharfe und dabei sehr zeitökonomische Aufgabe zur Diagnose und Differentialdiagnose erweist, treten selbstverständlich Fragen nach der teststatistischen Güte der in dieser Untersuchung verwendeten Kurzform der Aufgabe und der einzelnen Sätze auf, zumal eine solche Nachsprech-Aufgabe nach unserer Auffassung durch eine Standardisierung dem Ziel einer Vereinheitlichung der Diagnostik dienlich sein kann.
Den folgenden Berechnungen liegt die Gesamtstichprobe der sprachauffälligen Kinder (N = 100) und der sprachunauffälligen Kinder (N = 77) zugrunde (zur Stichprobenbeschreibung siehe Schöler et al., 1991). Die Schwierigkeiten der einzelnen Sätze variieren von P = 18 bis P = 82, d.h. nahezu das gesamte Schwierigkeitsspektrum wird durch diese 16 Aufgaben repräsentiert (vgl. Tabelle 4). Die Trennschärfen sind zufriedenstellend: Bis auf Satz 10, der sich als der schwierigste Satz (P = 18) erweist, und Satz 16 liegen die Koeffizienten über rit = .50.
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Das Skalen-Mittel (16 Aufgaben) liegt bei M = 9.97 (s = 4.63). Die Itemanalyse bei der Gesamtstichprobe zu UII (N = 157) weist für die Aufgabe eine sehr gute Zuverlässigkeit aus: Die interne Konsistenz, gemessen mit Cronbachs ", liegt bei " = .90. Auch wenn die Itemanalyse getrennt für die sprachentwicklungsgestörten und die sprachunauffälligen Kinder durchgeführt wird, bleiben die Reliabilitäten zufriedenstellend, der Konsistenzkoeffizient reduziert sich bei der Gruppe der sprachauffälligen Kinder (N = 87) nur unwesentlich auf " = .89, bei der Gruppe der sprachunauffälligen Kinder (N = 70) auf " = .80.
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Unbefriedigende Trennschärfen ergeben sich für Satz 10, der sich bei beiden Gruppen als sehr schwierig erweist (siehe Tabelle 5).
Bei der bisherigen Analyse wurden die Leistungen bei den sinnvollen Sätzen und den Sätzen mit Kunstwörtern zu einem Gesamttestwert zusammengefaßt. Da sich die beiden Satztypen hinsichtlich der Schwierigkeiten unterscheiden - die Sätze mit Kunstwörtern sind wesentlich kürzer und können deutlich besser als die sinnvollen Sätze reproduziert werden -, wiederholen wir im folgenden die Analysen getrennt für die sinnvollen Sätze und die Sätze mit Kunstwörtern. Wir beschränken uns dabei auf die Klassenstufen 1 bis 4.
Berücksichtigt man die geringen Itemzahlen, dies gilt
besonders für die vier Sätze mit Kunstwörtern, dann liegen die internen
Konsistenzen erstaunlich hoch, zwischen " = .70 und " =
. 87 (vgl. Tabelle 6).
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3.1.2 Zur Stabilität und Prognose
Da die Aufgabe den sprachauffälligen Kindern viermal im halbjährlichen Abstand (UII - UV) vorgegeben wurde, lassen sich Hinweise auf ihre prognostische Validität durch die Interkorrelationen zwischen den vier Wiederholungsmessungen gewinnen. Die Korrelationskoeffizienten sind hoch und statistisch bedeutsam (p < .001), sie variieren zwischen r = .77 und r = .85 (siehe Tabelle 7).
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Auch bei dieser Analyse der Retestreliabilitäten sollen die beiden Teile der Nachsprechaufgabe, die sinnvollen Sätze und die Sätze mit Kunstwörtern, getrennt betrachtet werden (siehe Tabellen 8 und 9).
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Alle Korrelationskoeffizienten zwischen den verschiedenen Meßzeitpunkten sind statistisch signifikant (p < .001), wobei die Koeffizienten bei den Sätzen mit Kunstwörtern (Tabelle 9) deutlich niedriger ausfallen als bei den sinnvollen Sätzen (Tabelle 8). Hier dürfte sich die geringe Itemzahl und die damit verbundene geringere Variabilität korrelationsmindernd auswirken.
Die Nachsprech-Leistungen sowohl der neun ausgewählten sprachauffälligen Jugendlichen (UG) als auch der nach Alter und IQ parallelisierten neun sprachunauffälligen Vergleichskinder (VG2) sind jeweils repräsentativ für die von uns zu UII untersuchten Gesamtstichproben der sprachauffälligen bzw. sprachunauffälligen Zweit- bis Viertklässler (siehe Tabelle I im Anhang B). Alle Aufgabenmittelwerte der jeweiligen Teilstichprobe der neun Kinder unterscheiden sich nicht signifikant von denen der entsprechenden Gesamtstichprobe.
Während wir in unseren bisherigen Analysen (Kratzer &
Schöler, 1992; Schöler et al., 1991) lediglich querschnittliche Betrachtungen
auf Gruppenebene vorgenommen haben, werden wir im folgenden die Leistungen
dieser ausgewählten neun Kinder bzw. Jugendlichen (UG) längsschnittlich
sowohl auf Individual- als auch auf Gruppenebene analysieren und mit ausgewählten
Gruppen sprachunauffälliger Kinder bzw. Jugendlicher (VG1, VG2, VG6)
querschnittlich vergleichen (vgl. Tabelle 10).
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Die Nachsprechleistungen der sprachauffälligen und sprachunauffälligen Kinder unterscheiden sich deutlich zu UI28 und zu UII (siehe Tabelle 10, Abbildungen 1 und 2 sowie Tabellen II und III im Anhang B). Diese Differenzen bleiben auch über den Zeitraum von 10 Jahren (UVI) bestehen, es findet keine wesentliche Annäherung der Leistungen der sprachauffälligen und sprachunauffälligen Kinder bzw. Jugendlichen statt. Eine Annäherung ist aber durch den Deckeneffekt zu erwarten, da die sprachunauffälligen Jugendlichen alle Sätze nahezu fehlerfrei reproduzieren und bei den sprachauffälligen Jugendlichen ein gewisser Entwicklungseffekt zu erwarten und auch festzustellen ist. (Alle Satzreproduktionen der Untersuchungsgruppe und der Vergleichsgruppen sind in Anhang C angeführt.)
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Bei einer detaillierteren Betrachtung der
Nachsprechleistungen bei den sinnvollen Sätzen (siehe Tabelle 11) zeigt sich,
daß die Reproduktionen der UG bedeutsam häufiger (P2
= 103.59; p < .001) grammatisch fehlerhaft sind und zwar werden überwiegend
Flexionsfehler produziert. Die Reproduktionen der VG6 sind grammatisch
fehlerfrei. Auffällig ist auch die Verteilung auf die Kategorien bei den
grammatisch korrekten Reproduktionen: Bei der VG6 ist eher eine
Gleichverteilung auf die drei Kategorien (Modifikation, Substitution,
Auslassung) zu beobachten mit einem Modalwert bei den Substitutionen. Bei der UG
hingegen kommen vor allem Modifikationen und Auslassungen vor. Ein Wort oder
eine Phrase wird nur insgesamt dreimal substituiert (jeweils einmal bei drei
Jugendlichen). Während Modifikationen und Auslassungen als Veränderungen der
sprachlich-linguistischen Struktur betrachtet werden können, weisen
Substitutionen auf eine semantisch tiefere Verarbeitung hin. Diese
Verteilungsunterschiede stützen unsere bisherige Annahme eines eher an der
Lautstruktur orientierten Reproduktionsversuches der sprachentwicklungsgestörten
Kinder.
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Auch beim Nachsprechen der Sätze mit Kunstwörtern (siehe Tabelle 12) unterscheiden sich die Leistungen der beiden Gruppen in Hinblick auf die grammatische Korrektheit bedeutsam (P2 = 35.89; p < .001): Die UG produziert auch bei diesen sehr kurzen Sätzen in nahezu einem Drittel der Reproduktionen Flexionsfehler. Neunmal wird die Reproduktion des Satzes abgebrochen. Da bei diesen Sätzen eine semantische Verarbeitung weniger möglich ist, sind Substitutionen auch bei der VG6 nicht zu erwarten gewesen. Alle grammatisch fehlerhaften Reproduktionen enthalten bei der UG zusätzlich eine, meist mehrere lautliche Abweichungen. Bei der Vergleichsgruppe treten ebenfalls viele lautliche Abweichungen auf, nämlich in nahezu 50% der Reproduktionen: Acht der neun Jugendlichen produzieren solche Lautveränderungen der Kunstwörter.
Wie ein Blick auf die individuellen Leistungskurven verdeutlicht (vgl. insbesondere Abbildung 1), repräsentiert die Mittelwertskurve die Leistungen aller neun sprachauffälligen Kinder nicht angemessen. Zwei der neun Kinder bzw. Jugendlichen (gestrichelte Linien: Michael - 5416 - und Andreas - 6330 -) erreichen deutlich bessere Leistungen als die übrigen sieben.
Trotz dieser überdurchschnittlichen Nachsprech-Leistungen - gegenüber den übrigen Kindern der UG - differieren die Leistungsprofile beider aber beträchtlich und dies nicht nur bei der Analyse der Satzreproduktionen, sondern auch bei Betrachtung der anderen Leistungen. Michael wird bei einer Clusteranalyse auf der Basis aller sprachlichen und nichtsprachlichen Leistungen bereits zu UII (als eines von drei der 58 in die Analyse einbezogenen sprachauffälligen Kinder) der Vergleichsgruppe sprachunauffälliger Kinder zugeordnet („Vgl-a"; siehe Schöler & Fromm, 1995, S. 7ff.). Sein Leistungsprofil entspricht daher demjenigen der leistungsstärksten sprachunauffälligen Vergleichsgruppe. Er ist zu UVI 16 Jahre alt und besucht eine Realschule. Andreas ist ein Jahr älter und geht noch auf eine Hauptschule. Er gehört in eines der drei Cluster („SLI-b"; siehe Schöler & Fromm, 1995, S. 7ff.), die von den sprachauffälligen Kindern repräsentiert werden.
Im folgenden soll überprüft werden, ob sich diese Zuordnung zu unterschiedlichen Clustern in den Leistungen beim „Nachsprechen von Sätzen" widerspiegelt. Dazu ist es erforderlich, die zwei Jugendlichen etwas detaillierter in ihren Leistungen und deren Entwicklung zu beschreiben sowie anamnestische und biographische Informationen - soweit vorliegend - einzubeziehen. Als Repräsentanten der beiden anderen Cluster der sprachentwicklungsauffälligen Kinder beziehen wir zwei weitere Jugendliche, Florian (6428; „SLI-a") und Tobias (4410; „SLI-c") in diese detailliertere Analyse ein.
Michael ist das jüngste von zwei Kindern eines Akademiker-Ehepaares. Sprachauffälligkeiten in der Familie sind nicht vorhanden. Er und seine Eltern sind an der Untersuchung interessiert.
Schwangerschaftsverlauf und Geburt waren unauffällig. Die Sprachproduktion begann altersgemäß: Mit 12 Monaten sprach er erste Wörter. Nach Keuchhusten und einer langwierigen Lungenentzündung wurde eine `Pause' in der Sprachentwicklung - wie dies in den Akten umschrieben wird - beobachtet. Mit 3 Jahren traten artikulatorische Probleme auf: Michael stellte Phoneme um oder ließ sie aus.
Michael besuchte den Kindergarten und wurde im Vorschulalter einmal wöchentlich logopädisch behandelt. Die Diagnose (entnommen aus den Akten) lautete
„mittlerer Dysgrammatismus (Deklination fehlt, Weglassen von Vorsilben, einfache Sätze, falsche Satzstellung), Sigmatismus interdentalis, multiples Stammeln, Gespräche bruchstückhaft, Probleme in Spontansprache gravierender als beim Nachsprechen".
Er wurde in die Schule für Sprachbehinderte eingeschult. Bei der Einschulung wird seine „Gesamtkörpermotorik" als noch nicht altersgemäß bewertet. Die Berichte aus den ersten vier Klassen der Sprachheilschule entwerfen ein positives Bild. Die sprachlichen Leistungen werden - mit leichter Einschränkung in bezug auf die Lesetechnik - als gut bezeichnet. Seine mathematischen Leistungen und das Allgemeinwissen werden ebenfalls als gut bewertet. Michael wechselte aufs Gymnasium, wo seine Deutsch- und Englischnoten zwischen 4 und 5 schwankten, seine Mathematik- und Musikleistungen hingegen zwischen 1 und 2 - 3. Es folgte erneut ein Schulartwechsel, diesmal auf die Realschule, wo er sich zum Zeitpunkt von UVI befindet. Seine Leistungen in den Fächern Deutsch, Englisch und Musik werden mit 3, in Mathematik mit 2 benotet. Nach Abschluß der Realschule ist ein Wechsel auf das Technische Gymnasium geplant.
Der Realschullehrer beschreibt Michael als „gefestigte Persönlichkeit" und die sprachlichen Leistungen als eher unauffällig: Im Satzbau bestünden noch leichte Schwierigkeiten, das Lesen sei nicht ganz flüssig. Ein Dysgrammatismus sei „nicht mehr schwer, der Satzaufbau meist richtig". Die Eltern sehen die Sprachschwierigkeiten verbessert bzw. teilweise ganz behoben. Freies Schreiben sei derzeit noch ein Problem, habe sich aber erheblich verbessert. Eine Koautorin29 konnte bei Rechtschreibung und Morpho-Syntax keine Auffälligkeiten beobachten.
Bei einer retrospektiven Einschätzung seiner Sprachprobleme nennt Michael als damalige Probleme mit dem Sprechen die Bildung von /s/-Lauten und Lesen. Auf dem Gymnasium habe er sich mit den Fremdsprachen schwergetan, vor allem das Lernen von Vokabeln habe ihm größte Schwierigkeiten bereitet. Heute habe er keine Schwierigkeiten mehr beim Sprechen.
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Michael wirkt von allen Jugendlichen am verlegensten, dabei aber nicht abweisend. Er spricht leise und undeutlich und ist nicht sehr mitteilsam. Vielleicht empfindet er die Konfrontation mit seiner Vorgeschichte trotz Zustimmung zur Untersuchung als eher beschämend als die anderen Jugendlichen, die häufiger auf ihre Defizite stoßen.
3.3.1.2 Michaels Leistungsprofil
Michael wurde bei einer Clusteranalyse, der die Leistungen in den von uns vorgegebenen Aufgaben zu UII zugrundelagen (zu den Aufgabenbeschreibungen siehe u.a. Schöler, 1993; zur Clusteranalyse siehe Schöler & Fromm, 1995), als eines von drei sprachentwicklungsauffälligen Kindern der Gruppe der leistungsstärksten sprachunauffälligen Kinder zugeordnet. Nicht nur seine sprachunspezifischen Leistungen (nonverbale Intelligenz, Nachzeichnen, Symbolfolgengedächtnis, Asymmetrische Seriation) sind altersangemessen, auch bei den sprachlichen Aufgaben (u.a. Pluralbildung, Flexionsbildung in Lückentexten, Produktion von Geschichten, Satzbildung aus Wörtern) sind seine Leistungen annähernd altersentsprechend. Nur der Anteil an Flexionsfehlern beim Nachsprechen der Sätze ist - verglichen mit den sprachunauffälligen, altersgleichen Kindern - leicht erhöht.
Seine Leistungen zu UVI sind unauffällig (siehe Tabelle 13): Beim „Zahlen-Nachsprechen" erreicht er altersgemäße durchschnittliche Leistungen, wobei er beim Rückwärts-Nachsprechen der Zahlenfolgen sogar überdurchschnittlich gut abschneidet. Auch bei der Aufgabe „Erkennen und Korrigieren falscher Flexionen in Sätzen" (siehe Schöler et al., 1991) kann er in 15 der 16 Sätze, die bis zu drei Fehler enthalten, die Flexionsfehler erkennen und korrigieren. Lediglich bei einem der sinnvollen Sätze entdeckt er einen zweiten Fehler nicht.
Beim „Nachsprechen von Sätzen" spricht Michael sehr hypoton und leise, stellenweise undeutlich, wirkt verlegen. Im Vergleich zu den anderen sprachentwicklungsauffälligen Jugendlichen (mit Ausnahme von Andreas; siehe Tabelle 13) sind seine Nachsprech-Leistungen zu UVI erheblich besser, wobei sie bei den letzten sinnvollen Sätzen etwas nachlassen und Michael beim Nachsprechen kurze Pausen einlegt. Die fehlerhaft reproduzierten sinnvollen Sätze sind vor allem durch Auslassungen gekennzeichnet. Zwar sind Michaels Leistungen beim Nachsprechen, vor allem beim Nachsprechen der sinnvollen Sätze, verglichen mit der UG besonders gut, im Vergleich mit den Leistungen altersgleicher sprachunauffälliger Jugendlicher ist seine Gesamtleistung (durch die relativ schlechte Leistung bei den Sätzen mit Kunstwörtern bedingt) dennoch nicht altersangemessen (vgl. Abbildung 1 sowie die Tabellen II und III in Anhang B).
Besonders auffällig ist bei Michael die Leistungsdifferenz zwischen den sinnvollen Sätzen und den Sätzen mit Kunstwörtern: Während er sieben sinnvolle Sätze korrekt reproduziert, gelingt ihm das Nachsprechen der Sätze mit Kunstwörtern nicht, bei drei der vier Sätze bricht er die Reproduktion ab.
Michael reproduziert die sinnvollen Sätze bereits mit
9;6 Jahren (UII) fließend und sehr nahe am Vorgabesatz. Zur
Veranschaulichung sind seine Nachsprechleistungen und deren Entwicklung bei den
Aufgaben Nr. 8 und Nr. 13 angeführt (alle Nachsprechleistungen siehe Anhang C).
Nr.8 UII UIII UIV UV UVI Nr.13 |
Die Autos, die im Halteverbot stehen, werden von der Polizei bald
abgeschleppt werden. Die Autos wo im Halteverbot stehen werden bald von der Polizei abgeschleppt Die Autos wo im Halteverbot stehen werden bald von der Polizei abgeschleppt werden Die Autos wo im Haltebot Halteverbot stehen werden von der Polizei bald abgeschleppt Die Autos die im Halteverbot stehen werden bald von der Polizei abgeschleppt Die Autos die im Halteverbot stehen werden bald von der Polizei abgeschleppt werden Die Toguls gornteten den Tipen. |
Ab UV ersetzt er das - sicherlich zum Teil dialektbedingte - `wo' auch durch das vorgegebene Relativpronomen. Dagegen fallen die wesentlich kürzeren Kunstwortsätze in ihrer wiedergegebenen Form stark ab. Sie sind von Suchprozessen gekennzeichnet, vermitteln Anstrengung und weichen lautlich stark von der Vorgabe ab, wobei jedoch das Einhalten morphologischer Markierungen erkennbar ist.
Bei der Betrachtung von Michaels Nachsprech-Leistungen fällt insbesondere die Leistungsdiskrepanz zwischen den sinnvollen Sätzen und den Sätzen mit Kunstwörtern auf: Die Reproduktion der Sätze mit Kunstwörtern gelingt nicht oder nur sehr ungenau. Die übrigen sprachlichen (beispielsweise auch das Bilden von Pluralformen bei Kunstwörtern) und nichtsprachlichen Aufgaben löst Michael altersentsprechend. Auch seine sprachliche Interaktion ist unauffällig.
Michaels Sprachentwicklungsauffälligkeiten basieren möglicherweise auf einer Beeinträchtigung beim Lernen bzw. Behalten neuer Informationen, vor allem solcher, die auditiv verarbeitet werden müssen. Dies gilt insbesondere für die Verarbeitung von inhaltsleeren (siehe die Schwierigkeiten beim Nachsprechen der Sätze mit Kunstwörtern) oder noch nicht vertrauten Klanggestalten wie beim Vokabellernen in einer Fremdsprache, da semantische Strategien, die das Gedächtnis beim Aufnehmen, Speichern und Kategorisieren auditiver Informationen entlasten, hier versagen.
Bei sinnvollen Kontexten müssen die postulierten Gedächtnisbegrenzungen31 - aufgrund dieser Strategien - nicht zwingend zu Leistungsminderungen führen (vgl. die altersentsprechenden Leistungen in den übrigen sprachlichen Aufgaben sowie die unauffällige sprachliche Interaktion). Es ist davon auszugehen, daß es Michael durch seine intellektuelle Leistungsfähigkeit (sein IQ liegt deutlich über dem Durchschnitt der anderen sprachentwicklungsgestörten Kinder, auch bei der Asymmetrischen Seriation erreicht er überdurchschnittliche Werte) sowie eine enorme Förderung durch das Elternhaus gelang, ein adäquates Ausmaß an metasprachlichem Wissen und angemessene Verarbeitungsstrategien aufzubauen und so seine sprachlichen Schwächen weitgehend zu kompensieren.
Das Lernen neuer Inhalte dürfte aber immer erschwert bleiben, da dies vermehrt Kontrollprozesse erfordert, mehr Aufmerksamkeit verlangt und dadurch kapazitätsbelastend wirkt. Die Erkrankungen im dritten Lebensjahr (Keuchhusten, Lungenentzündung) haben wahrscheinlich keine maßgebliche Rolle bei der Entstehung der beobachtbaren Probleme gespielt.
3.3.2.1 Biographische und anamnestische Daten
Andreas lebt zu UVI mit seinem Vater zusammen. Aufgewachsen ist er in zerrütteten familiären Verhältnissen, teilweise zusammen mit einem Stiefvater, seiner Mutter und einem jüngeren Stiefbruder. In den ersten zwei Lebensjahren wurde Andreas durch die Stiefmutter der Mutter betreut; es erfolgten häufig Umzüge. Wegen Erziehungsschwierigkeiten fanden beratende Gespräche im Jugendamt statt. Sein leiblicher Vater war in ambulanter Sprachtherapie wegen Dyslalie (/sch/), er bezeichnet sich selbst als Legastheniker.
Schwangerschaftsverlauf und Geburt von Andreas waren unauffällig. Erste Wörter äußerte er mit 1;6 Jahren, wobei er sich aber bis zum 3. Lebensjahr vorwiegend durch Gesten verständigt haben soll, erst dann hat er kurze Sätze produziert. Er besuchte den Kindergarten und wurde wöchentlich sprachheiltherapeutisch betreut, wobei im Vordergrund die Lautanbildungen /sch/ und /k/ sowie die Satzbildung standen.
Andreas wurde zunächst ein Jahr vom Schulbesuch zurückgestellt und dann in die Schule für Sprachbehinderte eingeschult. Die Diagnose (den Akten entnommen) lautete:
„Sprachentwicklungsverzögerung mit multipler Dyslalie, Dysgrammatismus (Morpho-Syntax: Verbkonjugation, Deklination, Präpositionen), Wortfindungsschwierigkeiten, leichtes klonisch-tonisches Stottern, Teilleistungsschwäche im Bereich der auditiven Wahrnehmungs- und Merkfähigkeit".
Die Mutter gab zu UII (Andreas besuchte zu diesem Zeitpunkt die 3. Klasse) an, daß die Sprechprobleme sich erheblich verbessert hätten: Seine Aussprache wäre besser, und er spreche langsamer und deutlicher. Der Lehrer hielt Andreas schon zum damaligen Zeitpunkt für ziemlich unauffällig, es liege kein Dysgrammatismus vor, er sei eher verhaltensauffällig, sehr angespannt und habe Konzentrationsschwierigkeiten. Sprachauffällig sei Andreas nur beim Laut /sch/ gewesen, hier habe Andreas eine entsprechende Artikulationsanbildung gehabt.
Ähnlich äußern sich auch die Lehrer zu UVI: Sein Klassenlehrer sah Andreas Stärken eher in Aufsätzen als in Diktaten. Auffallend seien jedoch auch in den Aufsätzen seine oft unzulänglichen Versuche, Sachverhalte zu versprachlichen, und seine Strukturierungsprobleme. Das Schriftbild bezeichnete er als schlecht und das Schreiben als verkrampft. Auditive Schwächen seien nichts besonderes, die beobachte er außer bei Andreas noch bei vielen anderen Mitschülerinnen und schülern. Er melde sich im Unterrricht nur, wenn er sicher sei, die geforderte Leistung zu erbringen. Der Rektor drückte seine Hochachtung davor aus, wie Andreas sich entgegen allen widrigen Umständen im familiären Bereich, die er in Krisengesprächen bei Andreas zu Hause miterlebt habe, zu einem solch lernwilligen und freundlichen Jugendlichen entwickelt habe.
Auch nach Meinung des Vaters haben sich die Sprachschwächen von Andreas gebessert. Andreas würde jetzt flüssiger und verständlicher sprechen - der /s/ - Laut habe sich jedoch verschlechtert. Der Vater habe versucht, Andreas Tips zu geben, sei aber durch seine chronische Krankheit und den eigenen Sprachfehler etwas beeinträchtigt. Um einen nachhaltigen Erfolg zu erzielen, müsse man kontinuierlich mit einem sprachauffälligen Kind arbeiten und ihm den `Fehler bewußt' machen. Er bezeichnete Andreas als entwicklungsmäßig zurück, aber arbeitswillig und umgänglich und hoffte, daß bei Bewerbungen ein Arbeitgeber dabeisein würde, der über Andreas ruhige Art hinwegsähe. Er war erstaunt, daß Andreas trotz der widrigen Umstände, die er in der Familie hatte miterleben müssen, das beste daraus zu machen versuche. Der Vater scheint - so der Eindruck - vielleicht aufgrund seiner eigenen Erfahrungen für den sprachlichen Bereich übersensibilisiert zu sein. Andreas Vater hat große Probleme in der Rechtschreibung und der Morphologie, wie man unschwer seinem Scheiben an uns entnehmen kann.
Im Interview erweist sich Andreas als aufgeschlossener, selbstbewußter und mitteilsamer junger Mann. Im Vergleich zu Gleichaltrigen wirkt er insgesamt recht ernst und erwachsen, was auf dem Hintergrund seiner Vorgeschichte nicht verwundert. Er macht den Eindruck, sich aktiv und konstruktiv mit Alltagsanforderungen auseinandersetzen zu können. Er bemüht sich um deutliches Sprechen, was nicht immer gelingt, und wählt seine Worte bedächtig. Eine Artikulationsstörung kann nicht festgestellt werden. Wohl auf Initiative einer Lehrerin hin war Andreas im Grundschulalter bei einem Kinderpsychiater, weil er so still gewesen sei. Seines Wissens hatte der Psychiater keine Ursache dafür finden können. Er sieht eine Erklärungsmöglichkeit in der damals chaotischen Familiensituation. Schon früh habe er selbständig und unabhängig sein müssen. Auch heute noch würde er sich als Einzelgänger bezeichnen. Sprachauffälligkeiten seien das /sch/, Satzstellung, Aussagen und Rechtschreibung gewesen, die er jetzt gut im Griff habe. Andreas berichtet, er arbeite am Computer, schreibe selber Programme. Schriftsprachkenntnisse seien für viele Berufe und für Vertragsabschlüsse wichtig. Am Ende des Interviews macht er sich Gedanken darüber, ab welchem Alter eine Therapie mit Kindern beginnen könnte.
Andreas wird bei der Clusteranalyse zu UII derjenigen Gruppe sprachauffälliger Kinder zugeordnet, die sich von den beiden anderen Gruppen vor allem durch bessere Leistungen beim Nachsprechen von Sätzen und geringere Anteile an Flexionsfehlern unterscheidet. Dieser Gruppe sind auch bedeutsam mehr Kinder zugeordnet, die durch sprechmotorische Schwierigkeiten (Stottern, Poltern, verwaschene Aussprache) gekennzeichnet sind. Darüber hinaus treten gehäuft Wortschatzprobleme auf, und der Anteil an Kindern, bei denen keine Linkshemisphärendominanz festgestellt werden konnte, ist besonders hoch.
Die Leistungen von Andreas zu UVI (siehe Tabelle 13) sind relativ unauffällig. Beim „Zahlen-Nachsprechen" erreicht er ein durchschnittliches Ergebnis, das er bereits zu UII erzielte. Auffallend ist, daß er hier bewußt eine Strategie einsetzt: „Ich ordne jedem Finger eine Zahl zu." Nicht nur das Nachsprechen von Zahlen, auch das Nachsprechen von Wörtern gelingt ihm altersgemäß, so daß eine Kurzzeitgedächtnisstörung als eher unwahrscheinlich gelten muß. Mit seinen intellektuellen Leistungen liegt er im unteren Durchschnitt. Der von uns erhobene nonverbale IQ war zu UII sogar unterdurchschnittlich (IQ 79). Da zu UI in den Akten aber ein IQ von 105 vorlag, wurde Andreas nicht aus den weiteren Untersuchungen ausgeschlossen. Die Wiederholungsmessung zu UV ergab einen IQ-Wert von 92.
Probleme hat Andreas zu UVI noch bei der Aufgabe „Erkennen und Korrigieren falscher Flexionen in Sätzen": Er kann insgesamt sieben der 16 Sätze vollständig korrigieren. Andreas erklärte seine Strategie bei den Sätzen mit Kunstwörtern: Er tausche die unbekannten Wörter durch bekannte aus und ersetze dann den Artikel.
Beim „Nachsprechen von Sätzen" zeigt sich bei den sinnvollen Sätzen das gleiche Bild wie bei Michael. Bei den Kunstwortsätzen erbringt Andreas von allen Jugendlichen der UG die beste Leistung, er macht wenige Fehler. Dabei spricht er sehr kontrolliert und konzentriert, aber zaghaft und mit Lautverschleifungen. Insgesamt kommt es nur zu wenigen Abweichungen von der vorgegebenen Lautstruktur.
Wie die folgenden Beispiele zeigen, reproduziert Andreas schon
ab UII annähernd syntaktisch und morphologisch korrekte Sätze.
Nr. 6 UII UIII UIV UV UVI Nr. 14 |
Das Ehepaar, das in unsere Wohnung einziehen wird, wohnt zur Zeit
im Nachbarort. Das Ehepaar wo im Wohnung - WohnWohnungshaus einziehen soll wohnt im Nachbarnsort Das Ehepaar wo in unsere Wohnung einziehen wird wohnt im Nachbarort Das Ehepaar wo in unserm Haus einziehen wird wohnt zur Zeit im Nachbarort Das Ehepaar das in unsre Wohnung einziehen wird wohnt zur Zeit im Nachbarort Das Ehepaar das in unsere Wohnung einziehen wird wohnt zur Zeit im Nachbarort Ein Molt ist von dem Fix gepalzt worden. |
Bei den Sätzen mit Kunstwörtern treten keine Kongruenzfehler, jedoch phonologische Abweichungen auf, die sich zunehmend dem Vorgabesatz annähern.
3.3.2.4 Überlegungen zu Andreas Sprachentwicklungsauffälligkeiten
Andreas erzielt gute Leistungen beim Nachsprechen von Sätzen, sowohl bei den sinnvollen Sätzen als auch bei den Sätzen mit Kunstwörtern. Das Erkennen und Korrigieren von Flexionsfehlern gelingt ihm dagegen weniger gut. Auffallend ist ebenfalls die Verwendung inadäquater Strategien bei der Bearbeitung einzelner Aufgabenstellungen. Die vom Lehrer noch beobachteten „Restsymptome" in der Graphomotorik und sprachlichen Strukturierungsfähigkeit (sowohl schriftlich als auch mündlich) sowie die Lautbildungsprobleme weisen auf andersartige Verarbeitungsprozesse hin. Es finden sich keine Hinweise auf eine Kurzzeitgedächtnisstörung, da Andreas sowohl beim Nachsprechen von Wörtern als auch von Zahlen altersgemäße Leistungen erbringt.
Determinanten seiner Entwicklung könnten (a) eine familiäre Disposition und psychosoziale Faktoren sowie (b) seine kognitive Leistungsfähigkeit gewesen sein. Für hereditäre Faktoren sprechen die sprachlichen Auffälligkeiten des Vaters, belastende Familienverhältnisse haben sicherlich zu einer unzureichenden Förderung geführt. Seine intellektuellen Leistungen liegen im unteren Durchschnittsbereich, so daß Andreas - verglichen mit Michael - über geringere kognitive Kompensationsmöglichkeiten zu verfügen scheint. Er setzt oberflächliche Routinen ein, ist schnell irritierbar und nicht stabil bei komplexeren Anforderungen. Diese Leistungsinstabilität kommt auch bei den bisherigen Erhebungen des IQ und dessen großer Variationsbreite (UI: 105, UII: 79, UV: 92) zum Ausdruck.
3.3.3.1 Biographische und anamnestische Daten
Florian ist zu UVI fast 16 Jahre alt und besucht die Berufsfachschule. Eine Lehre als Kraftfahrzeugmechaniker hat er gerade abgebrochen. Ein Telefongespräch im Anschluß an die Untersuchung erbrachte die Information, daß er eine Lehrstelle als Gipser gefunden habe. Florian ist das älteste von zwei Kindern. Nach problemlosem Schwangerschaftsverlauf führte ein Stillstand bei der Geburt zum Kaiserschnitt. Das Laufen entwickelte sich regelgerecht, auch das Auftreten der ersten Wörter war altersentsprechend. Eine Lungenentzündung und Verdacht auf Meningitis im Alter von 1;6 Jahren erforderten eine stationäre Behandlung, wonach die Eltern einen Stillstand in der Sprachentwicklung beobachteten. Florian habe sich in der Folge vorwiegend über Gesten verständigt.
Während des Kindergartenbesuchs erfolgte zunächst eine ambulante logopädische Therapie, dann wechselte Florian in einen Sprachheilkindergarten. Nach ursprünglicher Zurückstellung wurde er auf Empfehlung des Arztes eines phoniatrisch-pädaudiologischen Zentrums in die Schule für Sprachbehinderte eingeschult. Die Diagnose dort ergab
„multiple Dyslalie und erheblichen Dysgrammatismus verbunden mit einer auditiven Wahrnehmungs- und Merkschwäche".
In der Therapiegruppe erfolgte allgemeine Sprach- und Bewegungsförderung und er nahm an einer Lese-Rechtschreib-Übungsgruppe teil. In der Einzeltherapie wurde an Lauten und Lautverbindungen gearbeitet.
Im Interview bezieht sich Florian vor allem auf seine Redeunflüssigkeiten. Gegenüber seiner früheren Stotter-Symptomatik habe sich die Situation durch den Besuch der Sprachheilschule verbessert. Das Stottern, das mitten im Satz beginnen könne, würde er bemerken. Er würde vor allem dann stottern, wenn er aufgeregt sei. Seiner Meinung nach könnte sich die Stotter-Symptomatik zwar vielleicht noch verbessern, aber wahrscheinlich nicht ganz verschwinden. Mit ihm fremden Personen würde er nicht so gern sprechen, er sei insgesamt eher still. Die Frage, ob ihn das Stottern in irgendeiner Weise einschränken würde, bejaht Florian, kann die Einschränkung jedoch nicht konkretisieren.
Das Vergessen von Gedanken beim Sprechen sei nicht mehr so stark wie früher. Probleme beim Erlernen von Lesen und Schreiben gibt er nicht an. Auswendiglernen könne er nicht gut. Als Strategie gibt er `Wiederholen' an. Diktate würden ihm schwerer fallen als Aufsätze. Das Beherrschen der Schriftsprache findet er zwar wichtig, schildert jedoch eindrucksvoll, daß ihn das Lesen eines Buches zornig mache: Nach ein paar Seiten würde er es meistens in die Ecke werfen. Beim Zeitunglesen achte er zumeist auf die Bilder. Florian arbeitet mit Computer-Programmen, in denen Bilder im Text enthalten sind, falls nicht, würde die Motivation stark nachlassen. Im Interview hat er seiner Meinung nach keine Probleme mit dem Sprechen. Ihn interessiert, woher das Stottern kommen könnte.
Florian scheint zunächst zurückhaltend und ernst, wird dann aber zunehmend mitteilsamer, nimmt häufiger Blickkontakt auf. Er spricht teilweise verwaschen, schnell, bricht Wörter ab, startet neu oder verschluckt Laute und Silben.
Florian wird bei der Clusteranalyse zu UII der Gruppe sprachentwicklungsauffälliger Kinder zugeordnet, bei denen in besonderem Maße die Kriterien für eine Spezifische Sprachentwicklungsstörung gegeben sind: Auf dem Hintergrund der kognitiven Leistungsfähigkeit (die Gruppe erzielt die besten Leistungen bei den nichtsprachlichen Aufgaben) ist von einer erwartungswidrigen Minderleistung vor allem in den sprachlich-strukturellen Bereichen auszugehen. Bei diesen Kindern zeigen sich spezielle Informationsverarbeitungsprobleme im auditiven Bereich. Alle Kinder dieser Gruppe weisen starke dyslalische Schwächen auf, wohingegen nur bei einem anderen der 16 Kinder dieser Gruppe Wortschatzprobleme beobachtet werden. Das Leistungsprofil bei den sprachlichen Aufgaben ist bei Florian inkonsistent: Bedeutsamen Leistungsverbesserungen bei der Flexionsbildung in sinnvollen Kontexten stehen Leistungsminderungen bei Aufgaben mit Kunstwörtern gegenüber: So verschlechtert er seine Leistung bei der Pluralbildung von Kunstwörtern von UII nach UV, seine Leistungen beim Erkennen und Korrigieren von Flexionsfehlern bleiben über die Untersuchungszeit hinweg weit unterdurchschnittlich.
Bei einer Gesamtbewertung seiner Leistungen zu UVI stechen noch Auffälligkeiten in der Morphologie hervor (siehe Tabelle 13). Seine Leistungen beim unmittelbaren Behalten von Zahlen und Wörtern sind unterdurchschnittlich und lassen auf Begrenzungen des Arbeitsgedächtnisses schließen. Bei der Aufgabe „Erkennen und Korrigieren falscher Flexionen in Sätzen" hat Florian zu UVI große Probleme: Er kann nur vier Sätze korrigieren, damit weicht seine Leistung auch deutlich innerhalb der UG ab.
Florian zeigt auch zu UVI noch viele Kongruenzfehler. Beim Nachsprechen stockt er häufig, spricht abgehackt. Seine Artikulation ist verwaschen. Ursache könnte bei ihm eine Redeflußstörung sein. Er macht die meisten Flexionsfehler von den hier vorgestellten Jugendlichen. Fehlerhaft werden vor allem die Präpositionalphrasen und die Artikel reproduziert. Bei nur drei korrekt nachgesprochenen sinnvollen Sätzen liegt seine Nachsprech-Leistung - auch im Vergleich zur UG - im unteren Bereich, allerdings bereitet Florian das Nachsprechen der Sätze mit Kunstwörtern fast keine Probleme.
Die Entwicklung der Nachsprech-Leistung bei dem unten angeführten
sinnvollen Satz zeigt von UII zu UIV eine schrittweise Annäherung
an den Vorgabesatz über eine Verkürzung unter Bildung korrekter Syntax, aber
inhaltlicher Abweichung. Die Reproduktionen wirken zerrissen, als seien
einzelne erinnerte Fragmente aneinandergereiht worden, ohne daß eine korrekte
Anpassung gelingt. Im Verlauf zeigt sich die zunehmende Verwendung des
vorgegebenen Wortmaterials und eine Annäherung an den Vorgabesatz,
Kongruenzfehler bleiben bestehen. Bei dem Satz mit Kunstwörtern fallen die
phonologischen Abweichungen auf. Das Auxiliar `werden' wird nicht realisiert,
beim einzigen Versuch zu UIII entsteht dabei ein Kongruenzfehler. Die
Reproduktion der anderen Sätze mit Kunstwörtern gelingt aber überraschenderweise
zu UVI fehlerfrei.
Nr.3 UII UIII UIV UV UVI Nr.16 |
Die Blumenzwiebeln, die der Gärtner in die Kästen pflanzt,
werden im Frühjahr blühen. Die - die grüne - die schönen Blumen werden alle Frühjahr - bedüngt Die Blumen der Gärtner in Blumme-kasten sitzt wird im Frühjahr blühen Die Blu die Blumen im - Blumentopf wird der Gärtner im Frühling einsäen Die Blumenzwiebeln die der Gärtner pflanzt wird im Frühjahr blühen Die Blumenzwiebeln die den Gärtner - in dien - in Garde pflanzt werd(e) im Frühling blühn Ein Knig wird von dem Rim getockt werden. |
3.3.3.4 Überlegungen zu Florians Sprachentwicklungsauffälligkeiten
Die sprachlichen Leistungen von Florian bleiben auch im Alter von 16 Jahren noch auffällig: Am auffälligsten scheint uns das Persistieren der morphologischen Probleme, wie sie nicht nur beim Nachsprechen der Sätze, insbesondere bei den sinnvollen Sätzen, sondern auch bei anderen sprachlichen Aufgaben und im Interview zum Tragen kommen. Florians unterdurchschnittliche Leistungen beim unmittelbaren Behalten von Zahlen und Wörtern weisen auf eine auditive Wahrnehmungs- und Merkschwäche hin. Eine solche Schwäche des Arbeitsgedächtnisses könnte ein mitbedingender Faktor für die Sprachentwicklungsauffälligkeiten sein. Ebenfalls mitbedingend könnten perinatale Komplikationen und Erkrankungen im Kindesalter sein, die zum Klinikaufenthalt führten. Zu Sprachauffälligkeiten in der Familie liegen keine Angaben vor. Des weiteren finden sich alle Anzeichen, die für ein Polter-Syndrom sprechen. Die von ihm wahrgenommene dezente Redeflußstörung läßt sich als Mischform „Poltern-Stottern" beschreiben. Das Störungsbewußtsein hat jedoch offenbar nicht zu einer massiven Kommunikationsstörung in Verbindung mit Sprechangst oder Begleitsymptomatik im außersprachlichen Bereich geführt, allerdings kommt es zu situativen Redeflußstörungen, die subjektiv als einschränkend erlebt werden. Deutlich erkennbar wird im Interview eine Folgeerscheinung der Lese-Rechtschreib-Schwäche: Florians Umgang mit Lesematerial, der stark motivationsabhängig ist und durch eine geringe Frustrationstoleranz bei Anstregungen im schriftsprachlichen Bereich erschwert sein könnte.
3.3.4.1 Biographische und anamnestische Daten
Tobias ist das älteste von zwei Kindern. Die Geburt setzte fünf Wochen zu früh ein. Die motorische Entwicklung sei insgesamt verlangsamt gewesen, er begann mit 18 Monaten zu laufen, und auch die ersten Wörter sprach Tobias in diesem Zeitraum. Während der Vorschulzeit bekam Tobias eine ambulante Sprachbehandlung wegen Sprachentwicklungsverzögerung einhergehend mit massiven sozialen Problemen (erschwerte Kontaktaufnahme mit anderen Kindern und Erwachsenen). Nach Untersuchung in einer phoniatrisch-pädau-diologischen Ambulanz und in einer Sprachheilschule erfolgte dort die Einschulung mit der Diagnose
„multiple Dyslalie, Dysgrammatismus (Infinitive, Wortauslassungen, Deklination und Konjugation fehlen, nur kurze, einfach strukturierte Sätze, das Nachsprechen von Sätzen mit mehr als 5 Wörtern gelingt nicht), reduzierte Hör-Merk-Spanne, die Verständlichkeit für Außenstehende ist gering".
Laut damaliger Lehrerbeurteilung sprach Tobias wenig im Unterricht, war insgesamt sehr still. Trotz der Teilnahme in einer Spielgruppe mit Dysgrammatismus-Therapie konnten keine Fortschritte festgestellt werden.
Tobias Eltern leben inzwischen getrennt, er und seine jüngere Schwester wohnen bei der Mutter. Sie bezeichnete die Sprachentwicklung im nachhinein als `sehr gut'. Durch fachliche Hilfe habe sich alles normalisiert.
Tobias besucht zu UVI eine Berufsschule, in der er in einem Sonderzweig eine Ausbildung als Metallfeinbearbeiter erhält, was nicht mit einer Lehre gleichgesetzt werden kann. Vorher hatte er eine Schule des Internationalen Bundes besucht. Der Klassenlehrer hatte keine Zeit für ein längeres Gespräch, äußerte sich aber insgesamt zufrieden über die Leistungen und das Verhalten von Tobias.
Im Gespräch zeichnet Tobias folgendes Bild von sich: Nach seiner Beschreibung konnte ihn früher wegen seiner Aussprache niemand verstehen. Durch die Therapie in der Sprachheilschule konnte er dann später 'bessere Sätze bilden'. Im Bereich der Schriftsprache nennt er Anfangsschwierigkeiten bei den Buchstaben und zu große Schrift. Verbesserungen gebe es in letzter Zeit in Aufsätzen und im Diktat. Seinem Empfinden nach bestehen jetzt keine Probleme mehr mit dem Sprechen. Allerdings rechnet er sich bei besseren Leistungen im Fach Deutsch andere Berufschancen aus, äußert den Wunsch, sich nach der Ausbildung weiterzuqualifizieren, um mehr Geld verdienen zu können.
Tobias wirkt zunächst verschlossen, was sich in Mimik und Gestik zeigt. Er nimmt von sich aus anfangs selten Blickkontakt auf. Sein Sprechen ist stockend und zeigt Anzeichen einer Redeflußstörung. Er macht einen insgesamt ausgeglichenen, wenn auch etwas ernsten Eindruck.
Tobias wurde zu UII derjenigen Gruppe sprachauffälliger Kinder zugeordnet, die sowohl in den sprachlichen als auch in den kognitiven Bereichen die geringsten Leistungen erbringen. Die Gruppe ist durch eine allgemeine Leistungsminderung charakterisiert. Zwar ist die Intelligenzleistung definitionsgemäß durchschnittlich, aber am unteren Ende des Durchschnittes liegend. In den sprachlichen und kognitiven Leistungsbereichen sind Schwächen beobachtbar, die dann auch zu Schulleistungsproblemen führen.
Tobias nonverbale Intelligenztestleistung ist zwar durchschnittlich, seine IQ-Werte liegen aber mit 90 (UI), 92 (UII) und 89 (UV) konstant am unteren Ende des Durchschnittsbereiches. Tobias hat trotz eher bescheidener Schulleistungen die Hauptschule beendet, auf der Schwelle zur Berufsausbildung treten aber nun Probleme auf. Er war bei allen Untersuchungen (UI bis UV) außerstande, eine Geschichte zu produzieren.
Tobias bleibt zu UVI sprachlich auffällig. Das Zahlenfolgengedächtnis, vor allem beim Vorwärts-Nachsprechen ist unterdurchschnittlich. Beim „Erkennen und Korrigieren falscher Flexionen in Sätzen" kann er zu UVI in neun der 16 Sätze alle Fehler erkennen und korrigieren. Auffallend sind seine Korrekturversuche, die häufig mißlingen. Als Beispiel sei Satz 2 (Stundenlang suchten die Klasse ein goldenen Ring, den die Lehrerin in Wald verloren hatte) angeführt, den er folgendermaßen korrigierte: „Stundenlang suchten die Klasse einem goldenen Ring, den die Lehrerin im Wald verloren hatte".
Tobias wirkt zu UVI sehr konzentriert und
versucht, jeden Satz möglichst vollständig wiederzugeben. Er macht viele
Pausen, stockt zwischendurch. Die Nachsprech-Leistungen bleiben aber auch zu UVI
auffallend schlecht. Ihm gelingt lediglich, einen der sinnvollen Sätze korrekt
zu reproduzieren. Es zeigen sich Auffälligkeiten im morphologischen Bereich.
Nr.1 UII UIII UIV UV UVI Nr.13 |
Die Familie wird ein Haus im Grünen beziehen, das einen großen
Garten hat. Einer Familie zieht in ein grünes Haus Die Familie wird ein Haus ins Grüne ziehen Die Familie wird in ein Haus im Grünen ziehen das ein großen Garten hat Die Familie wit in ein großes Haus ziehn wo ein großer Garten ist Die Familie wird ein Haus beziehen das im Grünen ein Haus hat Die Toguls gornteten den Tipen. |
Die Reproduktionen beim Beispielsatz 1 sind durch Verkürzungen mit morphologischen und inhaltlichen Abweichungen gekennzeichnet. Die Reproduktion zu UVI zeigt, daß ihm die Satzstruktur Probleme bereitet, Bezüge der einzelnen Satzteile können nicht sicher hergestellt werden. Die Reproduktion der Kunstwortsätze gelingt nicht. Tobias bricht oft ab. Die Reproduktionsversuche sind dabei nicht nur von starken Abweichungen von der vorgegebenen Lautstruktur gekennzeichnet, sondern auch durch morphosyntaktische Abweichungen wie die Reproduktion des Beispielsatzes zu UVI zeigt.
Tobias erbringt auffallend schlechte Leistungen beim Nachsprechen von Sätzen. Seine sprachlichen Defizite sind nicht auf bestimmte sprachliche Strukturen beschränkt, es liegt eine eher allgemeine sprachliche Minderleistung vor. Vor dem Hintergrund allgemein verlangsamter Entwicklung, möglicherweise durch prä- oder perinatale Einflußfaktoren bedingt, kann es auch zu Entwicklungsstörungen im sprachlichen Bereich gekommen sein. Weiterhin kann eben dieses Defizit im kommunikativen Bereich zur Redeflußstörung und zu Verhaltensproblemen geführt haben. Hierbei könnten jedoch psychosoziale Faktoren eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben.
Nachsprechen von Sätzen: Ein zeitökonomisches, reliables und valides Instrument für die Sprachentwicklungsdiagnostik
Entgegen aller Angriffe aufgrund der „Unnatürlichkeit" und der postulierten Unangemessenheit der Aufgabenstellung bestätigt die vorliegende Studie einmal mehr, daß die doch häufige Nutzung von Satz-Nachsprechaufgaben im diagnostischen Prozeß - dies gilt sowohl für die informellen (z.B. im „Dysgrammatiker Prüfmaterial", Frank & Grziwotz, 1978) als auch die standardisierten (z.B. als Untertest IS im H-S-E-T, Grimm & Schöler, 1978) sprachentwicklungsdiagnostischen Verfahren - gerechtfertigt ist: Das Nachsprechen von Sätzen bietet eine sehr zeitökonomische und dennoch sehr effektive Möglichkeit, zu einer Bestimmung des Sprachentwicklungsstandes beizutragen. Allein aufgrund der Nachsprechleistungen läßt sich eine Sprachentwicklungsstörung reliabel und valide diagnostizieren.
Die vorliegende Untersuchung zeigt darüber hinaus auf, daß eine Analyse der Nachsprechleistungen zu differenzierteren und differenzierenden Diagnosen beiträgt. Zwar können aufgrund der Nachsprechleistungen Kinder nicht eindeutig bestimmten Subgruppen zugeordnet werden - dies wäre aber auch eine Überforderung an eine einzige Aufgabenstellung, die Beschreibungen der Einzelfälle deuten aber an, daß in Kombination mit anderen Indikatoren die Zuverlässigkeit der Differentialdiagnose durch das Nachsprechen deutlich erhöht werden kann. Es lassen sich unterschiedliche Entwicklungsverläufe auffinden, sowohl bezüglich zeitlicher Entwicklungsprozesse als auch bezüglich verschiedener Fehlertypen (syntaktisch, morphologisch).
Die Aufgabe „Nachsprechen von Sätzen" muß - wenn sie diese Testgüte erhalten will - sorgfältig entwickelt werden, u.a. impliziert dies, daß die Sätze die Anteile des sprachlich-strukturellen Wissens repräsentieren müssen, die für eine Diagnose und vor allem Differentialdiagnose erforderlich sind (siehe dazu auch Babiæ, 1995). Erforderlich ist sicherlich, die Länge der Sätze dahingehend zu variieren, daß sie über der unmittelbaren Gedächtnisspanne liegt, damit Verstehens- und Rekonstruktionsprozesse beobachtbar werden.
Bei der Aufgabenkonstruktion muß zwischen Praktikabilitätsaspekten (wie Belastbarkeit der Kinder, Durchführungs- und Auswertungszeit) und methodisch-inhaltlichen Anforderungen (wie Reliabilität, Vollständigkeit und Repräsentativität der sprachlichen Strukturformen) abgewogen werden.
Für den Einsatz dieser Aufgabenstellung im differentialdiagnostischen Prozeß, der so früh wie möglich einsetzen sollte, ist es selbstverständlich notwendig, daß die Aufgabe an das Vorschulalter adaptiert wird. Die in dieser Studie applizierten Aufgaben waren für das gesamte Spektrum des Schulalters konzipiert. Zur Zeit erproben wir daher eine Version des Nach-sprechens von Sätzen für den Vorschulbereich.
Nachsprechen von Sätzen: Ein Differentialdiagnostikum
Beim Vergleich der Nachsprech-Leistungen der sprachunauffälligen und der sprachauffälligen Kinder wird nicht nur deutlich, daß sich die Gruppen quantitativ unterscheiden, sondern auch die Art der auftretenden Modifikationen und Fehler bei den Reproduktionen bzw. Rekonstruktionen weisen auf unterschiedliche Verarbeitungsprozesse und Wissensstrukturen hin: So neigen die sprachunauffälligen Kinder eher dazu, Wörter zu substituieren, die sprachauffälligen Kinder eher dazu, Wörter oder Phrasen auszulassen oder zu verändern. Wird ein Wort substituiert, d.h. durch ein Synonym oder eine Paraphrase der Inhalt erhalten, so ist ein semantisch tiefer Verarbeitungsprozeß (sensu Craik & Lockhart, 1972) als zugrundeliegend anzunehmen. Durch die grammatische Struktur wird sozusagen hindurchgesehen, um die von Cazden (1976) formulierte Metapher von der Transparenz der Sprache zu benutzen. Dies heißt aber auch, daß die grammatische Struktur bzw. die sprachliche Form korrekt verarbeitet sein muß. Die Auslassung oder Modifikation eines vorgegebenen Wortes deutet hingegen eher auf einen strukturbezogenen, oberflächlicheren Prozeß hin. Dies haben wir andernorts einmal als Orientierung an der Lautstruktur (Kratzer & Schöler, 1992) bezeichnet. Die sprachliche Form ist dabei, um im Bild von Cazden zu bleiben, opak, d.h. eine automatische Dekodierung der Form findet nicht statt, man kann nicht durch sie hindurchsehen, um die Mitteilung zu verstehen. Dies ist vergleichbar mit Dekodiersituationen, in denen etwas Unerwartetes, beispielsweise eine Inkonsistenz, geschieht und Unsicherheit über den Inhalt der Mitteilung besteht. Man versucht dann Hinweise aus der grammatischen Struktur zu gewinnen; die Aufmerksamkeit wird auf die sprachliche Form gerichtet. Solch kontrolliertes Hinsehen bzw. Hinhören auf die Form kann zu einem Verlust oder einer Einschränkung des semantischen Gehalts der Mitteilung führen, man verliert dabei in der gesprochenen Rede sozusagen womöglich den Anschluß. In der Regel kann man zwar das Gemeinte aus den Kontexten erschließen, die sprachlich-strukturellen Feinheiten wie bestimmte morphologische Paradigmen könnten sich aber bei nicht automatisiert vorliegenden Dekodiermöglichkeiten verschließen.
Diese Interpretation impliziert, daß die sprachentwicklungsgestörten Kinder die Sätze nicht korrekt verstehen können, sondern viel Aufmerksamkeit auf die Satzstruktur lenken müssen, der grammatische Dekodierprozeß läuft nicht automatisiert ab, sondern muß durch kontrollierte Prozesse aufgebrochen werden.
Nachsprechen von Sätzen mit Kunstwörtern: Für die Differentialdiagnostik relevant
Für eine Differentialdiagnose erscheint uns bedeutsam, daß dem Kind neben sinnvollen Sätzen auch Sätze mit Kunstwörtern vorgegeben werden. Wie die Einzelfallbetrachtungen nahelegen, scheint die Nachsprechleistung in Abhängigkeit vom semantischen Gehalt der Sätze systematisch zu variieren. Die Kinder mit einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung (möglicherweise bedingt durch eine Störung der auditiven Informationsverarbeitung) und guten bis überdurchschnittlichen intellektuellen Fähigkeiten weisen größere Leistungsdiskrepanzen zwischen diesen beiden Aufgabentypen auf als Kinder mit einer eher allgemeineren Lernbeeinträchtigung, bei der die sprachlichen Schwächen im Kontext einer allgemeinen Entwicklungsstörung oder einer unterdurchschnittlichen allgemeinen Leistungsfähigkeit stehen.
Zusammenfassend bleibt festzuhalten, daß (a) die Aufgabe „Nachsprechen von Sätzen" sich als ein reliables und valides Meßinstrument in der Sprachentwicklungsdiagnostik erweist. Wir können die Schlußfolgerung von Montgomery, Montgomery und Stephens nur noch einmal unterstreichen: Das Nachsprechen von Sätzen erweist sich als „a valuable tool for probing oral language abilities in typically and atypically developing children" (1978, p. 435). Der vorliegende Befund repliziert aber nicht nur die bisherigen Ergebnisse, daß die Aufgabe sehr trennscharf sprachentwicklungsgestörte von sprachunauffälligen Kindern unterscheiden kann, sondern daß (b) mit der Aufgabe die Gruppe der sprachauffälligen Kinder differenziert werden kann. Voraussetzung dafür ist allerdings, über die quantitative Richtig-Falsch-Bewertung hinausgehend eine qualitative Detailanalyse der einzelnen Reproduktionen bzw. Rekonstruktionen der vorgegebenen Sätze im Sinne einer Analyse der auftretenden Modifikationen und Fehler durchzuführen.
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1 Gemeint ist hier vor
allem die sprachheilpädagogische, logopädische und entwicklungspsychologische
Diagnostik, über die wir uns eine Wertung erlauben.
2 Wir verwenden hier (in
Anlehnung an Stark & Tallal, 1981) diese Bezeichnung für alle diejenigen
Sprachentwicklungsstörungen, bei denen insofern eine erwartungswidrige
Minderleistung vorliegt, als keine Hörstörungen, massiven emotionalen Beeinträchtigungen,
Intelligenzminderungen oder hirnorganische Schädigungen diagnostiziert werden
konnten (zur Definitionsproblematik siehe u.a. Bishop, 1992; Dannenbauer, 1983;
Schöler, Dalbert & Schäle, 1991).
3 Die Frage nach ätiologischen
Faktoren bzw. Bedingungsgefügen ist zwar nicht beantwortet. Es ist aber davon
auszugehen, daß bei einem Teil der Kinder die Störung genetisch bedingt ist
(Bishop, 1997; Bishop, North & Donlan, 1994; Borges-Osario & Salzano,
1985; Breuer & Weuffen, 1988; Gopnik & Crago, 1991; Lewis &
Thompson, 1992; Luchsinger, 1959; Tallal, Ross & Curtiss, 1989; Tomblin,
1989; Tomblin & Buckwalter, 1994), wobei allerdings nicht genauer
spezifiziert ist, wie sich solche hereditären Faktoren im einzelnen auswirken.
Bei einem anderen Teil der Kinder scheinen Störungen oder Verzögerungen der
Hirnreife oder Lateralisierung in sensiblen Phasen vorzuliegen, die nicht zu den
erforderlichen Hemisphärendominanzen für bestimmte Fähigkeiten führen (z.B.
Locke, 1994). Bei einer weiteren Gruppe liegen vermutlich Störungen in der
auditiven Informationsverarbeitung vor, die die defizitären
sprachlich-strukturellen Wissensstrukturen bedingen können (u.a. Gathercole
& Baddeley, 1990; Schöler, Fromm, Jeutner & Kürsten, 1994; Tallal,
1980; zsf. Cromer, 1978).
4 Liebmann unterschied
drei Schweregrade des Agrammatismus, die bis heute immer wieder als quantitative
Ausprägungen mißverstanden werden. Wie u.a. dieses Zitat belegt, hat er aber qualitativ
unterschiedliche Formen beschrieben.
5 „Im Gegensatz zu 'künstlichen'
Verfahren versucht entwicklungsproximale Sprachtherapie die kindliche
Sprachentwicklung selbst voranzubringen, indem über die rezeptive Verarbeitung
und dialogische Vermittlung ausgewählter, entwicklungsangemessener Zielformen
innere Repräsentationen der relevanten Merkmale angebahnt werden, die genügend
stabil und aktivierbar sind, um von Anfang an in die spontane und funktionale
Sprachverwendung eingehen können. Es wird also nicht von der Annahme
ausgegangen, daß die Kinder einen anderen Zugang zur Sprache brauchen, weil der
natürliche nicht genügt habe, sondern daß sie Spracherfahrungen benötigen,
die ein erhebliches Mehr an dem enthalten, was im normalen Spracherwerb eher
beiläufig geboten wird" (Dannenbauer, 1992, S. 166).
Dazu noch eine Anmerkung: In verschiedenen Kapiteln des von Baumgartner und Füssenich
1992 herausgegebenen Buches - wie auch im obigen Zitat - wird häufig von
„Entwicklungsangemessenheit" geschrieben, was allerdings
„entwicklungsangemessen" ist, wird nicht definiert. Man kann die
Definition erahnen bzw. besser „erspüren", denn in der Einleitung wird
von dem Autorenteam ausgeführt: „Wir registrieren in einem kontinuierlichen
Erkenntnisprozeß, was das Kind schon kann und erspüren prospektiv die nächsten
Entwicklungsschritte" (Baumgartner & Füssenich, 1992, S.6).
6 Auf die Problematik von
sogenannten zeitlichen Retardierungen möchten wir hier nicht weiter eingehen,
denn auch dabei stellt sich die Frage nach qualitativen Unterschieden, wenn die
Entwicklung einer Domäne, wie hier der Sprache, über einen kritischen
zeitlichen Verzögerungswert hinausgeht, und man Wechselwirkungen zwischen
Entwicklungsdomänen annimmt.
7 Als Daten gelten sowohl
quantitative bzw. quantifizierbare Leistungswerte aus den verschiedensten
Bereichen (Sprache, Kognition, Motorik etc.) wie auch qualitative anamnestische
und biographische Informationen (z.B. Geschlecht, Händigkeit,
Familiengeschichte, Krankheiten) sowie medizinische, speziell neurologische
Befunde (z.B. zur Lateralität, Informationen von bildgebenden Verfahren wie
MRT).
8 Wir sind dabei auf die
Mithilfe der Institutionen angewiesen, zu deren Aufgaben die Diagnostik und
Therapie von Sprachentwicklungsauffälligkeiten gehören. An dieser Stelle möchten
wir in besonderer Weise dem Direktor der Universitätsklinik für
Kommunikationsstörungen Mainz, Prof. Dr. Heinemann und seinen Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern sowie dem Direktor der Abteilung für Stimm- und Sprachstörungen
sowie Pädaudiologie der HNO-Universitätsklinik Heidelberg, Prof. Dr. Wirth und
seinen Mitarbeiterinnen für die enge und konstruktive Kooperation danken.
9 Aus stilistischen Gründen
verwenden wir im Text in der Regel nur die männliche Form.
10 „In diesem theoretischen Zusammenhang sind die naturwissenschaftlichen Bemühungen zu kritisieren, von außen her die Genese der Sprache und ihre Unzulänglichkeiten zu erklären. Die Erkenntnisse müssen an der Oberfläche bzw. an der Außenseite bleiben, weil es die Sprache im Menschen als eigenständiges Funktionssystem nicht gibt. Die sprachlichen Unzulänglichkeiten von Kindern sind weder Defekte eines eigenen Funktionssystems noch Krankheitsbilder der Sprache und bedürfen daher auch keiner Sprachbehandlung. Folglich darf das sprachbeeinträchtigte Kind nicht auf die Funktion eines Symptomträgers reduziert werden, denn „der besondere Gegenstand in einer besonderen Sicht, der behinderte Mensch in seiner Lebenswelt" (IBEN 1985, S.55f) hat im Mittelpunkt einer sich vom positivistischen Dogma losgesagten und phänomenologischen Gedanken zugewendeten umfassenderen Sichtweise zu stehen" (Rodenwaldt, 1990, S. 68).
Und an anderer Stelle: „Ein Interesse an den sprachlichen
Unzulänglichkeiten erfordert das Überschreiten der naturwissenschaftlichen Prämissen,
um dem teilnehmenden Erkennen zum Verständnis des Menschlichen und seiner Auffälligkeiten
mehr Platz einzuräumen und mittels einer hermeneutischen Analyse die
sinnkonstitutiven Entwürfe menschlicher Subjektivität zu erschließen"
(Rodenwaldt, 1990, S. 70).
11 Eine schon an Satire
grenzende analoge Aussage fanden wir in einer Arbeit von Hollenweger: „Kann
der Heidelberger Sprachentwicklungstest etwa Aussagen darüber geben, ob Kinder
fähig sind, am Gespräch teilzunehmen oder eine kritische Haltung gegenüber
dem Gehörten einzunehmen? Nein, viel eher misst er gerade das Gegenteil!"
(1994, S. 159).
12 Wir wollen hier keine
Diskussion über die Gestaltung diagnostischer Situationen und die Kompetenzen
von Diagnostikern führen. Es muß aber angemerkt werden, daß eine angemessene
und verantwortliche Diagnostik fundierte inhaltliche und methodische Kenntnisse
auf Seiten des Diagnostikers erfordert. Dem Diagnostiker bleibt es dabei
unbenommen, Situationen für das Kind zu gestalten, in denen sich das Kind als
„gleichwertiger Kommunikationspartner" in „symmetrischer
Interaktion" erlebt (einmal abgesehen davon, wie dies in diagnostischen
Situationen realisiert werden kann, bei denen bestimmte Fragestellungen
vorliegen, und das Kind in der Regel auch weiß, daß es um ihm bekannte
Probleme geht). So erfordert die Aufgabe „Nachsprechen von Sätzen"
Kompetenzen seitens des Diagnostikers, die eine qualitative Analyse der
Reproduktionen bzw. Rekonstruktionen der Kinder erlauben. Sehr häufig scheint -
so die subjektive Bewertung seitens des Erstautors - eine Korrespondenz zwischen
methodologischer, methodischer und inhaltlicher Inkompetenz des Diagnostikers
und der Präferierung solcher Ansätze „ganzheitlicher" und
„verstehender" Diagnostik zu bestehen. Wenn diese „ganzheitlichen"
Ansätze nicht jeder Beliebigkeit Tür und Tor öffnen oder eine
Geheimwissenschaft bleiben wollen, dann genügt es u.E. nicht, nur die
„richtige Einstellung" (allzu oft mit einem unseligen Wahrheitsanspruch
einhergehend) zu besitzen oder zu propagieren, sondern der Diagnostiker muß
auch konkrete Hinweise erhalten, wie er im Sinne der Fragestellung angemessen
vorgehen muß, wie er zu einem „Verstehen" kommt. Appelle an die
Mitmenschlichkeit, das Menschsein usf. reichen bei weitem nicht aus, um
verantwortungsvoll und verantwortbare Diagnosen zu stellen.
13 Bereits zu Beginn des
Jahrhunderts weist Liebmann indirekt auf das Nachsprechen von Sätzen als
Methode zur Erfassung sprachlichen Wissens hin, wenn er schreibt: „Sobald die
vorgesprochenen Sätze aber auch nur etwas complicierter werden, versagt das Gedächtniss,
die Patienten sind auf ihre eigene Sprachfähigkeit angewiesen und produciern
dasselbe Kauderwälsch wie in der spontanen Rede" (1901, S. 251).
14 Spontansprachanalysen
waren unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten wichtig, um überhaupt
Datenmaterial zu erhalten, mit dem die spezifischen Sprachauffälligkeiten
analysiert werden konnten. Sie sind heute noch wichtig, um das Sprachrepertoire
einzelner Kinder festzustellen. Sie aber als alleiniges Mittel der
Sprachdiagnose stark zu machen, hieße, sie entschieden zu überfordern, denn
dafür sind Spontansprachanalysen in Hinsicht auf das diagnostische Ziel nicht
umfassend genug und zu zeitaufwendig - ein für die Praxis und Praktikabilität
nicht unwichtiger Punkt.
Während die sprachauffälligen Kinder mit zunehmendem Alter ihre grammatischen
Defizite spontansprachlich durch bestimmte Strategien zu verdecken/zu
kompensieren lernen, z.B. durch Produktion von einfachen Sätzen (bzw.
Vermeidung von komplexen Satzstrukturen, siehe Kany, Fromm, Schöler &
Stahl, 1990), bleiben beim unmittelbaren Nachsprechen von Sätzen bis zur Pubertät
und darüber hinaus gravierende Schwächen bestehen (Günther, 1981; Grimm,
1984; Hay, 1985; Kegel, 1981; Menyuk, 1964; Schakib-Ekbatan & Schöler,
1995a).
15 „Sentence imitation
is a task that is sensitive to the auditory-perceptual, cognitive and expressive
difficulties evidenced by individuals with DS [DS: Downsyndrom, die Verf.]"
(Marcell et al., 1995, p. 215).
16 In einer
Untersuchung, bei der u.a. die Speicherkapazität (phonological memory) in
Hinblick auf die Auswirkungen auf das Sprachlernen mit „non-words" überprüft
wurde, kommen Adams und Gathercole zu dem Ergebnis, daß „the component skills
indexed by the non-word repetition task may reveal basic cognitive processes
critically involved in language acquisition that are deficient in SLI
population" (1996, p. 231).
17 Das „Nachsprechen
von Sätzen" wird auf dem Hintergrund neuerer psychophysiologischer
Erkentnisse für den diagnostischen Zweck umso wichtiger, da die These einer
eindeutigen Trennung von sensorischem und motorischem Sprachsystem nicht zu
halten ist (Walkowiak, 1996). Das „Nachsprechen von Sätzen" erfaßt
demnach die Interaktionen zwischen sensorischen und motorischen Aspekten, auch
wenn bis heute noch kein exaktes Modell dieser Interaktion vorliegt, wohl aber
einiges für eine parallele Sprachverarbeitung mehrerer, in verschiedenen
Hirnregionen lokalisierter sprachlicher Subsysteme spricht.
18 Hier unterscheiden
wir uns deutlich von Füssenich und Heidtmann, die eine Veränderung der
Sprachdiagnostik vorschlagen, „die sich schlagwortartig so charakterisieren läßt:
Weg von der Testgläubigkeit hin zu qualitativer, entwicklungsorientierter,
individueller und systematischer Sprachdiagnostik. Im Gegensatz zu den
traditionellen Prüfverfahren und Tests sind die neueren Verfahren
wissenschaftlich, d.h. insbesondere linguistisch und psycholinguistisch
fundiert" (1995, S. 109). Siehe auch Rodenwaldt (1990, S.113f.), der nahezu
alle bekannten Verfahren für die Diagnose der Lautbildungsfähigkeit, der
grammatisch-syntaktischen Fähigkeit, der lexikalischen Fähigkeit, des
Redeflusses auflistet und als ungeeignet bewertet.
19 Hier arbeiten wir
z.Zt. in Kooperation u.a. mit der Universitätsklinik für Kommunikationsstörungen
Mainz (Ärztlicher Direktor: Prof. Dr. Heinemann) und der Abteilung für Stimm-
und Sprachstörungen sowie Pädaudiologie der HNO-Universitätsklinik Heidelberg
(Ärztlicher Direktor: Prof. Dr. Wirth) entsprechende Versionen aus.
20 Die Frage, ob die
Aufgabe auch für therapeutische Zwecke eingesetzt werden kann, streift unser
Thema lediglich am Rande. Wir wollen aus diesem Grund auf diese Diskussion hier
nicht weiter eingehen.
21 Das Projekt wurde von
1984 bis 1995 durch die DFG (Scho 311/1-1 - 1-8) und die Pädagogische
Hochschule Heidelberg sowie zeitweilig durch das Ministerium für Wissenschaft
und Kunst Baden-Württemberg gefördert. Wir danken für die finanzielle Unterstützung.
22 Als „dysgrammatisch
sprechend" waren die Kinder aufgrund der Aktenlage und des Lehrerurteils
diagnostiziert, d.h. es lagen entsprechende Begutachtungen vor.
Selektionskriterien waren: (1) Die Kinder sollten besondere Auffälligkeiten
beim Erwerb und Gebrauch sprachlich-strukturellen Wissens aufweisen, die aber
(2) nicht auf festgestellte hirnorganische Schädigungen, (3) Hörschädigungen,
(4) massive emotionale Störungen oder (5) intellektuelle Minderbegabung
(operationalisiert als unterdurchschnittliche Intelligenz; mehr als eine
Standardabweichung; nicht mehr als zwei Standardabweichungen wie dies in der
Literatur auch aufzufinden ist) zurückführbar sind (zu einem Überblick über
Auswahlkriterien siehe Nye & Weems, 1991). Darüber hinaus wurden (6)
bilingual oder zweisprachig aufwachsende Kinder und Kinder, die nach
Erstuntersuchungen (7) nicht weiter motiviert werden konnten oder emotional zu
stark belastet waren, selektiert. Detailliertere Beschreibungen der
Untersuchungsstichprobe sind in Kratzer, Schäle, Kürsten und Schöler (1991)
zu finden.
23 In einem
Kohorten-Sequenz-Design (neun Kohorten: Klassenstufen 1 bis 9) wurden insgesamt
vier Untersuchungszeiträume (jeweils bis zu sechs Einzeluntersuchungen pro
Kind; UII-UV) durchgeführt, die im Abstand von etwa sechs Monaten lagen.
Die Erhebungen fanden zwischen März 1987 und August 1989 statt. In jedem
Zeitraum wurden mit den Kindern mehrere Einzeluntersuchungen zur Vorgabe der
verschiedenen Aufgaben durchgeführt (für nähere Informationen zu Design,
Aufgaben und Ergebnissen siehe u.a. Schöler, 1993; Schöler & Fromm, 1995;
Schöler, Kratzer, Kürsten & Schäle, 1991).
24 Im Winter 1984/85 (UI)
wurden insgesamt 30 Kinder untersucht. In UII wurden die Untersuchungen
mit einer Stichprobe von N = 165 sprachauffälligen Kindern begonnen, die
wir aufgrund verschiedener Selektionskriterien (siehe dazu Schöler et al.,
1991) zu UIII auf N = 100 reduzieren mußten. Von den 30 Kindern,
die in UI bereits teilgenommen hatten, mußten nach UII nach
diesen Selektionskriterien 16 Kinder ausgeschlossen werden, so daß in der
Stichprobe von 100 Kindern 14 Kinder verblieben, die wir über einen Zeitraum
von vier bis viereinhalb Jahren beobachten konnten.
25 Zur Problematik der IQ-Veränderung
mit zunehmendem Alter siehe Schöler (1992).
26 Für die freundliche
Unterstützung unserer Untersuchungen möchten wir uns bei den Rektoren Kornmeier
und Pohnitzer und dem Kollegium der Realschule in Waghäusel recht
herzlich bedanken. Ein besonderer Dank gilt den mitwirkenden Schülerinnen und
Schülern.
27 Die Untersuchungen UII
bis UV fanden im Rahmen der umfangreichen Erhebungen des
Kohorten-Sequenz-Designs statt und wurden von Dr. Tamino Abele, Dipl.Psych.
Heike Schäle, Dr. Werner Kany und Dipl. Psych. Gabriele Seeger, die
Untersuchungen zu UI wurden von Dipl.Psych. Erna Illichmann durchgeführt.
28 Obwohl bei der
Untersuchung zu UI andere Sätze vorgegeben wurden, ermöglichen die
relativierten Leistungswerte u.E. einen guten Vergleich mit den jeweils
parallelisierten Gruppen der sprachunauffälligen Kinder.
29 Die Untersuchungen zu
UVI wurden von Karin Schakib-Ekbatan durchgeführt.
30 Zu UVI wurden
den Jugendlichen die Aufgaben „Zahlen-Nachsprechen", „Erkennen und
Korrigieren falscher Flexionen in Sätzen" und „Nachsprechen von Sätzen"
vorgegeben (zu einer detaillierteren Beschreibung der Ergebnisse siehe
Schakib-Ekbatan & Schöler, 1995a, 1995b).
Beim „Erkennen und Korrigieren falscher Flexionen in Sätzen" besteht die
Aufgabe darin, fehlerhaft flektierte Wörter in zwölf sinnvollen Sätzen und in
vier Sätzen mit Kunstwörtern zu erkennen und zu korrigieren. Bei den
sinnvollen Sätzen variiert die Fehlerzahl zwischen einem und drei Fehlern, bei
den Sätzen mit Kunstwörtern ist jeweils nur ein Farbadjektiv falsch flektiert.
Hierzu zwei Beispiele [die fehlerhaft flektierten Wörter sind für diese
Darstellung hervorgehoben]:
(a) „Trotz des schlechtes Wetters verbracht die Familie ein schönen Urlaub";
(b) „Das grün Maling arbeitet bei der roten Plabel".
31 Aufgrund unserer
Untersuchungen ist eine weitere Differenzierung bzw. Spezifizierung nicht möglich.
Beispielsweise könnte ein strukturelles Defizit durch eine geringere Kapazität
oder eine prozessuale Schwäche durch mangelhafte Zeitauflösungen oder
geringere Haltensleistungen in der im Arbeitsgedächtnis angenommenen
phonologischen Schleife zugrundeliegen. (Zur Diskussion der möglichen auditiven
Verarbeitungsstörungen siehe Fromm & Schöler, 1997.)