Die neuen Freiheiten in der Unterrichtsgestaltung

Herr Wacker, um was geht es in Ihrem Forschungsprojekt?
Herr Wacker:
Als Konsequenz der PISA-Studie erfolgte in Baden-Württemberg die große Bildungsreform des Schuljahrs 2004/05: Hierzu wurden für alle allgemeinbildenden Schulen neue Lehrpläne erlassen und die Lehrkräfte erhielten größere Freiheiten in der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung. Zusammen mit der Einführung von Fächerverbünden führte die Reform gerade an den Realschulen zu weitgreifenden Neuerungen.
Mich hat vor allem interessiert, wie die Realschullehrkräfte mit den neuen Bildungsstandards umgehen - konkret in Bezug auf die Unterrichtsplanung und auf die Gestaltung des Unterrichts. Weiter war von Interesse, welche Bedeutung die Lehrkräfte beispielsweise den neuen Vergleichsarbeiten beimessen oder welche Rahmenbedingungen für die Einführung der Bildungsstandards förderlich oder hinderlich waren.

Wie sind Sie in Ihrer Studie vorgegangen?
Zunächst konnte ich ein Jahr nach der Reform von 2004/05 etwa ein Viertel aller Realschullehrkräfte in Baden-Württemberg mit einem standardisierten Fragebogen anschreiben und fast tausend Lehrkräfte schickten einen Bogen zurück, 914 davon waren auswertbar. Die Stichprobe verteilte sich gleich über alle vier Regierungspräsidien, über städtische und ländliche Einzugsgebiete und über kleinere, mittlere und größere Realschulen.
Da Reformen im Bildungsbereich aber erst zeitverzögert wirksam werden, befragte ich die Lehrkräfte der Stichprobe nach fünf Jahren ein zweites Mal, also zu einem Zeitpunkt, als sich die Neuerungen schon etabliert haben müssten. Hier konnte ich wiederum 724 Bögen im Längsschnitt auswerten.

Was war die Motivation, in diesem Bereich zu forschen?
Die Lehrplanforschung stellt ein sehr bedeutendes Teilgebiet der Schulpädagogik dar, aber in den 1990er Jahren wurde es recht still um diese Forschungsrichtung. Mich interessierte vor dem theoretischen Hintergrund besonders, ob den idealisierten Wirkhoffnungen des neuen Steuerungskonzepts auch tatsächliche Effekte gegenüber standen. Dazu war auch die Frage der theoretischen Zugänge äußerst spannend. Hier etablierte sich in den vergangenen zehn Jahren mit dem Educational-Governance-Ansatz ein neues und wie ich meine gewinnbringendes Theorie-Paradigma, mit dem Steuerungsprozesse im Bildungssystem und seinen verschiedenen Ebenen adäquater abgebildet werden können.

Können Sie ein paar Ergebnisse Ihrer Arbeit berichten?
Hinsichtlich der Unterrichtsgestaltung wurde zum Beispiel ersichtlich, dass die Lehrkräfte nach fünf Jahren erfolgter Implementation der Reform mehr kompetenzorientierte Unterrichtsmethoden einsetzen: So arbeiten sie nun zum Beispiel häufiger mit Formen projektorientierten Unterrichts. Ein sehr wichtiger Befund war auch die Einstellung der Lehrkräfte zu den in ganz Baden-Württemberg zu schreibenden Vergleichsarbeiten. Diese Arbeiten sollten für die Lehrkräfte ein förderdiagnostisches Instrument darstellen und zugleich ein Mittel zur Unterrichtsentwicklung. In der ersten Befragung standen die Lehrkräfte der Idee recht positiv gegenüber, ohne zu diesem Zeitpunkt aber tatsächliche Erfahrungen gehabt zu haben. In der zweiten Befragung wurde - etwas verblüffend und anders als zu erwarten - ersichtlich, dass die Lehrkräfte keine maßgebenden Impulse für die Unterrichtsentwicklung gewinnen und die Tests mehrheitlich ablehnen.

Welche Erkenntnisse Ihrer Forschungsarbeit sind für die Pädagogische Hochschule wichtig?
Nun, ein konstitutives Merkmal der Pädagogischen Hochschulen ist die Verzahnung von Theorie und Praxis in den Lehrveranstaltungen und in der Forschung. In diesem Zusammenhang erbrachte dieses Projekt viel Wissen - sowohl zur Gestaltung von Bildungsplänen als auch zur Schulform Realschule. Dieses Wissen fließt direkt in meine Lehre ein: Die Studierenden sind sehr daran interessiert, etwas über die innere Gestaltung der Schulformen, in denen sie später unterrichten wollen, zu erfahren. Das Thema ist hier sehr gut geeignet, um es in einen Theoriezusammenhang zu stellen, der damit den Studierenden deutlicher und konturierter wird. Darüber hinaus wird die PH auch in der Forschung anschlussfähig. In künftigen Projekten können wir diese Perspektive akzentuiert einbringen, beispielsweise in geplanten Forschungen zur neuen Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg.

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veröffentlicht am 4. März 2013