Die Mathematik auf den Kopf stellen
Herr Spannagel, woran forschen Sie gerade?
Herr Spannagel: Ich setze eine Lehrmethode ein, bei der Vorlesungen nicht mehr "real" gehalten, sondern per Video aufgezeichnet und den Studierenden als offene Bildungsmaterialien online zur Verfügung gestellt werden. In einer anschließenden Plenumssitzung werden dann Aspekte der Vorlesung gemeinsam diskutiert, Fragen beantwortet und Aufgaben besprochen. Meine Arbeit beschäftigt sich unter anderem mit der Erforschung dieser Lehrmethode. Wir stehen allerdings noch ganz am Anfang.
Was ist das Besondere an dieser Lehrmethode?
Denk- und Arbeitsweisen lernt man eigentlich nur, wenn man sie selbst ausführt: Nicht immer korrekte Lösungen in den Vorlesungen vorgestellt bekommen, sondern versuchen, gemeinsam einen Lösungsweg zu finden! Eine Möglichkeit dies umzusetzen, ist das Konzept der "Umgedrehten Mathematikvorlesung": Vortragsteile werden per Video ins Internet ausgelagert. Dadurch erhält man mehr Raum für Diskussionen im Hörsaal. Hier haben die Studierenden dann die Möglichkeit, gemeinsam in der Gruppe Denkprozesse durchzuführen, indem sie gemeinsam Probleme lösen und versuchen, mathematische Aussagen zu beweisen. Die Studierenden lernen also, warum dieses und jenes Denken nicht zielführend ist und wie es besser geht.
Welche Denk- und Arbeitsweisen werden dabei vermittelt?
Man muss sich überlegen, was die zentralen Denk- und Arbeitsweisen des bestimmten Faches sind. Wie denken zum Beispiel Mathematiker? Dann muss man von dieser wissenschaftlichen Disziplinsichtweise Rückschlüsse ziehen, um herauszufinden, welche Arbeitsweisen in der Vorlesung oder im Unterricht vermittelt werden müssen. Das Problemlösen ist beispielsweise ein zentraler Prozess der Mathematik, wobei zum Beispiel in Deutsch eher der Prozess des Vergleichens eine wichtige Rolle spielt.
Wäre die umgedrehte Vorlesung also auch auf andere Fächer übertragbar?
Ich selbst habe es nur im Fach Mathematik ausprobiert. Aber es gibt zahlreiche andere Personen, die diese Methode auch in anderen Fächern ausprobieren. Sie ist aber natürlich kein "Allheilmittel", sondern eine Methode neben weiteren. Man muss sich entscheiden, ob sie in dem jeweiligen Kontext angebracht ist und zu einem passt.
Wie lange arbeiten Sie schon an diesem Projekt; wurden bestimmte Ziele erreicht?
Ich stehe noch ganz am Anfang, insgesamt experimentiere ich seit einem Jahr. Viele Ergebnisse liegen dabei noch nicht vor. Allerdings verstehe ich mich auch als Aktionsforscher: Das ist ein Forschungsansatz, bei dem es nicht darum geht, generelle Gesetzmäßigkeiten zu entwickeln, sondern Probleme zu lösen. Dabei entstehen dann oft neue Probleme: Wie erreiche ich zum Beispiel, dass die Studierenden die Videos intensiv aufmerksam zu Hause anschauen? Darüber hinaus ist es allerdings auch recht schwierig, Auswirkungen auf den Lernerfolg zu untersuchen, da man in dem realistischen Lehrkontext letztendlich keine zwei getrennten Gruppen mit jeweils unterschiedlichen Lehrmethoden lehren kann.
Könnte dies nicht auf freiwilliger Basis geschehen?
Dann herrscht ein Selektionseffekt, da die Guten mitmachen wollen. Deswegen versuche ich nicht, generelle Gesetzmäßigkeiten herauszubekommen, sondern in meinem konkreten Kontext sukzessive Weiterentwicklung mit Begleitforschung einzusetzen. Allerdings gibt es - zum Beispiel durch Befragungen der Studierenden - Zwischenergebnisse.
Wie war bisher die Resonanz? Gab es Kritikpunkte?
Über 90 Prozent würden so weiter machen, falls sie sich entscheiden könnten. Der Vorteil an diesem Konzept ist, dass sich das Video zu Hause beliebig oft stoppen lässt. Man kann sich in Ruhe vorbereiten und hat genügend Raum, Fragen zu stellen. Ein Kritikpunkt war zum Beispiel der erhöhte Arbeitsaufwand. Man muss diszipliniert sein und sich die Vorlesung zu Hause anschauen. Hier kann man vielleicht eine Methode entwickeln, die es den Studierenden leichter macht, sich selbst zu motivieren. Ich denke beispielsweise an den Einsatz von Quizaufgaben.
Sind Ihre Videos für jeden frei verfügbar?
Ja, sie stehen auf Youtube. Interessant ist auch, dass es andere anschauen. Dazu zählen Studierende von außerhalb, Rentner und auch Schüler. Es wird auch inhaltlich nachgefragt und Fehler werden kommentiert.
Sie besitzen auch eine eigene Website?
Ja, ich verstehe mich als öffentlicher Wissenschaftler. Das heißt, ich denke auch im Web laut über meine Forschung nach und versuche Diskussionen zu erzeugen. Ich schreibe kleine Artikel auch verständlich für "Nicht-Wissenschaftler", in denen ich meine Pläne und Resultate veröffentliche. Auch hier haben andere die Möglichkeit, alles zu kommentieren. Was wiederum ein Input darstellt, der wichtig für meine eigene Forschung ist.
Welche Erkenntnisse Ihrer Forschungsarbeit sind für die Pädagogische Hochschule wichtig?
Das Fach Mathematik hat einen schweren Stand an deutschen Hochschulen: Es wird generell als "schwer" oder als "Hürde" empfunden. Wir beginnen daher zum Beispiel Netzwerke zu bilden, um die Hochschulmathematik zu verbessern. Es ist außerdem gut, wenn sich Lehrende auch mit Hochschuldidaktik auseinandersetzen. Ich habe die Hoffnung, dass dadurch die Mathematiklehre insgesamt besser wird. Ich gehe sozusagen mit dem Vorhaben heran, dass ich meine eigene Lehre verbessern will und damit auch die Lehre an der PH allgemein.
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