Biografie: Amira Gezow, geb. Charlotte Siesel

Nachname:Gezow, geb. Siesel
Vorname:Amira, geb. Charlotte
Geburtsort:Coesfeld, nahe Münster
Geburtsdatum:20.05.1929

„Amira Gezow hat Versöhnung nicht nur gepredigt, sie hat sie auch „gelebt“. (Kondolenzschreiben des Oberbürgermeister Mannheims Peter Kurz am 30.12.2020 zum Tod von Amira Gezow)

Amira Gezow wurde als Charlotte Siesel am 20.05.1929 in Coesfeld nahe Münster geboren. Ihre Mutter kam ursprünglich aus Coesfeld und wollte Charlotte dort zur Welt bringen. Charlotte wohnte aber mit ihren Eltern Ida und Walter Siesel und ihrer vier Jahre älteren Schwester Alice in Dortmund. Die Familie gehörte dem jüdischen Glauben an. Die Familie gehörte zur gehobenen Mittelschicht. Ihr Vater, Walter Siesel, arbeitete in Dortmund als Häuser und Gütermakler. Ihre Mutter konnte sich somit um die Kinder und den Haushalt kümmern. Charlotte und ihre Schwester besuchten einen Kindergarten in Dortmund.

Als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen, änderte sich auch das Leben von Familie Siesel. 1933 wurde das Büro des Vaters zerstört, weswegen er nicht weiterarbeiten konnte und sich einen neuen Beruf suchen musste. Daher zog die Familie im Mai 1934 nach Mannheim in die Mittelstraße 14 in den Stadtteil Neckarstadt. Direkt gegenüber in der Mittelstraße 7 eröffnete die Familie eine Waschküche. Diese Gegend war ein typisches Arbeiterviertel. Man konnte seine Wäsche entweder zum Waschen abgeben oder sie selbst waschen. Charlotte erwähnte in Interviews, dass das Geschäft sehr beliebt gewesen sein soll und sich Stück für Stück vergrößerte, sodass die Familie wieder komfortabler leben konnte.

Charlotte Siesel ging in der Neckarstadt in den katholischen Kindergarten. Dort soll sie von den Nonnen sehr gemocht worden sein und durfte bei der Prozession sogar Jesus in den Armen tragen. Nach dem Kindergarten ging Charlotte Siesel auf die Luisenschule in K2,6. Die Luisenschule, heute Max-Hachenburg-Schule, hatte extra Klassen nur für jüdische Kinder, wo sie auch Hebräisch lernten. Zudem durften die jüdischen Kinder keinen Kontakt mit den anderen Kindern auf der Schule haben. Sie erinnert sich auch an Luftschutzbunkerübungen. Bei diesen wurden die jüdischen Kinder von den anderen Kindern separiert. Nachmittags ging sie in den jüdischen Hort in der Werftstraße. Dort konnten jüdische schulpflichtige Kinder den Nachmittag verbringen und wurden betreut. Hort und Kindergarten wurden von Rosel Oppenheimer und Gertrud Steinschneider betrieben.

Samstags besuchten Charlotte und Alice Siesel die jüdische Schule in K2, wo sie sich mit ihren Freund*innen trafen. Eine ehemalige Klassenkameradin von Alice Siesel berichtet, wie neidisch sie auf die schönen Samstagkleider der beiden Mädchen war (Stadtjugendamt Mannheim, 1995, S.28).

Laut Charlotte soll die Familie kurz vor der Reichspogromnacht am 9. November 1938 durch ihre Vermieterin gewarnt worden sein. Sie sollten ihrer Vermieterin ihre Güter mitgeben und sich verstecken. Charlotte und Alice Siesel wurden bei Nachbarn*innen versteckt. Laut Charlotte fuhren Walter und Ida Siesel zu angezündeten Altersheimen, um dort bei der Verlegung der Bewohner zu helfen.

Das Haus der Siesels wurde nicht zerstört. Nach der Pogromnacht musste die Familie ihre Güter verkaufen, wie Besitz und Wäscherei. Charlotte Siesel bekam nun auch mit, wie es anderen Jüd*innen erging, da sie zum Beispiel merkte, dass ihr Lehrer, Manfred Kälbermann, 1939 nicht mehr zum Unterricht erschien. Später erfuhr sie, dass er sich selbst umgebracht hatte, da die Familie keine Papiere für die Ausreise erhielt, obwohl nur einige Tage später seine Familie nach Israel flüchten konnte.

1939 konnte die Schwester Charlottes mit einem Kindertransport nach England gebracht werden, da die Schwester von Ida Siesel, Klara Bendix, in London lebte und für sie bürgen konnte. Für Charlotte Siesel konnte dies erstmal nicht organisiert werden und nach dem Kriegsausbruch war es zu spät.

Als es Jüd*innen nicht mehr erlaubt war größere Wohnungen zu besitzen, musste die Familie in die Quadrate (F2), in die Nähe der Synagoge, umziehen. Dort lebten sie zusammen mit einer anderen Familie, die sich jedoch nicht selbst versorgen konnte, sodass Charlottes Mutter die Betreuung mit übernahm.  

Charlotte Siesel erinnerte sich auch an den Tag ihrer Deportation nach Gurs. Am 22. Oktober 1940 wurden die Familien in der Wohnung, von Männern der Gestapo, aufgefordert ihre Sachen für eine Reise zu packen und sich Proviant zu besorgen. Charlotte Siesel wurde von ihrer Mutter beauftragt schnell mit den Rationierungskarten einkaufen gehen. Ihre Eltern packten währenddessen für alle das Gepäck. Als Charlotte vom Einkaufen zurückkam, waren die Männer bereits wieder da. Ihr Vater musste unterschreiben, dass alles, was nicht gepackt wurde, nun nicht mehr ihnen gehört. Dennoch war er davon überzeugt, dass sie wieder heimkehren würden, weswegen er Charlotte sagte, dass sie ihre Puppe dalassen sollte, da sie auf der Reise verloren gehen könnte. Die gelähmte Frau, um die sich Charlottes Mutter gekümmert hatte, wurde in der Wohnung zurückgelassen. Die Wohnung wurde plombiert und Charlotte hat nie erfahren, was mit der zurückgelassenen Frau geschehen ist.

Zuerst kamen sie zum Hauptpolizeiamt, wo ihre Sachen und Taschen überprüft wurden. Charlottes Mutter gefährdete die Familie, weil sie Geld in die Mäntel genäht hatte. Jedoch hatten sie Glück und das Geld wurde nicht gefunden. Daraufhin musste die Familie zu Fuß zum Bahnhof im Mannheimer Stadtteil Waldhof laufen, wo bereits sehr viele Leute standen. Charlotte Siesel war zu dieser Zeit 11 Jahre alt. In einem Interview 1992 erinnerte sich Charlotte Siesel an den Weg zum Bahnhof:

Wir gingen durch Mannheim und da standen die Leute, die da auf dem Weg waren. Einige haben sich umgewendet. Sie wollten den Blick nicht auf uns richten. Andere haben applaudiert. Sie haben sich gefreut, daß man endlich die Juden wegschickt. Andere haben sich geschämt...“ (Stadtjugendamt Mannheim, 1995, S.85).

Laut Charlotte Siesel standen am Bahnhof lange Züge bereit, in denen die Familie einsteigen musste. In jedem Waggon stand ein Soldat Wache. Keiner von ihnen wusste, wo sie ankommen würden und sie fuhren tagelang, ohne hinausschauen zu dürfen. Nach und nach drehten ein paar Passagiere durch und schlugen um sich. Charlotte Siesel erinnerte sich zum Beispiel an den „alten Dreyfuss“. Dieser soll auf der Zugfahrt um sich geschrien haben. Er soll von Soldaten aus dem Zug gezogen worden sein. Kurz darauf hörte Charlotte einen Knall und der Zug fuhr weiter. Vermutlich handelte es sich bei der Geschichte um Albert Dreyfuss aus Mannheim. Dieser war zum Zeitpunkt der Deportation 76 Jahre alt und wurde ohne Familienangehörige deportiert. Charlotte vermutete zwar, dass er an dem Bahnhof erschossen worden sei, Aber Albert Dreyfuss ist jedoch am 31.Oktober 1940 im Lager Lannemezan in Südfrankreich gestorben.

Nach ca. 4-5 Tagen kam der Zug nachts in Oloron an. Von Oloron ging es in Transportlastwagen nach Gurs, wo es sehr kalt war und stark regnete, sodass der Boden schlammig und nass war. Dort wurden Männer und Frauen getrennt. Charlotte wurde mit ihrer Mutter in eine Baracke gebracht, in welcher es keine Möbel gab. Charlotte und ihre Mutter mussten, wie auch alle, die mit ihnen in der Baracke waren, auf dem Boden schlafen.

Sie bekamen nur lauwarmes Wasser und ein bisschen Brot zu essen, da in Frankreich eine Hungersnot herrschte und das Lager Gurs mit den neuen Insassen überfordert war. Erst nach einigen Tagen bekamen Charlotte und ihre Mutter Stroh zum Schlafen. Eine Tante von Charlotte war in Deutschland geblieben und schickte ihnen Geschirr und einen kleinen Kocher, damit sie sich selbst Mahlzeiten kochen konnten.     

Charlotte Siesel erzählte auch von den Zuständen in den Lagern. Die hygienischen Bedingungen im Lager Gurs waren katastrophal. Es gab Läuse, Flöhe, Ratten und Mäuse. Viele Menschen bekamen die Ruhr und Gelbsucht. Charlotte Siesel wurde in Gurs eine Botin eines Büros in Gurs. Sie durfte Briefe in den Baracken verteilen und konnte dadurch auch ihren Vater sehen. Dafür bekam sie kein Geld, aber eine Ration Brot. Um ihrer Mutter ein Geschenk zum Geburtstag zu kaufen, wusch Charlotte die Kleidung anderer Leute. Von dem Geld kaufte sie ihrer Mutter eine Dattelschachtel. Charlotte war viel mit anderen Kindern im Lager unterwegs. Die Kinder sind durch den Stacheldraht in die Stadt gegangen. Dort bekamen sie oft von den Bewohnern*innen etwas zu essen oder sie durchsuchten den Müll. Einige Zeit später wurde eine Kinderbaracke vom Roten Kreuz eröffnet.

Ida Siesel schickte ihre Tochter zur Kinderbaracke. Dort wurden die Kinder betreut und bekamen Essen zum Beispiel Milch und Zucker. Charlotte Siesel vermisste ihre Mutter. Deshalb ging Charlotte zurück zu ihrer Mutter. Charlotte erkrankte auch an Gelbsucht und kam ins Lazarett. Dort wurde sie von der OSE versorgt und wurde wieder gesund. In einem Interview erzählte sie, wie sie im Lazarett auf Elsbeth Kasser, den sogenannten „Engel von Gurs“, getroffen sein soll. Sie war eine Krankenschwester, die freiwillig im Lager arbeitete. Sie gab den Kindern Zucker und Milch und erhielt viele Spenden aus der Schweiz. Es waren auch viele Lehrer*innen in Gurs gefangen, die die Kinder unterrichteten und ihnen halfen. Daneben gab es auch Künstler in Gurs, die halfen. Es wurde zum Beispiel eine Kinderschauspielgruppe zusammengestellt, in der auch Charlotte Siesel viel Zeit verbrachte.

Im Januar 1941 wurde Familie Siesel ins Lager Rivesaltes gebracht. Charlottes Vater hatte gehört, dass dort bessere Bedingungen herrschen sollten. Die Familien konnten sich treffen und das Klima war etwas besser, jedoch gab es dort starke Winde, die oft die Baracken zerstörten.  Zudem bekam Charlottes Mutter auf dem Weg nach Rivesaltes die Ruhr und Charlotte musste sich somit um ihre Mutter kümmern.

In Rivesaltes durfte Charlotte mit ihren Eltern spazieren gehen und sich mit ihrem Vater treffen, was sie sehr freute. Zudem eröffneten Hilfsorganisationen aus der Schweiz und Amerika mehrere Kinderheime in der Nähe von Rivesaltes. Die Eltern von Charlotte schickten sie in das OSE-Heim Le Couret bei Limoges, wo sie einige Zeit lebte. In dieser Zeit konnten sich Charlotte und ihre Eltern nur Briefe schreiben und Charlotte schickte auch immer wieder Päckchen mit Essen an sie.

Im August oder Anfang September 1942 wurden die Kinder wieder zurück nach Rivesaltes geschickt unter dem Vorwand, dass die Eltern die Kinder wiederhaben wollten. Jedoch waren viele Eltern bereits tot oder waren weiter deportiert worden. Charlotte Siesel fand beide Eltern vor. Dennoch waren ihre Eltern in schlimmer Verfassung, da beide zu Zwangsarbeit gezwungen worden waren. In Rivesaltes mussten sich alle, jeden Morgen, auf dem Appellplatz zusammenfinden und, die die aufgerufen wurden, wurden nach Auschwitz deportiert.

Charlotte erschien mit ihren Eltern jeden Tag, doch sie hatten noch keine Papiere. Am 15. September 1942 änderte sich dies und die Familie wurde in einen Zug gebracht. Im Zug wurde den Insassen angekündigt, dass das Rote Kreuz Kinder vom Zug nehmen würde, wenn die Eltern dies erlaubten. Charlottes Mutter wollte sie nicht gehen lassen, aber ihr Vater schickte sie zum Roten Kreuz und sagte ihr, dass es da, wo sie hinkämen, wahrscheinlich keine Schule geben würde.
Charlotte sah ihre Eltern nie wieder.

Charlotte Siesel wurde im Anschluss in eine Kinderbaracke gebracht. Danach gingen sie und ein weiteres Mädchen mit einer Rotkreuzschwester nach Grenoble, wo sie bei einer jüdischen Familie lebten. Diese pflegten Charlotte, die unterernährt und krank war. Da jedoch die Wohnungen regelmäßig nach Flüchtigen durchsucht wurden, kamen beide Mädchen zu einer wohlhabenderen Familie nach Grenoble. Doch mussten beide Mädchen diese wieder verlassen und wurden zu einer ärmeren Familie geschickt, wo sie in der Küche auf Stühlen schlafen mussten.

Charlotte Siesel wollte unbedingt in die Schweiz, da ihre Eltern dort Freunde hatten und ihre Eltern ihr gesagt hatten, dass sie sich dort wiedertreffen würden. Nach drei Monaten in Grenoble wurde sie durch eine Frau in die Schweiz gebracht. Dort kam Charlotte in ein Flüchtlingsheim in Genf. Jedoch wechselte sie die Heime ständig.           
Anfang 1943 kam sie zu den Freunden von ihren Eltern nach Zürich. Dort ging sie auch wieder in die Schule. Die Freunde ihrer Eltern schickten Charlotte zu der jüdischen Jugendbewegung Hashomer Hatzair. Nach dem zweiten Weltkrieg ging sie mit dieser Jugendbewegung nach Palästina, wo sie im Kibbuz Eilon lebte. Hier lernte Charlotte ihren Mann Zwi Gezow kennen und blieb in Eilon.

Charlotte Siesel hat vier Kinder, acht Enkel und acht Urenkel. Sie änderte dort auch ihren Namen von Charlotte zu Amira. Bis ins hohe Alter reiste Amira Gezow und trat als Zeitzeugin auf. Amira Gezow ist am 26.12.2020 im Alter von 91 in Israel verstorben.