Biografie: Sigmund, Bertha und

Ernst Berthold Beer

"1919 zogen Sigmund und Bertha Beer in den Heidelberger Stadtteil Rohrbach, um sich mit ihrer „Nudeln- und Mazzenfabrikation“ ein Leben in einer traditionsreichen jüdischen Gemeinde aufzubauen. In den 21 Jahren bis zu ihrer Deportation nach Gurs erlebten sie das Ende des Zusammenlebens jüdischer und nicht-jüdischer Rohrbacher."

 Das Leben der Beers

„Ich sah aus dem Haus des Juden Oppenheimer Markt 7 einige Personen herauskommen. … Diese stiegen in ein vor dem Haus stehendes Auto ein.“ „Beim Anfahren des Wagens kam aus der Menge ein Soldat auf den Wagen zu und schlug dem am Ende des Wagens rechts sitzenden Juden Beer (Nudelfabrikant) eine ins Gesicht“ (Moraw 2012). So berichten Zeugen in einem Spruchkammerverfahren im Januar 1947 und im Sommer des gleichen Jahres in einem Strafverfahren vor dem Heidelberger Landgericht von der Deportation der Bewohner des sogenannten Judenhauses am Marktplatz in Heidelberg. Beer soll sich unmittelbar vorher „durch Zuruf zu einer Person verabschiedet“ haben. Dieser Vorfall sorgte dafür, dass die eigentlich laut Anweisung „geordnet und „reibungslos“ ablaufende Aktion noch länger Gespräch in den Altstadt-Gasthäusern war.

Wer war der „rechts sitzende Jude Beer“?

Sigmund Beer wurde 1886 in Baiertal (Wiesloch) geboren. Wie sein Vater erlernte Sigmund das Bäckerhandwerk. 1919 heiratete er in Ludwigshafen die aus Neustadt an der Weinstraße stammende Bertha Hochstädter (geboren 1890). Im gleichen Jahr zogen die Eheleute nach Rohrbach, erwarben das Haus Rathausstraße 64 und eröffneten dort eine „Nudeln- und Mazzenfabrikation“. Am 1. September 1920 wurde ihr einziges Kind, der Sohn Ernst Berthold geboren. Geschäftlich begann jedoch eine schlechte Zeit. Vielleicht durch die Wirtschaftskrise gerieten sie in Überschuldung. 1933 stand ihr Geschäft auf der Boykott-Liste der Nationalsozialisten, eine wirtschaftliche Erholung war nun nicht mehr möglich. Der Sohn Ernst emigrierte am 20. September 1938 zu Verwandten in die USA.

Am 10. November 1938 wurde die Rohrbacher Synagoge von Angehörigen des SA-Studentensturms und Mitgliedern des Pioniersturms geplündert und angezündet und auch das Geschäft der Beers wurde verwüstet. Sigmund Beer wurde am 11. November mit 74 anderen Heidelberger Juden verhaftet und in Dachau interniert. Noch vor seiner Rückkehr am 22. Dezember 1938 wurden die noch bestehenden jüdischen Einzelhandels- und Handwerksbetriebe „arisiert“. Für die Zahlung der sogenannten Judenvermögensabgabe 1939 als „Sühneleistung“ musste Bertha Beer das Haus belasten. Im März 1940 verloren die Beers nach dem Geschäft nun auch ihr Zuhause durch Zwangsversteigerung.

Vermutlich bewohnten sie ab diesem Zeitpunkt ein Zimmer im „Judenhaus“ am Marktplatz 7 in Heidelberg. Von dort wurden sie mit weiteren acht Bewohnern in einem mit Zeltplanen überdeckten Lastwagen zum Bahnhof gebracht, um mit 299 anderen jüdischen Bürgern Heidelbergs ins Lager Gurs deportiert zu werden.

Briefe aus Gurs an ihren Sohn Ernst in New York dokumentieren, dass beide Seiten versuchten, noch eine Auswanderung über Portugal zu organisieren: „Erwarten Nachricht sind gesund. Wie geht es Euch. Sendet Geld durch Quäker, brauchen dringend auch Pakete. Portugal sehr nötig. Gruss Kuss Mutter, Vater, 25. März 1942“ und am 15. April 1942: „Hoffe Euch gesund. Wir sind gesund. Sendet Geld, Lebensmittel. Erwarten Post. Papiere Washington. Gebt Nachricht, ob eingereicht. Besucht Bernhard Mayer, Gruß Mutter, Vater.“

Ernst Berthold schickte Ausreisepapiere zum amerikanischen Konsulat nach Stuttgart und erneut Papiere nach Marseille. Beide konnten die Eltern nicht nutzen. Sie wurden ins Lager Drancy verbracht und am 10. August 1942 nach Auschwitz. Vermutlich wurden sie gleich nach ihrer Ankunft ermordet. Am 8.5.1945 wurden sie für tot erklärt.

 

Die Familie Beer und die jüdische Gemeinde in Rohrbach

Der alte Ortskern von Rohrbach um die Rathausstraße, in der die Beers wohnten, zeigt heute ein freundliches Ortsbild mit lebendigem Straßenleben. Schräg gegenüber des Beer’schen Hauses steht auch heute noch der „Rote Ochse“, weiter oben gibt es noch die „Traube“ und die „Linde“. Man kann sich vorstellen, wie in den 1920er und 30er Jahren die Rohrbacher durch die Rathausstraße gingen, um in den Lokalen einzukehren und in den Läden wie in der „Nudeln- und Mazzenfabrikation“ einzukaufen. Stolpersteine und der Gedenkstein für die zerstörte Synagoge erinnern daran, dass auch jüdische Bürger zum Ortsleben gehörten. Rohrbach hatte eine traditionsreiche jüdische Gemeinde, die sich 1845 eine Synagoge in der Rathausstraße in unmittelbarer Nähe zum Rathaus bauen konnte. Am größten war die Gemeinde 1865 mit 122 Mitgliedern, 1910 gab es nach Abwanderungen nur noch 39 Mitglieder.

Es ist nicht bekannt, ob die Beers sehr religiös waren und sich in der Gemeinde engagierten. Ihre Mazzenfabrikation (Mazzen – ungesäuertes Brot, das am Pessach-Fest gegessen wird) zeigt jedenfalls, dass jüdische Traditionen zu ihrem Leben gehörten. Aus ihren Fenstern konnten sie sehen, wenn sich am Schabbat die Gemeindemitglieder vor der Synagoge versammelten. Die Mikwe (jüdisches Ritualbad) lag ihrem Haus genau gegenüber auf der anderen Seite der Straße, wo der Rohrbach vorbeifloss. Vielleicht erschien ihnen Rohrbach auch deshalb als ein guter Ort, um ihr gemeinsames Leben zu beginnen.

Mit ihrer „Nudeln- und Mazzenfabrikation“ konnten sie ein etabliertes Geschäft übernehmen. Bertha Beer erwarb das Haus Rathausstraße 64 von Nathan Gutmann, der zu einer alteingesessenen jüdischen Familie Rohrbachs gehörte. Schon im 19. Jahrhundert hatten Gutmanns im Haus eine Teigwarenfabrikation geführt. Die Beers richteten ihr Geschäft und die Fabrikation im Erdgeschoss ein, den 1. Stock bezogen sie als Wohnung, ein weiteres Geschoss wurde vermietet. Bertha kümmerte sich um die Buchhaltung und vertrat ihren Mann im Geschäft, wenn dieser auf Geschäftsreisen war. Das Geschäft war als „Nudel-Beer“ in Rohrbach bekannt und die Beers konnten mehrere Angestellte beschäftigen. Die Rückerstattungsansprüche, die Ernst Berthold Beer stellte, lassen einen bescheidenen Wohlstand erkennen. Gemälde, Dresdner Porzellan, Silberbesteck und ein Klavier gehörten zur Einrichtung ihrer Wohnung. Ein Auto, ein Mercedes-Benz, erleichterte die Geschäftsreisen.

Die Beers und die anderen jüdischen Gemeindemitglieder waren Teil des Rohrbacher Lebens. Ernst Berthold Beer besuchte die Grundschule in Rohrbach und dann die weiterführende Schule in Heidelberg. Die Enkelin des Gemeindevorstehers Oskar Ehrmann aus der Schosstrasse (zwischen Rathausstraße und Schlösschen, heute Amalienstraße) erinnert sich an ihre Großeltern: „Sie waren so sehr in das deutsche Leben integriert, dass sie sich nicht als Juden betrachteten, die zufällig Deutsche waren. Sie fühlten sich als Deutsche, die zufällig Juden waren.“ Karl Mayer aus der Rathausstraße 41 war zeitweise Vorsitzender im Synagogenrat und Kommandant der Freiwilligen Feuerwehr. Als deren 50jähriges Gründungsjubiläum mit einem Dorffest gefeiert wurde, fand der Probealarm mit Löschübung auf dem Gelände der Beer’schen Teigwarenfabrik statt.

Gleichzeitig war Rohrbach bei den Reichstagswahlen 1933 der Heidelberger Stadtteil mit dem höchsten Stimmanteil für die NSDAP (52,67%). Die Beers haben vermutlich mit wachsendem Unbehagen wahrgenommen, wie das jüdische Leben immer mehr aus Rohrbach verdrängt wurde. Der Boykott traf neben ihrer Fabrikation auch den Landprodukte- und Tabakgroßhandel Oskar Ehrmanns und das kleine Bekleidungsgeschäft mit Änderungsschneiderei von Cäcilie Wahl und ihrem Sohn Heinrich in der Rathausstraße 3. 1934-1936 wanderten die erwachsenen Kinder von Karl und Bertha Mayer aus der Rathausstraße 41 nach Argentinien aus. 1937 mussten ihre Eltern das Haus verkaufen, 1938 folgten sie ihren Kindern nach Argentinien. Gemeindevorsteher Oskar Ehrmann verkaufte 1936 sein Haus mit dem Landprodukte- und Tabakgroßhandel und zog zurück nach Nussloch und von dort 1937 in die USA. Heinrich Wahl konnte untertauchen und entkam 1941 mit dem Schiff von Vigo in Spanien aus in die USA. Nathan Wolff aus der Rathausstraße 10 konnte 1940 nach Brasilien flüchten.

Auch Beers haben vermutlich über Emigration nachgedacht, da ihr Sohn am 20. September 1938 zu Verwandten in die USA auswanderte. Sein Berufsziel Maschinenbauingenieur konnte Ernst hier nicht verwirklichen, das entsprechende Studium war ihm verwehrt. In den USA machte er schließlich eine Lehre zum Werkzeugmacher und gründete eine Familie. Er hatte zwei Kinder und lebte von 1965 an in Van Nuys, Kalifornien. Hier starb er im Jahr 1986.

Falls auch seine Eltern auswandern wollten, konnten sie die hohen Kosten dafür wohl nicht mehr aufbringen.

Als am frühen Morgen des 10. November 1938 Angehörige des SA-Studentensturms nach der Zerstörung der Heidelberger Synagoge nach Rohrbach marschierten und zusammen mit Mitgliedern des Pioniersturms der SA mit Äxten die Tür zur Rohrbacher Synagoge zerschlugen, war das wohl auch im Haus der Beers zu hören. Die SA zertrümmerte im Inneren der Synagoge die Holzeinrichtung und schichtete die Trümmer mit Büchern und Akten auf einen Stapel, den sie in Brand steckte. Die Rohrbacher Feuerwehr durfte ein Übergreifen des Brandes auf Nachbargebäude verhindern, dadurch griff das Feuer nicht auf Deckengebälk und Mauern der Synagoge über. Etwa 15 bis 20 umstehende Zuschauerinnen und Zuschauer sollen die Ereignisse beobachtet haben. Vielleicht sahen auch Beers aus ihren Fenstern die Schändung ihrer Synagoge, bevor die Täter auch zu ihrem Haus zogen. Zeitzeugen erinnern sich, dass die Mehlsäcke der Fabrikation ausgeleert auf der Straße lagen.

Mit der erzwungenen Umsiedlung in „Judenhäuser“ und der Deportation der verbliebenen Heidelberger Juden endete auch das jüdische Leben in Rohrbach.