Die jüdische Gemeinde von Heidelberg-Rohrbach

1. Einleitung

Mit dieser Inschrift erinnert ein Mahnmal auf dem Rathausplatz des Heidelberger Stadtteils Rohrbach an die jüdische Gemeinde und ihre Synagoge. Es wurde 1985 am ehemaligen Standort der Synagoge errichtet. Der Grundriss der Synagoge ist mit weißem Stein im Boden nachgezeichnet. Das Mahnmal hat einen prominenten Platz im alten Ortskern von Rohrbach. Nebenan ist das Rathaus, gegenüber sind Cafés, teils mit Bestuhlung auf dem Platz neben dem Mahnmal, auf Bänken nebenan sitzen Spaziergänger.

Wer mit gesenktem Blick läuft, findet beim Spaziergang durch Rohrbach auch die Stolpersteine vor den Häusern der jüdischen Bewohner des Ortskerns. Mahnmal und Stolpersteine sind die heute sichtbaren Hinweise auf Leerstellen („Voids“ – wie sie im Jüdischen Museum Berlin genannt werden): Wer waren die Bewohner der Häuser? Wie lebten sie? Und wie lebten sie und die nicht-jüdischen Rohrbacher zusammen? Wie verschwanden sie und mit ihnen die jüdische Gemeinde von Rohrbach?

Um das „Verschwinden“ der jüdischen Gemeinde Rohrbachs zu erzählen, bietet es sich an, bei den Biografien ihrer Mitglieder anzuknüpfen. Dabei beschränke ich mich auf die Mitglieder, die im alten Ortskern um die Rathausstraße herum wohnten. Die Auswahl der biografischen Beispiele ist also durch den Ort bestimmt und kann sich nicht nach der Quellenlage richten. So fand ich im Rahmen dieser Arbeit keine autobiografischen Zeugnisse der Personen und nur wenige Fotos. Aber von allen sind ihr Schicksal in der NS-Zeit und die Auswirkungen der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik dokumentiert, und von allen ist ihr Wohnort heute noch sichtbar. Es waren gewöhnliche“ Menschen, die als Individuen in den Zwängen ihrer Zeit handelten. So bilden sie alle die „Biografie“ der jüdischen Gemeinde Rohrbachs und können das „Verschwinden“, den Verlust einer solchen Gemeinde mit ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihren lebendigen Persönlichkeiten veranschaulichen.

Da ich im Rahmen dieser Arbeit zu den einzelnen Gemeindemitgliedern nur wenige Quellen gefunden habe, ist es schwierig, die Forderung nach Multiperspektivität zu erfüllen. Die Fragestellung bringt zunächst eine Konzentration auf die Perspektive der jüdischen Rohrbacher mit sich. Aber es gibt einige wenige Berichte, die eine nicht-jüdische Rohrbacher Sicht auf das  Zusammenleben zumindest anleuchten.

Zur Wahrnehmung der zunehmenden Verfolgung liegen mir ebenfalls keine direkten Zeugnisse vor. Diese lässt sich also nur aus den dokumentierten Handlungen und Reaktionen auf die Maßnahmen der Nationalsozialisten erschließen. Dadurch ist es schwierig, an diesen Beispielen Handlungsspielräume aufzuzeigen. Aber allein die Unterschiedlichkeit der Schicksale und der Reaktionen der verschiedenen jüdischen Rohrbacher, die natürlich auch von ihren persönlichen Lebensumständen abhingen, zeigt eine – wenn auch kleine – Varianz in der Nutzung eines durch die Verfolgung sehr beschränkten Handlungsspielraums durch die Verfolgten. An wenigen Punkten der Geschichte der Rohrbacher Gemeinde werden Zuschauer und Mittäter5 erwähnt. Auch hier soll ein kurzer Blick auf möglichw Handlungsspielräume erfolgen.

Die Wohnhäuser der Gemeindemitglieder sind noch alle – kaum verändert – vorhanden. Sie verstärken den regionalen Bezug und stellen Anschaulichkeit und emotionale Anknüpfungspunkte her.

2. Die jüdische Gemeinde von Rohrbach zu Beginn der 1930er Jahre

Die jüdische Gemeinde von Rohrbach entstand im 17. Jahrhundert und gehörte damit zu den besonders traditionsreichen Gemeinden.7 Die höchste Mitgliederzahl ist für die jüdische Gemeinde mit 122 Personen für 1865 verzeichnet.8 Danach nimmt – wie auch allgemein in den ländlichen Gemeinden in Baden vermutlich durch Abwanderung in die Städte und Überalterung – die Mitgliederzahl ab: Für 1910 sind nur noch 39 Mitglieder genannt. Die Gemeinde hatte zu ihren Hochzeiten eine jüdische Schule und für religiöse Aufgaben einen Lehrer, der auch als Vorbeter und Schochet tätig war. Auch eine eigene Mikwe (heute eine Lücke zwischen den Häusern Rathausstr. 47 und 53) war vorhanden. Nachdem der Betsaal in einem der Wohnhäuser Anfang der 1840er Jahre deutlich zu klein geworden war, konnte die Gemeinde ein Grundstück direkt auf dem Rathausplatz erwerben und dort über Darlehen finanziert eine Synagoge bauen. Eine nicht-jüdische Sicht auf die Weihefeier am 16. Dezember 1845 ist durch den anwesenden katholischen Ortsgeistlichen überliefert. Die „Allgemeine Zeitung des Judentums“ zitiert seinen Bericht aus dem Rohrbacher Journal:

„Die Feier war erhebend und erbauend sowohl durch den schönen Gesang _ als auch durch die vom Rabbiner gesprochene Weihepredigt. Nicht nur der deutliche würdevolle Vortrag und die durchsichtige, wohl gelungene Durchführung des Themas, sondern auch vor allem der reine Gottesdienst und die vortreffliche sittliche Anwendung der Zeremonie war es, was der seltenen Feier eine wahrhaft religiöse Weihe verlieh, und selbst die Gemüter der mit dem Judentum sonst nicht befreundeten nicht unbewegt und unerbaut ließ.“ (Zitiert nach https://www.alemannia-judaica.de/rohrbach_synagoge.htm, überprüft 16.4.2021 )

 

Aus den Worten des katholischen „Kollegen“ scheint berufsbedingte echte Wertschätzung für die theologische Leistung des Rabbiners und die liturgische Feierlichkeit zu sprechen. Eine Synagogenweihe zu erleben, war etwas Besonderes. Anscheinend waren noch weitere nichtjüdische Personen anwesend, da „mit dem Judentum sonst nicht befreundete“ erwähnt werden. „Nicht befreundet“ ist hier vermutlich im Sinne von „nicht vertraut“ zu verstehen und nicht als „feindlich gesinnt“, da nicht anzunehmen ist, dass die Personen sonst bei der Weihefeier anwesend gewesen wären und „bewegt und erbaut“ werden könnten.

Die Synagoge stand nun mitten in der Rohrbacher Altstadt direkt neben dem Rathaus. Das Foto von einer Glockenweihe für die evangelische Kirche zeigt den Festzug, der die Rathausstraße hinauf an der Synagoge vorbeikommt. Auch wenn sich hier nicht direkt etwas über die Art des Zusammenlebens jüdischer und nicht-jüdischer Rohrbacher*innen erschließen lässt, so ist dadurch doch eine äußerliche Integration der Gemeinde gegeben, die sicherlich auch zumindest zu einer Gewöhnung führte: Wer täglich am jüdischen Gotteshaus vorbeiging, wird dieses nicht mehr als fremd oder nicht zugehörig wahrgenommen haben.

In der Rathausstr. 3 nahe der katholischen Kirche wohnten Cäcilie (*1883) und Heinrich Wahl (*1877). Cäcilie stammte aus einer alteingesessenen Rohrbacher Familie. Ihr gehörte das Haus, in dem sie ein kleines Bekleidungsgeschäft mit Änderungsschneiderei betrieb. Die Kinder Walter, Richard Bernhard und Fanny Waltut (genannt Trudel) waren schon aus dem Haus. Vermutlich durch die Weltwirtschaftskrise waren sie in eine finanziell schwierige Lage geraten, so dass sie 1930 das Haus an die H&G-Bank überschreiben mussten.

Schräg gegenüber in der Rathausstr. 10 wohnten Sophie Wolff (*1857) und ihr Sohn Nathan (*1880). Nathans Vater Benjamin Wolff (1851-1917) stammte aus einer der ersten jüdischen Familien, die sich nach dem Pfälzischen Erbfolgekrieg um 1700 in Rohrbach niederließen. Nathan war reisender Kaufmann und dann Prokurist der Badischen Möbelwerke AG. Nathans Schwester Ernestine hatte den Möbelhändler und Erben der Badischen Möbelwerke Gustav Basnitzki geheiratet, der dann mit Nathan die Verwaltung der Möbelwerke in Heidelberg übernahm. Sein Bruder Ferdinand war seit 1914 Rechtsanwalt in Heidelberg und Mitglied der SPD.

Ging man weiter die Rathausstraße hinauf an der katholischen Kirche vorbei, erreichte man links die Synagoge und etwas versetzt dahinter zwischen Synagoge und Rathaus das 1841 erbaute Haus Nr. 41 der Familie Mayer, die ebenfalls zu den alteingesessenen Familien gehörte. Karl Mayer (*1868) arbeitete erfolgreich als Tabakprüfer und -händler. Er und seine Frau Berta (*1884) schickten ihre drei Töchter Irma Luise (*1909), Johanna (*1914) und Ruth Sofie (*1917) auf das Mädchen-Realgymnasium in der Plöck und ermöglichten ihnen im Anschluss eine Berufsausbildung. Karl Mayer übernahm Ämter in der jüdischen Gemeinde und in der Rohrbacher Freiwilligen Feuerwehr. Seit 1910 war er dort 1. Kommandant, 1933 wurde er für seine 40jährige Mitgliedschaft geehrt.

Weiter die Straße hinauf zweigt rechts die Amalienstraße (damals Schlossstrasse) zum Rohrbacher Schlösschen ab, das damals schon Teil der Tuberkuloseklinik (heute Thoraxklinik) war. In der Amalienstraße 4 wohnte Familie Ehrmann mit Oskar Salomon Ehrmann (*1894), seiner Frau Regina geb. Menges (*1896), den Söhnen Hans (*1923) und Rolf (*1925) und Reginas Mutter Berta Menges geb. Metzger (*1860) und deren Schwester Sofie Metzger (*1863). Auch Metzgers gehörten zu den alteingesessenen Familien. Oskar Salomon übernahm von seinem Schwiegervater die Mehl- und Futterartikelhandlung im Erdgeschoss und richtete noch einen Landprodukte- und Zigarrengroßhandel ein. Die Söhne besuchten die Volksschule in Rohrbach und danach die Oberrealschule in Heidelberg. Als 1935 die Familie bei einem Verwandtenbesuch in Detmold einen Verkehrsunfall hatte, bei dem Regine Mayer starb, berichtete die hiesige Tageszeitung den Hergang des Unfalls und schloss:

„Nebst dem Gatten bedauern zwei schulpflichtige Knaben und die hochbetagte Mutter den Verlust. Auch seitens der Rohrbacher Einwohner wird der schwergeprüften Familie herzliche Teilnahme entgegengebracht.“ (Zitiert nach: Broschüre Heidelberger Stolpersteine zu Familie Ehrmann/Menges/Metzger S. 8, http://www.stolpersteine-heidelberg.de/mediapool/63/638182/data/2020/07_Ehrmann_Text.pdf, überprüft 16.4.2021)

Auch wenn ohne weitere Recherche schwierig zu entscheiden ist, ob es sich hier um mehr als eine übliche Teilnahmeformel handelt, zeigt der Bericht, dass Ehrmanns in Rohrbach bekannt und etabliert genug waren, dass ihr Schicksal allgemein wahrgenommen wurde und auch von der Zeitung nicht übersehen werden durfte. Nach dem Tod von Reginas Tante 1934 und Reginas Mutter 1935 blieb Oskar nun mit seinen Söhnen allein zurück.

Folgte man der Rathausstraße aufwärts in Richtung der evangelischen Kirche, kam links die Mikwe und rechts gegenüber die „Nudeln- und Mazzenfabrikation“ der Familie Beer im Haus Rathausstr. 64. Sigmund (*1886) und Bertha Beer (*1890) waren erst 1919 nach Rohrbach gekommen, wo ein Jahr später ihr Sohn Ernst Berthold geboren wurde. Sie übernahmen jedoch ein schon etabliertes Geschäft und konnten sich im oberen Stockwerk des Hauses gut einrichten. Ernst Berthold besuchte die Grundschule in Rohrbach und dann eine weiterführende Schule in Heidelberg. Vermutlich durch die Weltwirtschaftskrise ging es den Beers allerdings finanziell Ende der 1920er Jahre zunehmend schlechter.

Die fünf kurzen Darstellungen zeigen die Rohrbacher Gemeindemitglieder als repräsentativ für die jüdische Bevölkerung der Region. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung war klein (in Rohrbach insgesamt mit den neueren Stadtteilen 0,7%), sie gehörten dem Mittelstand an und waren vor allem als Selbständige mit kleinen Geschäften oder im Handel mit Lebensmitteln und Genusswaren (in der Region vor allem Tabak) tätig.

Ihre Situation zu Anfang der 1930er Jahre lässt einen integrierten Alltag der jüdischen Familien erahnen. Es lässt sich nicht erkennen, wie die nachbarschaftlichen Verhältnisse zu den nichtjüdischen Rohrbacher*innen tatsächlich waren. Natürlich werden sie auch bei jeder der fünf Familien individuell verschieden gewesen sein. Karl Mayer hatte als Feuerwehrkommandant eine wichtige Rolle im Rohrbacher Vereinsleben. Beim Dorffest zum 50jährigen Gründungsjubiläum der Feuerwehr sprach er den Willkommensgruß. Die anschließende Löschübung zum Probealarm fand auf dem Gelände der Beer’schen Fabrikation statt.

Nur von den Ehrmanns sind Fotos erhalten. Ein Bild zeigt die Familie zum Foto aufgestellt mit Mutter und Tochter einer Nachbarsfamilie, im Hintergrund Wald. Ob die Kinder miteinander spielten und man deshalb zusammen Ausflüge machte?

3. Die Auswirkungen der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik auf die Gemeinde

Bei den Reichstagswahlen 1933 war Rohrbach der Heidelberger Stadtteil mit dem höchsten NSDAP-Stimmenanteil. Die sofort einsetzenden Maßnahmen der Nationalsozialisten trafen auch die Rohrbacher jüdische Gemeinde. In dem von der NSDAP-Kreisleitung versendeten „Verzeichnis jüdischer Geschäfte Heidelbergs“, bei denen nicht mehr eingekauft werden sollte, standen auch das Bekleidungsgeschäft der Wahls, die Nudeln- und Mazzenfabrikation der Beers und der Landprodukte- und Zigarrengroßhandel Oskar Ehrmanns. Für Wahls bedeutete dies eine weitere Verschlechterung ihrer finanziellen Lage. Cäcilie Wahl starb 1936, zwei Jahre später musste Heinrich Wahl in das „Judenhaus“ in der Bunsenstraße 3 umziehen, da die H&G-Bank das Haus in Rohrbach verkaufte. Auch Beers konnten sich wirtschaftlich so nicht mehr erholen. Sie versuchten vermutlich, das Haus zu verkaufen. 1940 fiel es durch Zwangsversteigerung an den Kreisobersekretär Ludwig Reinhardt und sie mussten in das „Judenhaus“ Marktplatz 7 umziehen. Oskar Ehrmann sah vermutlich schon früh, dass seine Familie keine Lebensgrundlage mehr in Deutschland finden würde. Er verkaufte das Haus 1936 an den Badischen Landesverband zur Bekämpfung der Tuberkulose (heute Thoraxklinik) und zog zunächst mit seinen Söhnen in seinen Geburtsort Nußloch. Von hier begann er mit den Vorbereitungen zur Auswanderung. Von Karl Mayer ist bekannt, dass sich sein Einkommen aus seiner Berufstätigkeit von 1935 bis 1937 um ca. 60% verringerte und dann ganz ausfiel. Ein besonderer Fall ist die Badische Möbelwerke AG, bei der Nathan Wolff arbeitete. Wohl aufgrund ihres Namens wurde sie nicht als jüdisches Geschäft wahrgenommen und erlitt zunächst keine finanziellen Einbußen.

Entzog der Boykott den jüdischen Familien die wirtschaftliche Lebensgrundlage, so entzog das „Gesetz gegen die Überfüllung von deutschen Schulen und Hochschulen“ der jüngeren Generation die Zukunft: Die Töchter von Karl und Berta Mayer wanderten schon 1934 und 1936 nach Argentinien aus.27 Ernst Berthold Beer konnte sein Berufsziel Maschinenbauingenieur in Deutschland nicht mehr erreichen und emigrierte 1938 in die USA. Die Söhne Oskar Ehrmanns mussten die Oberrealschule in Heidelberg verlassen.

Auch andere Repressalien beeinflussten immer stärker das Leben der jüdischen Familien Rohrbachs. Ferdinand Wolff war als Rechtsanwalt und SPD-Mitglied zunehmendem Druck ausgesetzt und emigrierte 1934 nach Brasilien. Von Karl Mayer ist bekannt, dass er – nur 2 Jahre nach seiner Ehrung – 1935 aus der Rohrbacher Feuerwehr „austrat“.

Wie veränderte sich das Zusammenleben zwischen nichtjüdischen und jüdischen Rohrbacher*innen in dieser Zeit? Zerbrachen nachbarschaftliche Freundschaften? Leider lassen die bekannten Fakten darauf keine Rückschlüsse zu. Deutlich ist nur, dass die jüdischen Rohrbacher ihr Leben in Rohrbach zunehmend als unmöglich empfanden und sich fast alle um Auswanderung bemühten. Die Eltern Mayer verkauften 1937 das schöne Haus neben der Synagoge und folgten 1938 ihren Töchtern nach Argentinien. Oskar Ehrmann gelang es, trotz „Reichsfluchtsteuer“ einen Teil seines Vermögens zu retten. Ein befreundeter Tischler baute 12 Leica-Kameras in ein Möbelstück ein, das 1937 mit in die USA umzog. Dort konnte er die Kameras dann verkaufen.33 1838 war schließlich auch die Badische Möbelwerke AG „arisiert“ worden. Nathan Wolffs Schwager Gustav Basnitzki floh mit Nathans Schwester 1939 in die Schweiz. Nathan selbst konnte 1940 nach Brasilien fliehen.34 Zuvor aber erlebte er wie auch die Beers die Pogromnacht in Rohrbach. Am Morgen des 10. November kamen Angehörige von SA-Studentensturm und Pioniersturm aus Heidelberg nach Rohrbach, zertrümmerten die Einrichtung der Synagoge und zündeten sie an. Danach zogen sie auch zum Haus der Beers. Zeug*innen erzählten, dass die Mehlsäcke der Nudelnfabrikation ausgeleert auf der Straße lagen. Dass die Rohrbacher Synagoge nicht abbrannte, verdankt sich einem Brandmeister der Feuerwehr. Ein SA-Sturmführer hatte befohlen, nur das Übergreifen des Brandes auf die umliegenden Häuser zu verhindern. Der Brandmeister widersetzte sich dem und löschte auch den Brand in der Synagoge. Es ist nicht bekannt, ob er dies nur aus Sorge vor der Brandentwicklung tat oder ob er möglicherweise auch an seinen ehemaligen Feuerwehrkameraden Karl Mayer dachte, dessen ehemaliges Haus er neben der Synagoge sehen konnte. Sicher ist, dass der Brandmeister seine Autorität und seinen Handlungsspielraum nutzte, um sich dem SA-Sturmführer zu widersetzen und nicht mehr Mittäter zu sein.

Nathan Wolff und Sigmund Beer wurden in den folgenden Tagen verhaftet und für einige Wochen in Dachau interniert. Dies hat Nathan Wolff sicher darin bestärkt, seine Flucht planen. Es ist anzunehmen, dass auch die Beers daran dachten, dem Beispiel der anderen Rohrbacher Gemeindemitglieder und ihres Sohnes zu folgen. Sie hatten jedoch nicht mehr die finanziellen Mittel für eine Auswanderung. Sie wurden am 22. Oktober 1940 mit den anderen Bewohnern des Hauses Marktplatz 7 nach Gurs deportiert. Auch Heinrich Wahl konnte anscheinend Deutschland noch nicht verlassen. Er entging der Deportation durch Untertauchen. Seine Tochter Trudel hatte 1932 den evangelischen Hermann Trittelvitz standesamtlich geheiratet. Vermutlich versteckte Heinrich Wahl sich auch im Heimatort seines Schwiegersohnes bei dessen Familie. 1941 konnte er schließlich über Spanien in die USA fliehen. Seine Tochter konvertierte 1942 und heiratete Hermann Trittelvitz auch kirchlich. Sie zogen in Hermanns Heimatort. Es sind keine Repressalien wegen der „Mischehe“ bekannt. Die Nachbarn dort scheinen weder die „Mischehe“ noch die Besuche Heinrich Wahls angezeigt zu haben. Handlungsspielräume ergaben sich auch im Nicht-Handeln.

4. Die Gemeinde nach dem Krieg

1945 waren 13 Mitglieder der jüdischen Gemeinde Rohrbach ausgewandert. Zwei Mitglieder, Sigmund und Bertha Beer, wurden deportiert und in Auschwitz ermordet. Ein Mitglied, Trudel Trittelvitz geb. Wahl, überlebte durch ihre „Mischehe“ woanders in Deutschland. Damit war die jüdische Gemeinde in Rohrbach vollständig verschwunden, genauer: vertrieben und vernichtet. Der hohe Anteil an Auswanderern entspricht im Vergleich nicht den Verhältnissen im sonstigen Heidelberg. Arno Weckbecker stellt mit 51,8% Auswanderung „nicht-arischer“ Bürger für Heidelberg eine geringere Auswanderungsquote fest als für Deutschland allgemein:

„Daß überdurchschnittlich viele Heidelberger Juden auf eine rechtzeitige Auswanderung verzichteten, findet möglicherweise seine Erklärung in dem traditionell guten Kontakt mit der nichtjüdischen Bevölkerung und der vorbildlichen Kultur- und Sozialarbeit der israelitischen Gemeinde, zwei Faktoren, die eigentlich geeignet schienen, das jüdische Leben unter der Verfolgung zu erleichtern und nun in tragischer Paradoxie zum Gegenteil beitrugen.“ (Weckbecher S. 70)

Vielleicht hat in Rohrbach die frühe Auswanderung der Mayer-Töchter als Vorbild gewirkt. Sicher spielte auch eine Rolle, dass Mayers und Ehrmanns wohlhabend waren und einen Teil des Vermögens auch bei der Auswanderung retten konnten. Über die sicherlich entscheidenden individuellen persönlichen Gründe ist jedoch nichts mehr bekannt.

Vieles ist durch die Quellenlage über die Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Rohrbach und über ihre Wahrnehmung der Veränderungen ab 1930 nicht bekannt. Einiges kann durch die Kontextualisierung vermutet werden. Die Schicksale und Handlungsräume der Gemeindemitglieder sind individuelle Schicksale und Handlungsräume. Es ist nicht zu erwarten, dass sie im Kleinen ein genaues Abbild der allgemeinen Verhältnisse geben. Dennoch können sie exemplarisch aufzeigen, wie die nationalsozialistische Verfolgung das Leben für Jüdinnen und Juden in den 1930er Jahren immer unmöglicher machte, wie der Entzug der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebensgrundlage schließlich zum Entzug der Heimat oder sogar des Lebens führte. Und zur Entstehung von nicht wieder zu füllenden Leerstellen, die heute immer wieder sichtbar gemacht werden müssen.