Biografie: Familie Flegenheimer

Eine Familie, die in Wiesloch sozial und beruflich verwurzelt ist. Ein Familienoberhaupt – bekannt für seine Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit. Ein Mädchen, das gerne Rollschuh fährt. Eine Familie, die gezwungen wird, ihre Heimat am 22. Oktober 1940 zu verlassen. 

Lion (weitere Schreibweise: Lyon) Flegenheimer besaß gemeinsam mit seinem Bruder Oskar Samuel eine Pferdehandlung und einen landwirtschaftlichen Hof in der heutigen Schwetzinger Straße 59 in Wiesloch, wo Oskar mit seiner Frau Miry und Sohn Joel ebenfalls wohnte. Pferdehandlung und Landwirtschaft waren im Jahr 1885 von ihrem Vater Moses Flegenheimer gegründet worden. 1936 mussten die beiden ihre Pferdehandlung schließen. Dank ihrer Landwirtschaft hatten sie trotz dessen weiter die Möglichkeit, ihre Familien zu versorgen. Vor vielen Jahren wurde das Gebäude abgerissen, mittlerweile befindet sich dort ein neues Gebäude u.a. mit Arztpraxen.

In Wiesloch pflegte Samuel Oskar den Ruf eines sehr freundlichen und hilfsbereiten Menschen. Berichtet wird, dass er einem befreundeten Bauern während der Erntezeit kostenlos ein Pferd auslieh. Auch die Wieslocherin Frieda Schuhmacher soll Samuel Oskar mit Erzeugnissen aus seiner Landwirtschaft versorgt haben. Sie war sehr jung Witwe geworden und trug die alleinige Versorgung ihrer beiden kleinen Kinder. Da ihr verstorbener Mann noch keine zehn Jahre in der Pflege- und Heilanstalt in Wiesloch gearbeitet hatte, erhielt Frieda keine Witwenrente. Samuel Oskar soll in der Dunkelheit, wenn es keiner mitbekam, die Lebensmittel auf ihre Treppe oder auf das Fensterbrett abgestellt haben. Auch für die Kommunion ihres Sohnes soll er den erforderlichen Quark für einen Käsekuchen, den ihr Sohn so gern mochte, vor die Tür gestellt haben. Für Frieda Schuhmacher waren zur damaligen Zeit die Zutaten für solch einen Kuchen unbezahlbar. Nachdem Samuel Oskar, seine Frau Miry und sein Sohn Joel am 22. Oktober 1940 für den Transport nach Gurs abgeholt wurden und mit der Gestapo die Uferstraße entlanglaufen mussten, soll Samuel Oskar Frieda Schumacher zugerufen haben: „Wir sehen uns nicht mehr!“.

Lions Sohn Paul besuchte zunächst in Wiesloch die Schule. Später als Erwachsener erinnerte sich Paul hierzu, dass er in der Schule Angst vor Spott und den Angriffen durch andere Kinder haben musste. Paul musste 1936 die Schule in Wiesloch schließlich verlassen und von nun an jeden Schultag nach Heidelberg fahren, um dort in eine „jüdische Klasse“ zu gehen.

Lions Tochter Lore war fest in Wiesloch verwurzelt. Es wird berichtet, dass sie öfters gemeinsam mit anderen Mädchen Rollschuh fuhr. Bei den Einwohner*innen Wieslochs war sie als hübsches Mädchen bekannt. Zum Zeitpunkt der Deportation nach Gurs war sie 12 Jahre alt.

Lion, seine Frau Robertine und die beiden Kinder Paul und Lore wohnten in der Hauptstraße 131 in Wiesloch. Von dort wurden sie am 22. Oktober 1940 zur Deportation nach Gurs abgeholt, währenddessen wurden auf dem landwirtschaftlichen Betrieb ihre Tiere aus den Ställen geholt und mitgenommen. Paul hatte noch versucht, sich in einer Scheune zu verstecken, wurde jedoch bald entdeckt. Zu diesem Zeitpunkt war er 14 Jahre alt.

Ein Cousin von Paul berichtete der Stolperstein-Initiative, dass die Familie in der Zeit davor nach Südamerika hätte auswandern können. Eine fremde Sprache und die Hoffnung darauf, dass ihr Leben bald wieder besser werden würde, hielten die Familie jedoch in Wiesloch.

Am Tag der Deportation wurde Lion mit seiner Frau und den Kindern zunächst in das Gebäude des Landwirtschaftsamtes in Wiesloch (das heutige Gebäude der Polizei) und später an den Bahnhof in Heidelberg gebracht. Der Leiter des Landwirtschaftsamtes, Rat Rösch, wurde am Abend vor der Deportation darüber informiert, dass die Räume der Landwirtschaftsschule am 22.10.1940 beschlagnahmt seien. Es wird vermutet, dass Rösch am Tag der Deportation deshalb auswärtigen Geschäften nachging, da er den jüdischen Einwohner*innen nicht gegenübertreten wollte und nichts für sie tun konnte.

Samuel Oskar, Miry und Joel wurden wie Lion, Robertine, Paul und Lore zum Landwirtschaftsamt gebracht. Dort soll sich eine Szene ereignet haben, die vermutlich Joel betraf, denn auf der offiziellen Liste der Deportierten war kein anderes kleines Kind vermerkt. Frau Hodapp, Röschs Sekretärin, war anwesend. Sie soll sich erinnert haben, dass eine Mutter für ihr Kind eine Milchflasche mitgebracht hatte. Diese Milchflasche sei auf den Boden gefallen und zersprungen. Das kleine Kind, womöglich Joel, hätte den ganzen Tag vor Hunger geweint. Aufgrund der Wachen vor dem Gebäude habe sich Frau Hodapp nicht getraut, Milch für das Kind zu organisieren.

Vom Bahnhof in Heidelberg aus wurde die ganze Familie Flegenheimer in drei Tagen in das Lager Gurs deportiert. Joel verbrachte dort zunächst einige Zeit im Lagerkrankenhaus. Über das Leben im Lager berichtete Paul auf einem Gedenktag zur Deportation später: „Das Leben im Lager bestand hauptsächlich aus dem Bemühen, sich sauber zu halten, um nicht krank zu werden, einen Extra-Löffel Suppe und Gemüse zu ergattern und darauf zu achten, dass niemand die karge Ration schimmeligen Brotes stahl, die es morgens mit etwas Kaffee gab. Mittags und abends gab es Suppe mit Gemüse der Saison, hauptsächlich Rüben und Artischocken. Die Suppe sah so aus, dass ein paar Gemüsereste in Wasser schwammen, fünf bis sechs Wochen gab es ständig dasselbe Essen.“ (Stolperstein-Initiative Wiesloch 2012, S. 12)

Nach fünf Monaten in Gurs kam Lion mit seiner Frau und den Kindern am 10. März 1941 in das Familienlager Rivesaltes in der Nähe von Perpignan. Tochter Lore wurde aus diesem Lager gerettet und in ein französisches Kinderheim gebracht. Sie ging während des Krieges zum französischen Widerstand, zur Résistance. Lore überlebte den Krieg.

Im November 1941 wurde Lion zusammen mit seinem Sohn Paul in das Männerlager Les Milles bei Marseille gebracht. Seine Frau Robertine kam im Mai 1942 ebenfalls nach Marseille in eines der Hotels, die der Unterbringung und Bewachung inhaftierter Frauen dienten, die in nächster Zeit in die USA auswandern sollten. Die Familie besaß hierfür eine Ausreisenummer, die auf der Warteliste zu jenem Zeitpunkt relativ weit oben stand. Paul wurde von einer schweizerischen Rot-Kreuz-Schwester aus dem Lager Les Milles gerettet und gelangte zur Organisation ORT („Organisation reconstruction travail“). Lion durfte ihn bis dorthin begleiten, kehrte dann jedoch wieder nach Les Milles zurück. Die Organisation ORT schickte Paul in die Landwirtschaftsschule „La Roche“ bei Agen, wo er eine Ausbildung zum Landwirt begann. Nach seiner Zeit in der Schule zog er auf einen Bauernhof, um dort mitzuarbeiten. Er ging ebenfalls zur Résistance und später ab 1944 auch zur französischen Armee. Paul überlebte den Krieg. Er kehrte danach gemeinsam mit seiner Schwester zunächst nach Wiesloch zurück, 1949 zogen die beiden in die USA. Paul änderte seinen Nachnamen in „Flagg“ und lebt heute noch dort.

Ab August 1942 verschärften sich die Bemühungen, die „Juden“ in den Osten abzutransportieren. Die weiter bestehende Hoffnung Lions und seiner Frau Robertine auf baldige Ausreise in die USA wurde damit zusammenhängend am 14. August 1942 jäh zerstört: An jenem Freitag wurden die beiden zunächst in das Sammel- und Durchgangslager Drancy bei Paris transportiert. Von dort wurden Lion und Robertine mit einem der Deportationszüge nach Auschwitz gebracht, wo sie ermordet wurden.

Samuel Oskar, Miry und Joel wurden am 14.03.1941 ebenfalls in das „Familienlager“ Rivesaltes verlegt. Joel wurde aus Rivesaltes gerettet. Es wird angenommen, dass er mit Unterstützung der Schweizer Kinderhilfe am 29.09.1941 in eine Kinderkrippe bei Limoges gebracht wurde. Joel kam nach seinem Aufenthalt in der Kinderkrippe zunächst nach Paris und Marseille. Dann kam er schließlich zu Verwandten nach New York. Es wird berichtet, dass Joel bis dahin nur französisch sprach und zunächst kommunikative Schwierigkeiten mit seiner Tante und seinem Onkel hatte. Joel lebt heute in den Vereinigten Staaten.

Samuel Oskar war vom 19.07.1941 bis 09.09.1941 von Rivesaltes aus bei der „Commission Todt“. Dies entsprach der nationalsozialistischen „Organisation Todt“, die häufig Häftlinge einsetzte. Samuel Oskar wurde am 24.09.1941 in das Lager Les Milles bei Marseille verlegt. Am 06.12.1941 schrieb er an den Lagerchef in Gurs. In seinem Schreiben bat Samuel Oskar um eine Bescheinigung über gute Führung im Lager Gurs für seine Frau und sich. Diese Bescheinigung benötigte er für eine Emigration in die USA. Ein Dokument aus Rivesaltes gibt an, dass Miry das Lager am 28.02.1942 verlassen konnte. Sie kam vermutlich wie Robertine und die anderen Frauen, deren Ausreise potenziell bevorstand, in ein überfülltes und überwachtes Hotel.

Mit der Verschärfung der Situation zerplatzte jedoch auch die Hoffnung Samuel Oskars und Mirys auf baldige Ausreise. Es wird angenommen, dass die beiden am 07.09.1942 auf einem Transport nach Auschwitz waren und Miry höchstwahrscheinlich direkt nach der Ankunft ermordet wurde. Samuel Oskar wurde von Auschwitz nach Buchenwald deportiert (eventuell im Zuge der „Todesmärsche“) und starb möglicherweise in einem der Außenlager des KZ, Näheres ist hierzu nicht bekannt.