Biografie: Martin Eckstein

Nachname:Eckstein
Vorname:Martin
Geburtsort:15.08.1929
Geburtsdatum:Eberbach

"Martin Eckstein, ein Zwölfjähriger, der durch die mutige Unterstützung von Hilfsorganisationen aus dem Internierungslager in Gurs befreit werden konnte."

Persönlicher Hintergrund und gesellschaftliches Umfeld

Martin Eckstein wurde 1929 in Eberbach geboren. Dort lebte er zunächst gemeinsam mit seiner älteren Schwester Lore Eckstein, seiner Mutter Felicitas Eckstein und seinem Vater, Albert Eckstein. Um 1933 zog die Familie nach Weinheim, wo der Vater Albert Eckstein in der Hauptstraße einen Eisenwarenhandel führte. Die Familie selbst wohnte in der Louisenstraße.Martin Eckstein besuchte in seinen ersten zwei Schuljahren die Diesterweg- Schule.In dieser Zeit lernte Martins Schwester Lore Eckstein den 24-jährigen Max Liebster auf einer jüdischen Tanzveranstaltung in Mannheim kennen. Die beiden blieben in Kontakt und Max Liebster stellte Lore seinen Eltern vor.

Im Zuge der Reichspogromnacht im November 1938 und der Rückkehr von Albert Eckstein aus einer kurzen Inhaftierung im KZ Buchenwald begann die Familie, sich mit Möglichkeiten der Flucht auseinanderzusetzen.

 

Leben der Familie Eckstein im Nationalsozialismus und Deportation

Der nach den Pogromen weitgehende Ausschluss der jüdischen Bevölkerung traf auch die Familie Eckstein. Jüdischen Schüler*innen wie Martin Eckstein wurde in Weinheim der Zugang zu öffentlichen Schulen versagt. Ihnen blieb nichts weiter übrig, als den Weg zur jüdischen Schule nach Mannheim auf sich zu nehmen, was für einige Familien in Weinheim unerschwinglich war. Auch das Tragen der Kennkarte mit einem „J“ und das zwangsweise Zufügen des Vornamens „Sahrah“ oder „Israel“ traf die Familie Eckstein (siehe Volkskarteikarte).

Aufgrund fehlender finanzieller Mittel war die Flucht ins Ausland für die Familie nicht möglich. Daher entschieden sie sich 1939 zu einem Umzug nach Pforzheim. Mit dem Umzug der Familie Eckstein brach auch die Verbindung zwischen Lore Eckstein und Max Liebster vorerst ab. Die beiden sollten sich aber nochmals in Pforzheim begegnen. Max Liebster überlebte den Holocaust und beschrieb seine innige Zuneigung zu Lore im hohen Alter in seiner Autobiografie "Hoffnungsstrahl im Nazisturm - Geschichte eines Holocaust-Überlebenden".

Die Familie kam im jüdischen Gemeindehaus hinter der Synagoge an der Zerrennerstraße unter. Der Vater Albert Eckstein übernahm dort die Aufgaben des Kultusbeamten in der Jüdischen Gemeinde in Pforzheim. Unter anderem hatte er dort auch die Rolle des Vorbeters inne und organisierte Schulunterricht für Kinder jüdischer Familien.Max Liebster folgte Familie Eckstein nach kurzer Zeit, wurde aber am 11. September 1939 von der Polizei verhaftet, da dieser den Umzug ohne Genehmigung durchgeführt hatte. Dies war das letzte Mal, dass sich Lore Eckstein und Max Liebster sahen.

 

Die Deportation jüdischer Pforzheimer*innen nach Gurs

Am Morgen des 22. Oktobers 1940 wurden in Pforzheim 186 jüdische Bürger*innen am Hauptgüterbahnhof gesammelt und in Zügen in das Internierungslager nach Gurs deportiert. Neun weitere Personen, die ehemals in Pforzheim lebten, wurden von anderen Orten aus deportiert. Über das weitere Schicksal der Deportierten ist oftmals nichts bekannt. Viele starben aufgrund der Lebensbedingungen im Lager während 91 Pforzheimer*innen nach Osten transportiert und im nationalsozialistischen Vernichtungslager Ausschwitz ermordet wurden. 55 Bürger*innen der Stadt Pforzheim überlebten das Internierungslager Gurs nachweislich.

 

Die Deportation der Familie Eckstein nach Gurs

Am Dienstag den 22. Oktober 1940 wurde die Familie Eckstein zum Ziel der Deportation nach Gurs. Nach den Berichten Martin Ecksteins wurde die Familie morgens um 6 Uhr aufgefordert, sich nach den geltenden Vorgaben innerhalb von zwei Stunden reisefertig zu machen. Erlaubt waren 50 kg Gepäck, 100 Reichsmark und Proviant für ein paar Tage. Das Reiseziel wurde den Betroffenen meist verschwiegen. Martin Eckstein erinnerte sich, während des Packens überwacht worden zu sein. Dennoch wurde es ihm noch gestattet, zum Schuhmacher zu laufen, um ein Paar Schuhe zu holen. Um 9 Uhr wurde die Familie mit einem grünen Polizeiauto zu einem Nebengleis am Bahnhof gebracht. Der Zug, der die Menschen deportieren sollte, verließ den Bahnhof erst gegen Abend, was für alle Anwesenden lange Wartezeiten bedeutete. Der Zug fuhr über Mühlacker nach Oloron, wo Männer und Frauen getrennt wurden. Martin Eckstein blieb bei seinem Vater Albert Eckstein, während seine Schwester Lore bei der Mutter blieb. Da Lore Eckstein bereits als erwachsen galt, hatte sie bei der Aufteilung, anders als Martin, keine Wahl, bei welchem Elternteil sie bleiben wollte. Von hier an ging es weiter in das Lager Gurs. Da die Infrastruktur des Lagers nicht für die Menge an deportierten Personen ausgelegt war, war dieses massiv überfüllt und die Ausstattung reichte bei weitem nicht für alle Menschen. Aber auch die fehlende Hygiene und medizinische Versorgung sowie die unzureichende Ernährung gestalteten das Leben in Gurs menschenunwürdig. Als die Zustände im Ausland bekannt wurden, begannen mehrere Hilfsorganisationen, Spenden zu sammeln und mit verschiedensten Bemühungen die Menschen im Lager zu unterstützen. Vor allem Kinder wurden durch die Organisationen unterstützt und bekamen beispielsweise Extrarationen an Lebensmitteln. Auch Martin Eckstein erinnerte sich später: „Secours Suisse gab den Kindern jeden Tag heiße Ovomaltine und Essen – es waren auch warme Kleider erhältlich“ (Brändle, S. 7). Neben der materiellen Hilfe berichteten Internierte auch von der seelischen Unterstützung und dem Trost, die die Anwesenheit der Helfenden im Lager bedeutete. Im Februar 1941 gelang es den Hilfsorganisationen (Quäker und OSE), die ersten 48 Kinder aus dem Lager Gurs in ein Waisenhaus zu verlegen.

Diese Aktion wurde mit der Genehmigung des Präfekts des Departements und des Direktors von Gurs durchgeführt. Die Kinder, darunter auch Martin Eckstein, kamen in das „Maison des Pupilles“ in Aspet. Für viele der Eltern, die bereit waren, ihre Kinder in die Obhut der Hilfsorganisationen zu geben, bedeutete dies ein Abschied für immer.

 

Briefe an Martin und das Leben der Familie im Lager Gurs

Dennoch gab es für die Familien die Möglichkeit, mit ihren Kindern in Briefkontakt zu bleiben. Auch Familie Eckstein hatte die Möglichkeit, sich über Briefe auszutauschen. Vier der Briefe an Martin Eckstein konnten überliefert werden und sind im Stadtarchiv Pforzheim für die Öffentlichkeit zugänglich. Aus diesen Briefen geht hervor, dass Martin Eckstein mindestens 26 Briefe an seine Eltern gesendet hatte. Der Nummerierung der überlieferten Briefe ist zu entnehmen, dass die Familie von Martin Eckstein mindestens 36 Briefe an Martin schrieb. Die Korrespondenz schien aber nicht immer zu funktionieren. Im Brief vom 18. Juli 1941 entschuldigte sich Felicitas Eckstein bei Martin für eine unfreiwillige Pause in der Korrespondenz.

Meist erzählten die Eltern, seine Schwester Lore oder seine Tante Hedwig von ihrem Alltag im Lager, fragten nach Martins Wohlbefinden, seinen Schulleistungen oder seiner Freizeitbeschäftigung. Auch die Hoffnung auf ein zukünftiges, baldiges Wiedersehen spielte in den Briefen eine große Rolle.

Die Schilderungen in den Briefen (s. Abbildungen 11-18) ermöglichen einen besonderen Blick in den Alltag der Familie Eckstein im Lager Gurs. Gemäß der Geschlechtertrennung war auch die Familie Eckstein in verschiedenen Îlots untergebracht. Felicitas Eckstein lebte mit ihrer Tochter Lore im Îlot E, Baracke 13. Sie schrieb ihrem Sohn Martin, dass der Vater fast täglich die Gelegenheit bekommen würde, die Familie dort zu besuchen und gemeinsam einen Kaffee oder Tee zu trinken. Aus den Briefen geht ebenfalls hervor, dass weitere Verwandte der Familie Eckstein in das Lager Gurs deportiert wurden. So schrieb beispielsweise „Tante Hedwig“ im Brief vom 25. September 1941 einen kurzen Gruß an Martin Eckstein. Albert Eckstein betätigte sich auch im Lager Gurs als Vorbeter und hielt mit Herr Mannheimer gemeinsam Gottesdienste im Îlot E. Auch der Geburtstag von Lore Eckstein konnte gefeiert werden. Im Brief vom 21. August 1941 schrieb Lore, sie sei reich beschenkt worden, hätte ihren Geburtstag jedoch lieber mit Martin und ihrer ganzen Familie in Pforzheim verbracht.

Die im Lager verbliebenen Familienmitglieder gingen im Lager verschiedenen Arbeiten nach. Felicitas Eckstein berichtete, anderen Inhaftierten die Wäsche zu waschen und das Essen zu holen, denn so „verdienen wir auch etwas dazu“ (Brief vom 10. Mai 1942, vgl. Abbildung 17). Albert Eckstein schrieb seinem Sohn, dass er in einem Garten arbeiten würde und diesen mit einem Spaten umgraben würde. Um welchen Garten es sich dabei handelte, erschließt sich aus dem Geschriebenen nicht. Auch wenn die Eltern und Lore Martin über viele alltägliche Dinge berichteten und immer die Hoffnung auf ein mögliches Wiedersehen aufrechterhielten, schilderten sie auch die schweren Bedingungen, mit welchen die Familie im Lager konfrontiert waren. In verschiedenen Briefen forderte Felicitas Eckstein Martin wiederholt auf, gut zu essen und vor allem auch das zu essen, was er bekommt. Das Essen spielte in allen Briefen der Mutter eine große Rolle. Der Vater Albert Eckstein forderte Martin im Brief vom 21. August 1941 auf, der Familie Kartoffeln zu schicken. Zu diesem Zweck ließ er Martin 20 Franken zukommen. In diesem Brief berichtete Albert Eckstein auch, dass das Îlot B aufgelöst worden war und die darin lebenden Menschen auf die anderen Îlots aufgeteilt wurden. Dies verknappte die ohnehin schon beengten Lebensverhältnisse der Inhaftierten in den anderen Baracken zusätzlich. Auch Lore berichtete von gesundheitlichen Problemen und erwähnte Martin gegenüber einen seit drei Wochen anhaltenden Durchfall. Albert Eckstein überbrachte Martin in seinem Brief vom 25. September 1941 auch die traurige Botschaft über verstorbene Inhaftierte, die er namentlich erwähnte. Ob Martin diese Männer aus seiner eigenen Zeit im Lager oder von vor der Deportation kannte, ist nicht bekannt. Sowohl Felicitas Eckstein als auch Lore Eckstein sprachen in ihren Briefen eine mögliche Ausreise in die USA an, wobei Lore in ihrem Brief vom 18. August 1941 erwähnte, dass eine Ausreise in die USA mit noch lebenden Verwandten in Deutschland nun kaum noch möglich sei.

Interessant ist der Umstand, dass einzelne Kinder wohl kurzfristig nochmals zu ihren Eltern ins Lager zurückkamen. Im Brief vom 10. Mai 1942 berichtete Felicitas von „Carl“ und seiner Mutter. Seit Carl wieder da sei, ginge es der Mutter sehr viel besser und sie lebe so langsam auf. Wobei Carl wohl bald wieder zu Martin ins Kinderheim zurückkehrte. Ebenfalls schrieben Albert und Felicitas in ihrem Brief am 10. Mai 1942, dass sie beim Direktor um eine Besuchergenehmigung bitten würden, bezüglich Martins Bar Mizwa am 25. Juli 1942. Ob dieser Besuch stattfand, geht aus den Briefen nicht eindeutig hervor.

Die Briefe bieten aber auch kleine Einblicke in das Leben von Martin Eckstein im „Maison des Pupilles“ in Aspet. Martin konnte dort einen Unterricht besuchen, in dem ihm auch ein Zeugnis ausgestellt wurde. Dieses Zeugnis lobte der Vater Albert Eckstein im Brief vom 10. Mai 1942 besonders. Zu seinem Geburtstag bekam Martin von seinen Eltern einen Füllfederhalter geschenkt, der ihm per Post zugesandt wurde. Seine Schwester Lore legte dem Geschenk noch eine Anleitung zum Befüllen des Füllfederhalters bei. Zum Bedauern der Familie kam die Geburtstagspost bei Martin erst nachträglich an. Im „Maison des Pupilles“ beteiligten die Kinder sich an Haushaltstätigkeiten, Martins Mutter lobte ihn im Brief vom 10. Mai 1942 für das fleißige Gemüse putzen und Wäsche aufhängen. Nebenbei arbeitete Martin wohl auch im Garten, worauf ihn Lore im Brief vom 18. Juli 1941 ansprach. Martin wurde wohl auch mehrfach krank. Im Brief vom 12. September 1941 erkundigte sich Tante Hedwig beispielsweise nach Martins Scharlach. Im Heim wurde Martin aber von einer Schwester gut umsorgt. Dieser Schwester schrieb Tante Hedwig einen kurzen Gruß auf Französisch in Martins Brief. In allen Briefen hielt die Familie die Hoffnung aufrecht, die Zukunft wieder im Familienkreis verbringen zu können.

 

Razzien in den Heimen und Martins Flucht in die Schweiz

Der Beginn der Razzien in Paris im Juli im wirkten alarmierend auf die Hilfsorganisationen und Heimleitungen. Ab August 1942 begannen Beamte der Vichy-Polizei mit vorbereiteten Listen die Herausgabe von Jugendlichen über 15 Jahre aus den Heimen zu fordern. Die Verantwortlichen versuchten die Kinder, soweit möglich, im Ausland in Sicherheit zu bringen. Auch Martin Eckstein wurde mit drei weiteren Kindern von der Mitarbeiterin Alice Resch, einer Quäkerin, am 04. Februar 1943 über die Schweizer Grenze begleitet.

Alice Resch gehörte auch zu den Mitarbeiter*innen, die Martin zwei Jahr zuvor aus demLager Gurs befreiten.

Zu diesem Zeitpunkt lebten Martin Ecksteins Eltern vermutlich nicht mehr. Albert und Felicitas Eckstein wurden am 10.08.1942 vom Sammellager Drancy (bei Paris) in das Konzentrationslager Auschwitz gebracht, in dem sie ermordet wurden. Die Schwester Lore wurde im Juni 1942 in den Osten deportiert, hier verliert sich ihre Spur. In Zürich wurde Martin Eckstein von Verwandten aufgenommen.

 

Nach der Flucht in die Schweiz

Über Martin Ecksteins weiteres Leben ist wenig bekannt. In der Schweiz absolvierte er eine Ausbildung zum Koch. Ab 1949 lebte Martin Eckstein in Israel, ab 1955 in den USA. Er setzte sich mit weiteren, ehemalig geretteten Kindern dafür ein, dass Alice Resch von Yad Vashem im Jahr 1982 als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet wurde.

Im April 1991 nahm Martin Eckstein am zweiten Weinheimer Heimattreffen jüdischer Mitbürger*innen teil. Zu diesem Zeitpunkt war Martin Eckstein 61 Jahre alt, pensionierter Küchenchef und lebte mit seiner Lebensgefährtin Phyllis Feinstein im US-Bundesstaat New Jersey. Im Zuge des Besuchs in Weinheim traf Martin Eckstein eine zehnte Klasse des Werner-Heisenberg-Gymnasiums, um dort als Zeitzeuge von seiner Jugend zu berichten.