Biografie: Walter und Ida Siesel

„[Meine Eltern] hatten viele Freunde und sie haben der Nachbarschaft viel geholfen. Man hat meine beiden Eltern sehr geehrt.
Meine Mutter war bei jeder Hochzeit in der Umgebung sehr aktiv, sie hat Kuchen […] und Essen gekocht […]. Mein Vater war ein Mensch, der großen Humor hatte und mit der Klientur
[sic]
hat er sich gut verstanden.“

Amira Gezow, Interview am 22.07.2013, Kibbuz Eilon, Isreal
(https://www.papierblatt.de/zeitzeugen/amira-gezow.html, gesehen am 8.02.2021)

Ida Siesel wurde am 31. Januar 1897 in Coesfeld geboren und wuchs in einer sehr religiösen jüdischen Familie auf. 1912 zog sie mit ihrer Familie nach Frankfurt am Main. Dort lernte sie Walter Siesel kennen, der am 23. April 1898 in Bochum geboren worden war. 1915 meldete er sich, obwohl er erst 17 Jahre alt war, als Soldat für den Ersten Weltkrieg, wofür er das Eiserne Kreuz erhielt.

Ida und Walter Siesel heirateten und zogen nach Bad Honnef, wo sie ihre erste Tochter, Alice Siesel, am 20.06.1925 bekamen. Vier Jahre später kam ihre zweite Tochter, Charlotte Siesel, auf Wunsch der Mutter, in Coesfeld zur Welt, auch wenn die Familie in Dortmund lebte.

In der Erinnerung von Charlotte Siesel (= Amira Gezow) war das Leben der Siesels in Dortmund sehr angenehm . Walter Siesel arbeitete als Häuser- und Gütermakler in Dortmund, Ida Siesel musste wegen des Berufs ihres Mannes nicht arbeiten und kümmerte sich um den Haushalt und die Kinder. Die Kinder sollen zu dieser Zeit den Kindergarten besucht haben.

Dieses Leben änderte sich jedoch schlagartig 1933 durch die sogenannte „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten. Das Büro Walter Siesels soll zu dieser Zeit so zerstört worden sein, so dass er von da an arbeitslos gewesen sein soll. Er soll dann in Mannheim eine neue Beschäftigung gefunden haben, weshalb die Familie Siesel 1933 dorthin umzog.

Die Familie wohnte in Mannheim in der Mittelstraße 14. Es war ein Arbeiterviertel, welches sich vermutlich sehr vom vorigen Lebensumfeld der Siesels unterschied, da sie, laut Charlotte Siesel, in Dortmund in einer großen Wohnung mit einem eigenen Bad gelebt hatten. In Mannheim lebten sie in einer kleinen alten Wohnung, die kein eigenes Badezimmer besaß. Die anderen Bewohner*innen des Hauses seien gegenüber der Familie nicht unbedingt freundlich gewesen. Der Bruder der Vermieterin, die unter der Wohnung der Familie Siesel wohnte, sei ein Nationalsozialist gewesen und habe offen seine Verachtung gegenüber der Familie Siesel gezeigt.

Jedoch lebten sich Walter und Ida Siesel in die Gesellschaft ein und wurden ein fester Bestandteil von ihr. Sie seien sehr belesen gewesen und nahmen an vielen gesellschaftlichen Veranstaltungen in Mannheim teil. Auch sollen sie in der Nachbarschaft sehr aktiv gewesen sein, indem sie bei familiären Veranstaltungen oder weniger verdienenden Familien halfen.
Die ältere Tochter Alice besuchte eine deutsche Schule und die jüngere Tochter Charlotte kam später auf eine Schule, in der jüdische Kinder getrennt von den anderen unterrichtet worden sind.

Walter Siesel soll sehr gut mit dem katholischen Pfarrer Schäfer des Arbeiterviertels befreundet gewesen sein, der die Familie oft besuchte. Walter Siesels Tochter Charlotte besuchte dessen katholischen Kindergarten, in dem sie wohl sehr gut behandelt wurde. Ida Siesel soll es weniger gefallen haben, dass ihre Tochter einen katholischen Kindergarten besuchte. Walter Siesel jedoch war nicht gläubig, fühlte sich Deutschland sehr verbunden und soll es eher amüsant gefunden haben.
Ida Siesel hielt wohl viele jüdische Regeln in ihrem Haushalt ein und ging samstags mit ihren Töchtern in die naheliegende Synagoge.
Beide ließen jedoch ihre Töchter selbst entscheiden, wie sie glauben wollten.

In Mannheim gründeten Walter und Ida Siesel ca. 1933/34 eine mechanische Wäscherei, die sehr guten Anklang fand, da es eine neue und schnellere Technik war. Nach harter Arbeit konnte Ida Siesel wieder zuhause bei den Kindern bleiben und eine Haushaltshilfe einstellen, da Walter Siesel sich nun Angestellte und ein Auto leisten konnte.

 In der Reichspogromnacht am 9. November 1938 soll die Vermieterin der Familie Siesel geholfen

haben ihre Wertsachen zu verstecken. Allerdings soll die Wohnung der Siesels nicht angerührt worden sein. Laut Amira Gezows Erinnerung fuhren Walter und Ida Siesel in dieser Nacht mit ihrem Auto zu Altersheimen, welche angezündet worden waren, und halfen, die Überlebenden in sicherere Altersheime oder Gemeinden zu bringen. Ihre zwei Töchter sollen währenddessen bei anderen Familien versteckt worden sein.

Schon bald darauf sollte die Familie Siesel ihre Gegenstände wie Radio, Fahrrad und Schmuck an die Polizei abgeben. Wahrscheinlich geschah dies wegen der „Judenvermögensabgabe“ im Jahr 1938, die die jüdische Bevölkerung dazu zwang „Sühneleistungen“ an das „deutsche Volk“ zu zahlen. Im Freundes- und Bekanntenkreis der Familie Siesel verschwanden immer mehr Juden* und Jüdinnen*. Manche sollen sogar, laut Amira Gezow, Selbstmord begangen haben. Viele beantragten auch eine Ausreise.

Da Idas Schwester, Klara Bendiks, in England lebte, konnten Walter und Ida ihre Tochter Alice vor Kriegsbeginn 1939 mit einem Kindertransport nach England schicken.

Auch mussten nun Ida, Walter und Charlotte Siesel in den alten Teil Mannheims (F2, 10) umziehen, wo sie mit einer anderen unbekannten jüdischen Familie zusammenleben sollten. Ida Siesel übernahm wohl sowohl die Pflege der gelähmten Frau, des psychisch Kranken der unbekannten Familie als auch des älteren jüdischen Vermieters. Zudem soll sie auch den Haushalt der Wohnung übernommen haben und schaffte es trotz der Rationierungskarten die Familien gut zu versorgen, sodass niemand hungern musste.

Am 22.10.1940 wurden die Familien im Rahmen der Wagner-Bürckel-Aktion dazu aufgefordert, innerhalb einer Stunde alle ihre Sachen zu packen und Proviant für eine Reise einzupacken. Ida Siesel soll ihre Tochter mit allen Rationierungskarten weggeschickt haben, um noch genug Proviant zu besorgen und packte für alle die Sachen, auch die der anderen Familie. Walter Siesel sollte zudem einen Zettel unterschreiben, der den Besitz der Familie an den Staat abgab. Die gelähmte Frau wurde alleine in der Wohnung zurückgelassen.

Ida Siesel nähte sich und Charlotte vorsorglich Geld in die Kleidung, sodass es bei der Durchsuchung der Polizei nicht gefunden werden konnte. Walter Siesel war bis dahin davon überzeugt, dass ihnen nichts passieren könnte, da sie in Deutschland lebten, Deutsche waren und er sogar im Ersten Weltkrieg gedient hatte. Dennoch mussten er und seine Familie am Mannheimer Bahnhof in die für die Deportation bereit gestellten Personenzüge einsteigen.

Amira Gezow erinnerte sich, dass während der längeren Fahrt (ca. 4-5 Tage) Ida Siesel mit ihrem gekauften Proviant ihre Familie und die anderen im Zug versorgte. Walter Siesel soll dabei geholfen haben. Er versuchte die Leute aufzumuntern; dabei soll er spekuliert haben, dass sie nach Frankreich fuhren.

In einer Nacht kamen sie in Oloron-Sainte-Marie an und wurden in Lastwagen nach Gurs transportiert.

Im Internierungslager Gurs wurden Ida und Charlotte von Walter Siesel getrennt, da im Lager Frauen und Männer in verschiedenen Bereichen untergebracht wurden. Sie kamen in Baracken, die komplett leer standen, sodass sie auf dem Boden schlafen mussten. Es wurden Jüd*innen und spanische Flüchtlinge in die leeren Baracken zusammengepfercht.
Auch war die Lagerleitung nicht auf die schiere Menge der neuen Ankömmlinge vorbereitet, sodass Platz und Essen sehr knapp waren. Später gab es je einen Brotlaib, Kaffee und Wein. Die Insassen bauten sich Pritschen aus restlichem Holz und bekamen Stroh, um darauf zu schlafen. Ida Siesel rationierte das Brot und überließ ihrer Tochter den größten Anteil.

Das Rote Kreuz verhalf Ida, Charlotte und Walter Siesel Päckchen der Großmutter mit Proviant und „Brennsachen“ (einen kleinen Spirituskocher) zu erhalten und auch kürzere Briefe zu schreiben.

Ida Siesel versuchte ihre Tochter Charlotte dazu zu bewegen, in einer Kinderbaracke zu schlafen, da diese wärmer waren und Pritschen hatten, jedoch hielt ihre Tochter dies nicht aus und schlief weiter bei ihr. Auch wenn die Situation nicht einfach war, da viele nicht mit der Situation umgehen konnten, kümmerte sich Ida Siesel um ihre Tochter und nähte ihr sogar einfache Hosen, da sie immer weiterwuchs.

Im Januar 1941 kam die Familie in das Lager Rivesaltes, wo es wärmer war, jedoch stärkere Winde wehten, und wo es besseres Essen gab. Untergebracht waren dort auch Roma und Sinti.
Hier sollen sich Ida und Charlotte mit Walter Siesel wieder getroffen haben, sie konnten spazieren gehen und sich schreiben.

Walter Siesel soll in Rivesaltes der Barackenälteste gewesen sein. Da er Französisch sprechen konnte, konnte er vermutlich mit den Aufsehern des Lagers kommunizieren. Auch Ida Siesel soll sehr gut Französisch gesprochen haben.

Nachdem ihre Tochter Charlotte in ein Kinderheim in der Gegend von Rivesaltes gekommen war, konnten sie nur noch per Post kommunizieren. Charlotte schickte ihren Eltern Päckchen mit Essen, wodurch sie verstehen sollten, dass es ihrer Tochter dort besser gehen würde. Zudem wurde das Kinderheim von Amerikanern und Schweizern finanziert, was Ida und Walter zusätzliche Sicherheit geben sollte.

Im September 1942 kam ihre Tochter unter dem Vorbehalt , dass Ida und Walter sie sehen wollten, zurück in das Lager. Dies sollte aber nur dazu führen, dass Eltern und Kinder gemeinsam in Vernichtungslager transportiert werden konnten. Ida und Walter Siesel waren in einer schlechten Verfassung, da Ida zur Zwangsarbeit in die Weinberge zur Weinlese und Walter Siesel nach Perpignan in eine Schreinerei geschickt worden waren.

Als die Familie Siesel auf dem Appellplatz von Rivesaltes mit den dazugehörigen Papieren aufgerufen wurde, kamen sie auf Viehwägen und bekamen ihren letzten Proviant. Amira Gezow erinnerte sich, dass ihr Vater während all dem daran festhielt, dass ihnen doch nichts passieren könne und dass alles ein Irrglaube sei.

Die Familie wurde wieder mit anderen in einen Zug gepfercht. Bevor jedoch der Zug abfuhr, kamen Frauen vom Roten Kreuz. Kinder hatten nun die Möglichkeit bei ihren Eltern zu bleiben oder mit den Frauen mitzugehen. Ida Siesel wollte wohl ihre Tochter Charlotte nicht gehen lassen und soll sie in ihren Armen festgehalten haben. Walter Siesel wollte, dass Charlotte ging. Er soll seiner Tochter erklärte haben, dass sie es bei den Frauen besser haben würde. Dort wo Walter und Ida hinfahren würden, gäbe es auch keine Schule. Somit wurde die Tochter von den Frauen mitgenommen und vor dem Transport nach Ausschwitz gerettet.

Ida und Walter Siesel wurden mit diesem Zug nach Auschwitz gebracht und wurden dort getötet.