Call for Papers – Einreichfrist: 14.05.2025
„Pädagogik der Anwesenden?“ Körper – Bildung – Begegnung in Zeiten komplexen gesellschaftlichen Wandels
21.-22.11.2025, Pädagogische Hochschule Heidelberg
Jahrestagung der Kommission Pädagogik und Humanistische Psychologie,
Sektion Differentielle Erziehungs- und Bildungsforschung der DGfE
Den „ganzen möglichen Menschen“ in seiner Leib-Psyche- bzw. Leib-Geist-Einheit in Bildungs- und Erziehungskontexten zu adressieren, war ein zentrales Anliegen der Humanistischen Pädagogik in ihren Gründungsjahren (Bürmann, Dauber, Holzapfel 1997) und ist es bis heute geblieben (zuletzt Graf, Iwers, Altner & Brenne 2024). Angesichts multipler gesellschaftlicher Transformationsprozesse stellen sich neue Fragen in den Zusammenhängen von Person und Bildung. Haben sich die letzten Jahrestagungen mit diesem Verhältnis unter den Perspektiven Beziehungen bilden (Graf & Iwers 2019), Vielfalt thematisieren. Gemeinsamkeiten und Unterschiede gestalten (Iwers & Graf 2021) sowie Persönlichkeitsbildung in Zeiten von Digitalisierung (Graf, Iwers, Altner & Staudinger 2024) befasst, richtet sich die hier beworbene Tagung auf die Leiblichkeit im Zusammenspiel von Körper – Bildung – Begegnung und fragt nach einer "Pädagogik der Anwesenden“.
Der jetzt gesetzte Schwerpunkt fokussiert den für die Humanistische Pädagogik zentralen Aspekt der Leiblichkeit des Menschen. Sie wurde in vielfachen Perspektiven insbesondere der Philosophie, Anthropologie, Phänomenologie, auch der Soziologie, der Geschlechterforschung sowie in der Erziehungswissenschaft thematisiert (Plessner 1941/1970; Merleau-Ponty 1945/1966; Foucault 1977/2007; Fuchs 2000, 2020, 2024; Bosch, Fischer & Gugutzer 2022; Lindemann 2022; Kortendiek, Riegraf & Sabisch 2017; Casale, Rieger-Ladich & Thompson 2020; Meyer-Drawe 2022a, 2022b, 2023a, 2023 b, 2024).
Die Humanistische Pädagogik teilt Einsichten der genannten Disziplinen. So sind aus ihrer Sicht Körper bzw. Leib eine untrennbare übersummative Einheit. Jegliche Regung der Person ist immer auch körperlich. Die menschlichen Dimensionen von Geist und Psyche sind ausschließlich mittels der physischen Existenz zugänglich – für die Person selbst und für andere. Der Mensch kann sich in ein Verhältnis zu seinem Körper und ebenso in ein Verhältnis zu diesem Verhältnis setzen, also einen Körper haben; Leib ist er (Plessner 1941/1970, 43), nur von diesem als „Zentrum räumlichen Existierens“ kann er die Welt erfahren und gestalten (Fuchs 2000, 15). Angesichts gesellschaftlicher Wandlungsprozesse wie Globalisierung und Digitalität findet sich der Mensch in neuen Dimensionen von Räumlichkeit wieder, die in ihrer Bedeutung für Begegnung und Bildung weiter zu erschließen sind.
Für die Humanistische Pädagogik spielt die Beachtung der Leiblichkeit der menschlichen Existenz in pädagogischen Handlungsfeldern insofern eine Rolle, als sie davon ausgeht, dass immer der ganze Mensch im Begegnungsgeschehen und an Bildungsprozessen beteiligt ist. Er reagiert mit Emotionen, die sich körperlich ausdrücken. Auch sein Denken ist nur in der physischen Seinsweise möglich. Diese leibliche Dimension in Bildungsprozessen zu berücksichtigen, mehr noch: diese einzubeziehen und auch als Quelle von Erkenntnis zu nutzen, ist der Humanistischen Pädagogik ein Anliegen (Graf & Iwers 2019; Graf, Iwers, Altner & Brenne 2024). An dieser Stelle muss darauf verwiesen werden, dass das Thema Körper und Leiblichkeit im Kontext pädagogischer Nähe- und Distanzverhältnisse immer wieder seine Sensibilität auf beklagenswerte Weise offenbart (hat) und die Verantwortung professioneller pädagogischer Akteur:innen für eine an der Ganzheit des Menschen orientierten Arbeit einmal mehr vor Augen führt (Andresen 2024).
Von besonderem Interesse für eine „Pädagogik der Anwesenden“ in der Verwiesenheit von Körper – Bildung – Begegnung sind in den genannten Zusammenhängen das Thema Digitalisierung und damit verbundene Aspekte einer dem Menschen neuerdings möglichen Bi- und Multi-Lokalität, also der Fähigkeit, an verschiedenen „Orten“ zugleich zu sein, etwa in Online-Konferenzen, Social Media oder in digitalen Spielen. Auch die in Social Media und durch KI möglichen Avatare im Sinn informationstechnologischer Alter Egos lassen Fragen nach der Ganzheitlichkeit einer Person und der Bedeutung von Körper bzw. Leib im Bildungsgeschehen sowie den mit ihm verbundenen Begegnungsprozessen aufkommen, etwa nach den Möglichkeiten der „Zwischenleiblichkeit“ (Meyer-Drawe 2023a, 130) im menschlichen Miteinander oder der Einmaligkeit einer Person, die in „gelebten Beziehungsgeflechten“ gründet (Meyer-Drawe 2024, 78).
Ebenso werden Phänomene der adressierten Anwesenheit von Menschen mit so genannten Beeinträchtigungen (z.B. Autismus-Spektrum-Störung, ADHS) und deren Wahrnehmung ihres „In-der-Welt-Seins“ durch Pädagog:innen mit dem Tagungsthema angesprochen.
Bezogen auf globales Denken ist die Anwesenheit der Fernen zum Thema gemeinsamer Verantwortung geworden, insbesondere mit Blick auf ökonomische Differenzen und Fragen von Kulturraub und Restitution als Folgen der kolonialen Historie sowie mit Blick auf den Klimawandel, jeweils hinsichtlich der weltweiten Gerechtigkeitsfrage unter Einbeziehung auch künftiger Generationen.
In der Ausbildung von Identitäten können „anwesende Ferne“ – in gegenwärtigen multiplen geografischen und kulturellen Bezügen oder/und verstorbene Vorfahren – als Beschwiegene oder in familiären Narrativen im Hier und Jetzt für eine Person wirksam werden.
Basierend auf dem Grundgedanken, dass Bildung sich durch Begegnung mit der Welt, sich selbst und mit anderen Anwesenden vollzieht und dies jeweils unter den Bedingungen gesellschaftlicher Transformationen und damit einhergehender psychosozialer Beanspruchungen und Entwicklungsmöglichkeiten, interessieren vor dem Hintergrund einer humanistisch-pädagogisch begründeten Orientierung Fragen wie:
Welche auf Begegnung und Bildung bezogenen Dynamiken entfalten die aktuellen Transformationsprozesse (Digitalität, Globalisierung, Migration, Klimawandel) für Existenzformen des Menschen?
Welche Bedeutung haben der Körper und die Leiblichkeit des Menschen für Begegnungsprozesse in Bildungskontexten?
Was verstehen Menschen in geteilten pädagogischen Handlungskontexten angesichts der gesellschaftlichen Wandlungsprozesse unter „Anwesenheit“?
(Wie) wirken Abwesende auf Anwesende hinsichtlich der Begegnungsprozesse in Bildungskontexten – und umgekehrt: Anwesende auf Abwesende?
Was bedeutet Gegenwart als Raum individueller Handlungsorganisation der Person angesichts von synchroner „Multi-Lokalitäten“ in analogen Räumen und einem zugleich digital geteilten Raum?
(Wie) kann ermöglicht werden, auch in der digitalen Begegnung körperlich bzw. leiblich präsent zu bleiben?
(Wie) lässt sich im digitalen Raum oder in hybriden Räumen eine Kultur des Miteinanders in Lehr-Lern-Kontexten etablieren?
(Wie) kann es gelingen, körperliche bzw. leibliche Ausdrucksformen wahrzunehmen und in bildende Prozesse zu integrieren, wenngleich das gesellschaftliche Miteinander zunehmend auch virtuell stattfindet?
Was bedeuten multiple geografische und kulturelle Verortungen für die Trias Körper – Bildung – Begegnung?
Welche pädagogischen Herausforderungen ergeben sich durch auch körperlich manifestierte seelische Beeinträchtigungen und/oder Belastungen (z.B. Hochaktivität, innere Unruhe)?
Es können Forschungs-, Konzept- und Praxisbeiträge eingereicht werden:
Forschungsbeiträge berichten theoretische und/oder empirische Analysen zu Fragen entlang des Themas einer „Pädagogik der Anwesenden?“ Körper – Bildung – Begegnung in Zeiten komplexen gesellschaftlichen Wandels, indem sie den aktuellen Stand von Fachdiskussionen aufgreifen und vor diesem Hintergrund verschiedenen bearbeiteten Forschungsfragen theorie- oder empiriegeleitet nachgehen.
Konzeptbeiträge berichten von Konzepten zum Thema einer „Pädagogik der Anwesenden?“ Körper – Bildung – Begegnung in Zeiten komplexen gesellschaftlichen Wandels im Kontext pädagogischer Handlungsfelder inklusive pädagogischer Professionalisierungskontexte.
Praxisbeiträge, jeweils in Bezug auf verschiedene pädagogische Handlungsfelder, berichten über Best-Practice-Modelle zum Thema einer „Pädagogik der Anwesenden?“ Körper – Bildung – Begegnung in Zeiten komplexen gesellschaftlichen Wandels sowie deren Entstehung und Anwendung.
Als Beitragsformate sind 20-minütige Vorträge (mit anschließender 10-minütiger Diskussion) ebenso wünschenswert wie 90-minütige Workshops und Poster, für die ein Online-Präsentationsformat und -zeitraumentwickelt und angeboten werden.
Wir bitten um Einreichung von Abstracts (bis zu 800–1000 Zeichen mit Leerzeichen) bis zum 14.05.2025 an: tagung.human.paed☞ Bitte fügen Sie an dieser Stelle ein @ ein ☜ph-heidelberg☞ Bitte fügen Sie an dieser Stelle einen Punkt ein ☜de. Gerne können Sie die Formatvorlage auf der Tagungshomepage https://www.ph-heidelberg.de/humanistische-paedagogik/startseite/ dazu nutzen. Rückmeldung zu Ihrem Vorschlag erhalten Sie bis Ende Juni 2025.
Auf Ihre Vorschläge freut sich das Tagungsteam
Prof. Dr. Ulrike Graf, Prof. Dr. Telse Iwers, Prof. Dr. Thomas Schübel & Dr. Katja Staudinger
Hier finden Sie den Call for Papers als pdf-Datei und eine Formatvorlage für die Einreichung eines Tagungsbeitrags:
CfP_Päd der Anwesenden_2025_Template Abstracteinreichung.docx (1,1 MB)
Literatur
Andresen, S. (2024). Aufarbeitung von Gewalt in der Kindheit. Was aus der Zeugenschaft von Betroffenen über Resilienz gelernt werden kann. In Göppel, R. & Graf, U. (Hg.), Was Resilienz stärkt. Chancen und Risiken eines boomenden Konzepts, Kohlhammer, S. 33-44. https://doi.org/10.17433/978-3-17-043260-4
Bosch, A., Fischer, J. & Gugutzer, R. (Hg.) (2022). Körper – Leib – Sozialität. Philosophische Anthropologie und Leibphänomenologie: Helmuth Plessner und Hermann Schmitz im Dialog. Springer
Bürmann, J., Dauber, H. & Holzapfel, G. (Hg.) (1997). Humanistische Pädagogik in Schule, Hochschule und Weiterbildung. Schriftenreihe zur Humanistischen Pädagogik und Psychologie, hg. von dens., Klinkhardt
Casale, R., Rieger-Ladich, M., Thompson, C. (Hg.) (2020). Verkörperte Bildung. Körper und Leib in geschichtlichen und gesellschaftlichen Transformationen, Beltz Juventa
Foucault, M. (1977/2007). Überwachen und Strafen: die Geburt des Gefängnisses, Suhrkamp
Fuchs, T. (2000). Leib, Raum, Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie, Klett-Cotta
Fuchs, T. (2020). Verteidigung des Menschen, Grundfragen einer verkörperten Anthropologie, Suhrkamp
Fuchs, T. (2024). Verkörperte Anthropologie. Zur Phänomenologie von Affektivität und Interaffektivität, Suhrkamp
Graf, U. & Iwers, T. (Hg.) (2019): Beziehungen bilden. Wertschätzende Interaktionsgestaltung in pädagogischen Handlungsfeldern. Schriftenreihe zur Humanistischen Pädagogik und Psychologie, hg. von J. Bürmann, H. Dauber, T. Iwers & U. Graf, Klinkhardt
Graf, U., Iwers, T., Altner, N. & Brenne, A. (2024). „Der ganze mögliche Mensch“ als Bezugspunkt von Pädagogik und Erziehungswissenschaft: Perspektiven der Humanistischen Pädagogik. In Wolfgarten, R. & Trompeta, M. (Hg.), Bild und Erziehungswissenschaft: Eine Skizzierung der thematischen Schnittmenge sowie des disziplinären Feldes (S. 373–398). Beltz Juventa.
Graf, U., Iwers, T., Altner, N. & Staudinger, K. (Hg.) (2024). Persönlichkeitsbildung in Zeiten von Digitalisierung. Schriftenreihe zur Humanistischen Pädagogik und Psychologie, hg. von J. Bürmann, H. Dauber, T. Iwers & U. Graf, Klinkhardt. doi.org/10.35468/6073
Iwers, T. & Graf, U. (2021) (Hg.). Vielfalt thematisieren – Gemeinsamkeiten und Unterschiede gestalten. Schriftenreihe Humanistische Pädagogik und Psychologie, hg. von J. Bürmann, H. Dauber, T. Iwers & U. Graf, Klinkhardt
Kortendiek, B., Riegraf, B. & Sabisch, K. (Hg.) (2917) Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung. Geschlecht und Gesellschaft, Vol 65, Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-658-12500-4_5-1
Lindemann, G. (2022). Der Raum der In-Dividualisierung. In Bosch, A., Fischer, J. & Gugutzer, R. (Hg.). Körper – Leib – Sozialität. Philosophische Anthropologie und Leibphänomenologie: Helmuth Plessner und Hermann Schmitz im Dialog, Springer, S. 183-211
Merleau-Ponty, M. (1945/1966). Phänomenologie der Wahrnehmung, De Gruyter
Meyer-Drawe, K. (2022a), „Leiblichkeit“. In Feldmann, M. Rieger-Ladich, M., Voß, C. & Wortmann, K. (Hg.). Schlüsselbegriffe der Allgemeinen Erziehungswissenschaft, Beltz Juventa, 268–277
Meyer-Drawe, K. (2022b). Im Verborgenen lernen: Künstliche Intelligenz. In Becker, T., Jilek-Bergmaier, F., Kulcke, G, Neureiter, E. & Sertl, M. (Hg.). Digitalisierung und Bildung, Bd. 188, Studien Verlag, 41–51
Meyer-Drawe, K. (2023a). Künstliche Intelligenz (KI) und die Frage nach dem Menschen. Ein Gespräch zwischen Käte Meyer-Drawe und Sarah Ganss. ZPT 2023; 75(2), 128138, De Gruyter. https://doi.org/10.1515/zpt-2023-2002
Meyer-Drawe, K. (2023b). Sophia's Smile. The Challenges of a Humanoid Citizen. In Mersch, D., Rey. A. Grunwald, T., Sternagel, J, Kegel, L. & Loertscher, M. L. (Hg.). Actor & Avatar (195-199). transcript Verlag. https://doi.org/10.14361/9783839467619-028
Meyer-Drawe, K. (2024). „Klara Lernt. Aus den Aufzeichnungen eines humanoiden Roboterkindes: ein Beitrag zu Deutungen von Mensch-Maschinen-Verhältnissen“. In Jäger, W. & Sander, J. (Hg.). Roboter aus lese- und literaturdidaktischer Perspektive, Bd. 48, Peter Lang, 63–80
Plessner, H. (1941/1970). Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach den Grenzen menschlichen Verhaltens, Suhrkamp