Stoischer Naturalismus:

Moderne Tugendethik und Evidenzen aus den empirischen Humanwissenschaften

Zusammenfassung des Dissertationsprojekts von Lucas John, john103☞ Bitte fügen Sie an dieser Stelle ein @ ein ☜ph-heidelberg☞ Bitte fügen Sie an dieser Stelle einen Punkt ein ☜de

1958 argumentierte die Philosophin G.E.M Anscombe in ihrem Essay „Modern Moral Philosophy“ für eine Modernisierung der aristotelischen Tugendethik. Ihre Gedanken wurden zunächst in philosophischen Fachkreisen diskutiert und späterhin auch in psychologischen Forschungen aufgegriffen. Philosoph*innen wie Philippa Foot, Rosalind Hursthouse, Alasdair McIntyre und Martha Nussbaum interessierte Aristoteles’ Annahme einer sog. areté ein natürliches „Gut für den Menschen“ (NE, 1098a). Sie hofften darauf, mit dieser Annahme die bedauernswerte Unvereinbarkeit der seinerzeit maßgeblichen ethischen Positionen (bes. Deontologie und Utilitarismus) überwinden zu können.

Psycholog*innen wie Martin Seligman, Mikhail Czsiksentmihali und Carol Ryff regten Aristoteles Überlegungen aus anderen Motiven zur Formulierung eines neuen Forschungsparadigmas an, das als „Positive Psychologie“ bezeichnet wird. Sie interessierte seine Annahme einer sog. eudaimonía – ein lebensglück-spendender Effekt aretischer Betätigung. Indem sie dieses Konzept einer empirischen Erforschung eröffneten, hofften sie, weltweit ansteigenden Depressionsraten begegnen zu können.

Allerdings übergingen viele Vertreter dieses sog. „Aretaic Turn“ Anscombes Zweifel an der aristotelischen Argumentations-Architektur. In ihrem Essay attackiert sie den teleologischen Aufbau seiner naturalistischen Prämissen, in denen Aristoteles dem Menschen durch biologistisch begründete Zweck- und Funktionsunterstellungen einen Ziel-Zustand des „Aufblühens“ in Aussicht stellt. Diese Annahme bedarf laut Anscombe einer eingehenden empirischen und sprachphilosophischen Prüfung. Sie schreibt: „there is a huge gap at present unfillable as far as we are concerned, which needs to be filled by an account of human nature, human action, the type of characteristic a virtue is, and above all human “flourishing”. And it is the last concept that appears the most doubtful” (Anscombe, 1958, S. 15).

Während meine Arbeit einerseits die Konsistenz in der Begründungslogik des tugendethischen Naturalismus bekräftig, wird sie andererseits durch eine Kritik an teleologisch argumentierenden Tugendethiken den Stoizismus als eine beachtenswerte Alternative ausweisen. Stoiker beschreiben Motive zum Tugenderwerb vor dem Hintergrund eines kausal-geschlossenen materialistischen Weltbilds, das mit naturwissenschaftlichen Kenntnissen besser vereinbar ist, als die aristotelische Teleologie. Ein durch stoisches Moraltraining angeleiteter Tugenderwerb zielt nicht auf eine Vollendung menschlichen Wachstums, sondern auf eine anhaltend effektive Konfliktbewältigung. Bedauerlicherweise fand der Stoizismus aufgrund historischer Vorurteile in Fachdiskussionen bisher nur wenige Fürsprecher. Hierdurch bleiben fruchtbare Anstöße zur weiteren Ausdifferenzierung der modernen Tugendethik ohne eine verdiente Würdigung.