Abstract der Dissertation von Antonio Rueda
In einer vorangegangenen Untersuchung in der Rhein-Neckar-Region (Schnirch 2006) wurde festgestellt, dass Motivation und Interesse von Schülerinnen und Schülern der 8. Klasse für den naturwissenschaftlichen Unterricht mit Hilfe einer computergestützten Lernumgebung mit integrierten Realexperimenten gendergerecht gefördert werden können.
Kann dieses Ergebnis in andere Kulturen übertragen werden? In anderen Worten: Ist die computergestützte Lernumgebung „kulturgerecht“? Um diese übergeordnete Frage zu beantworten, wurde die Lernumgebung in kolumbianischen Schulen eingesetzt (8.-10. Klasse). Das in Deutschland verwendete Forschungsdesign und die entsprechenden Forschungsmethoden wurden in der vorliegenden Studie genutzt.
Zunächst wurden (1) die Rahmenbedingungen der Schulen mittels schriftlicher Befragungen während eines anfänglichen Forschungsaufenthalts erhoben und anschließend analysiert. Da die zu untersuchenden Schulen und die entsprechenden Lehrpersonen aufgeschlossen gegenüber der Studie waren und über genügend mediale Ausstattung und Erfahrung mit Neuen Medien verfügten, konnte die Studie durchgeführt werden.
Im Rahmen eines zweiten Forschungsaufenthalts wurde (2) die Motivation der Schüler bezogen auf ihre Arbeit mit der Lernumgebung schriftlich befragt und (3) die Auseinandersetzung von mehreren Schülerinnen und Schülern mit einer Einheit der Lernumgebung per Video aufgenommen, um ihre Lernprozesse zu erforschen. Die Daten dieses zweiten Forschungsaufenthalts wurden einerseits (hinsichtlich der Motivation) statistisch und andererseits (hinsichtlich der Lernprozessen) mittels deduktiver bzw. induktiver kategoriengeleiteter Inhaltsanalyse ausgewertet.
Auf der einen Seite konnte festgehalten werden, dass die Schülerinnen und Schüler hoch motiviert arbeiteten. Dennoch schnitten das Wichtigkeitsempfinden und die Selbstbestimmung etwas geringer als die anderen Faktoren der Motivation (Interesse, Kompetenz, Nutzen, Druck) ab. Dieser Hinweis zusammen mit der Betrachtung der sozialen Bedingungen ließen sich so interpretieren, dass die Schülerinnen und Schüler die Orientierung der Lehrperson benötigten. Da die Lernumgebung Eigenständigkeit voraussetzt, waren Schülerinnen und Schüler in manchen Situationen etwas überfordert.
Auf der anderen Seite war die per Video aufgenommene konzeptuelle Lernleistung überdurchschnittlich gering. Eine vertiefende linguistische Studie der Schüleräußerungen wurde durchgeführt, um die Gründe dafür zu erforschen. Anhand dessen konnte festgestellt werden, dass die sprachlichen Äußerungen der Schülerinnen und Schüler abrupt und wenig spezifisch waren. Sie beschrieben mangelhaft die präsentierten Sachverhalte (unspezifische Substantive und einfache materielle Verben) und bildeten selten komplexe Sätze (mittels Konjunktionen). Außerdem wurde ersichtlich, dass hauptsächlich die Aufgabenstellungen bzw. die Lehrpersonen die inhaltsbezogenen Sprachhandlungen der Schülerinnen und Schüler auslösten. In wenigen Fällen äußerten sie eigene Lösungswege, Ideen und Interessen.
Das Erleben von Selbstbestimmung in den drei untersuchten Bereichen fasst die Konsequenzen der vorliegenden Studie zusammen.
(1) Die Aufgeschlossenheit der Schulen und Lehrpersonen gegenüber der Innovation (in diesem Fall, dem Einsatz einer multimedialen computergestützten Lernumgebung) war wichtig für die Durchführung der Studie. Nachhaltige Entwicklungen (sowohl für Lehrpersonen als auch für Schülerinnen und Schüler) können jedoch erst erreicht werden, wenn die Lehrpersonen die Innovationen aktiv und selbstbestimmend in das Curriculum einbetten.
(2) Die Nutzung von Neuen Medien kombiniert mit Realexperimenten motivierte die Schülerinnen und Schüler. Darüber hinaus sind die Wichtigkeit der Themen und die Erfahrung von Selbstbestimmung wichtige Faktoren in unterrichtlichen Situationen. Nur wenn die Lehrpersonen das konkrete Nutzen einer Lernumgebung anbieten und die Selbststeuerung der Lernprozesse von Seiten der Schüler fördern, erreichen sie hohe Motivationswerte und effektive Lernprozesse.
(3) Die Schüler äußerten sich durchschnittlich wenig und unvollständig über die konzeptuellen Inhalte der aufgenommenen Einheit der Lernumgebung. Der didaktische Aufbau dieser konkreten Einheit sollte in der Zukunft mehr Phänomene anbieten und entsprechende verbale Beschreibungen (vs. Erklärungen) einfordern. Denn erst bei der Besprechung von Phänomenen, Beschreibungen und Vermutungen zeigten sich die Schülerinnen und Schüler am aktivsten. Feste fachliche Begriffe und Fakten (Substantive) wurden selten beachtet. Darum sollte mehr Aufmerksamkeit der Beschreibung von Sachverhalten geschenkt werden. Wenn die Schülerinnen und Schüler eine höhere Selbstbestimmung erleben würden, könnten sie ihre Lernwege effektiver steuern und ihre sprachlichen Äußerungen ausführlicher elaborieren.
Obwohl eine gute internationale Zusammenarbeit, hohe Motivationswerte und vielfältige Erfahrungen bei den Schülern entstanden, lässt das Gesamtergebnis erkennen, dass eine multimediale Lernumgebung per Definition nicht „kulturgerecht“ sein kann. In Übereinstimmung mit wissenschaftlichen Studien sollte diese Lernumgebung, wie jede Art von Unterrichtsmethoden, an die entsprechenden (sozialen bzw. kulturellen) Unterrichtsbedingungen von Seiten der Lehrpersonen angepasst werden. Die Förderung der Selbstbestimmung bei der Verwendung einer Lernumgebung - sowohl bei den Lehrpersonen als auch bei Schülerinnen und Schülern - steht aus den präsentierten Gründen im Mittelpunkt beim internationalen (und interkulturellen) Einsatz dieser Lernumgebung.