Forschung

Wirken des ersten deutschen Blindenlehrers erstmals umfassend erforscht

Sandra Kiebler und Markus Lang vor dem Heidelberger Schloss.

Die historischen Monumente des Landes für alle Besucherinnen und Besucher zugänglich zu machen ‒ das ist die Aufgabe der Staatlichen Schlösser und Gärten Baden-Württemberg. Wie sie diesen Anspruch unterstützen können, haben zwei Studentinnen der Pädagogischen Hochschule Heidelberg in ihren wissenschaftlichen Abschlussarbeiten erforscht: In einer der Arbeiten beschäftigte sich Sandra Kiebler mit Christian Niesen, der in den 1770ern am Mannheimer Hof erstmals erfolgreich einen blinden Jugendlichen unterrichtet hat. Die Arbeit wurde von Professor Dr. Markus Lang (Institut für Sonderpädagogik) betreut und ist in enger Kooperation mit den Staatlichen Schlössern und Gärten Baden-Württemberg und dem Badischen Blinden- und Sehbehindertenverein entstanden. Sie wurde am 12. November 2019 der Öffentlichkeit vorgestellt.

Die wissenschaftliche Abschlussarbeit von Sandra Kiebler beschäftigt sich mit Christian Niesen und der Frage, inwiefern dieser durch sein blindenpädagogisches Wirken den Anstoß für die Blindenbildung in Deutschland gegeben hat. Die weltweit erste Blindenschule wurde 1784 in Paris gegründet; Niesen jedoch überwand bereits in den 1770er Jahren die damals vertretene Meinung, dass Menschen mit Blindheit nicht bildbar seien. So unterrichtete er äußerst erfolgreich am Mannheimer Kurfürstenhof den früh erblindeten Johann Ludwig Weissenburg.

Zur Beantwortung ihrer Forschungsfragen schafft Kiebler zunächst einen historischen Zusammenhang. Die angehende Sonderpädagogin wirft hierzu einen Blick in die Geschichte der Blindenpädagogik und beleuchtet darüber hinaus den aufgeklärten Absolutismus zur Regierungszeit Karl Theodors.

Der umfassendste Teil der Arbeit widmet sich der Untersuchung des Unterrichts Niesens mit seinem Schüler, wobei die Mathematik die tragende Rolle spielt. Kiebler zeichnet dabei ein feines und durchaus differenziertes Bild von Niesen: Dieser war demnach früh zu der Erkenntnis gekommen, dass sich Wahrnehmung und Sprache sehender Menschen oftmals auf visuelle Reize bezieht; blinde Menschen nehmen hingegen über das Fühlen und Erleben wahr. Beiden gleich ist die grundsätzliche Möglichkeit der Bildung, es braucht lediglich unterschiedliche Ansätze der Didaktik - eine Idee, die sich durchaus mit dem heutigen Gedanken des inklusiven Unterrichts vergleichen lässt und die damals einzigartig war. Auf Grundlage der als gleichwertig erachteten intellektuellen Leistungsfähigkeit blinder und sehender Menschen entwickelte Niesen Rechenbücher für blinde und sehende Schülerinnen und Schüler. Und das zu einer Zeit - wie Kiebler weiter aufzeigt - in der es noch keine einzige Blindenschule gab und sich ein gemeinsamer Schulbesuch an allgemeinen Schulen nicht ansatzweise abzeichnete.

Mit der Erkenntnis, dass dem Unterricht mit Menschen mit Blindheit eine eigene Didaktik unterliegen muss, geht die Entwicklung spezieller mathematischen Hilfsmittel einher. Kiebler stellt die von Niesen entwickelten ausführlich vor. Sie zieht dabei Parallelen zur heutigen Blindenpädagogik, in der Lehrkräfte ihre Veranschaulichungsmedien immer noch häufig selbst herstellen müssen. Die grundsätzlichen Anforderungen an die Medien, beispielsweise an Größe, Stabilität oder Reduktion, haben sich - so eine Erkenntnis Kieblers - seit Niesen ebenfalls kaum geändert. Auch die Differenzierung des Unterrichtsmaterials nach unterschiedlichen Kenntnisniveaus findet sich laut Kiebler bereits bei Niesen.

Zum Abschluss ihrer Arbeit betrachtet die Absolventin differenziert die Bedeutung von Niesen zu Lebzeiten, seinen Einfluss auf andere Blindenpädagogen sowie auf die heutige Zeit. Sie kommt zu dem Schluss, dass seine Sichtweise auf Blindheit als außergewöhnlich und äußerst fortschrittlich bezeichnet werden muss. Sein Wirken und insbesondere seine zwei Werke über die Lehrart des Mathematikunterrichts mit Sehenden und Blinden haben so Kiebler die Institutionalisierung der Blindenbildung maßgeblich beeinflusst.

"Die Person Christian Niesen und seine Arbeit in der Blindenpädagogik ist bislang wenig erforscht", sagt Lang. Die Arbeit von Kiebler sei daher besonders bemerkenswert: "Frau Kiebler hat die weit verstreuten Berichte, Dokumente und Zeugnisse zum Wirken Christian Niesens äußerst gründlich zusammengetragenen und sie kompetent zu einem aussagekräftigen Überblick verarbeitet. So gelingt ihr eine für die historische Blindenpädagogik erkenntisvolle Arbeit, die das Wirken Niesens für die gleichwertige Bildungsfähigkeit blinder Menschen über seine Zeit hinaus überzeugend belegt."

Weitere Informationen finden Sie unter www.ph-heidelberg.de/blinden-und-sehbehindertenpaedagogik.