Forschung

Am AW-ZIB forschen Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam

Der Zeitwächter lässt nicht mit sich handeln. "Fünf Minuten Gruppenarbeit sind um", kündigt Bildungsfachkraft Thorsten Lihl an und die Moderation leitet zum nächsten Tagesordnungspunkt über. Niemand widerspricht oder reagiert gestresst - das Forschungsplenum kennt die Regeln und arbeitet sich diszipliniert durchs Programm. Ergebnisse werden sofort festgehalten. Sind alle auf demselben Stand und einverstanden? Wer Klärungsbedarf hat, signalisiert dies mit einer roten Karte. Am Ende der Sitzung werden die nächsten Schritte festgelegt und mit Feedback-Karten wird das heutige Treffen reflektiert.

Es ist ein besonderes Forum, das wöchentlich an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg (PHHD) tagt: Wissenschaftler:innen, Studierende und Bildungsfachkräfte des Annelie-Wellensiek-Zentrums für Inklusive Bildung (AW-ZIB) treffen sich hier regelmäßig, um gemeinsame Forschungsprojekte zu besprechen.

Expert:innen in eigener Sache

Das AW-ZIB gilt als Pionier der Inklusion. 2020 startete es als bundesweit erste wissenschaftliche Inklusionsabteilung an einer Hochschule, um Lehre, Forschung und Transfer zu betreiben. Zum Team gehören Professor:innen, Promovierende, akademische Mitarbeiter:innen, Studierende, Assistenzkräfte sowie Menschen mit sogenannter kognitiver Beeinträchtigung. Sie werden über drei Jahre hinweg als Bildungsfachkräfte qualifiziert und wirken unter anderem – unbefristet an der PHHD angestellt – in der Lehre an Baden-Württembergs Hochschulen mit. Als Expert:innen in eigener Sache berichten sie in Seminaren über ihre Erfahrungen und tauschen sich mit Studierenden zum Thema Inklusion aus.

Lehre findet somit nicht über sie, sondern auf Augenhöhe statt. Dasselbe Prinzip gilt im Forschungsplenum: Bildungsfachkräfte sind nicht nur Befragte, sondern Ko-Forschende. Derzeit sind zwei von fünf qualifizierten Bildungsfachkräften im Forschungsplenum aktiv – sie entscheiden selbständig, an welchen Forschungsthemen sie mitarbeiten möchten. Das Konzept der "Partizipativen Forschung" ist in der Wissenschaft gerade aktuell: Menschen sind nicht nur Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen, sondern arbeiten gleichberechtigt mit, bringen ihre Erfahrungen ein und erhöhen so die Qualität der Forschung. Die Teilhabe am Forschungsprozess soll wiederum zu mehr gesellschaftlicher Teilhabe führen.

Soviel zur Theorie, aber wie funktioniert dies in der Praxis? Das Forschungsplenum erarbeitete dazu ein eigenes Konzept und baute gemeinsam forschungsmethodische Kompetenzen auf. Nach dem Prinzip der "Forschungsspirale" werden zusammen Fragestellungen entwickelt, bearbeitet und ausgewertet – und das erste Projekt lotete aus, wie inklusive Teams gut zusammenarbeiten können.

Durch die unterschiedlichen Voraussetzungen der Beteiligten, gehe es auch um Machtfragen, sagt Professorin Dr. Karin Terfloth, die das AW-ZIB gemeinsam mit Professorin Dr. Vera Heyl leitet. "Wer treibt Entscheidungen voran und beeinflusst die Gruppendynamik?" Um einer Übervorteilung vorzubeugen, gab sich das Plenum klare Regeln: Beispielsweise wird in einfacher Sprache kommuniziert. Zeitwächter:innen und Entscheidungswächter:innen achten auf die Abläufe und darauf, dass niemand übergangen wird. Und die Publikation zum ersten Projekt wurde in einfacher Sprache und mit barrierefreier Hörversion veröffentlicht.

Inklusion als Lernprozess

Das selbstkritische Reflektieren gehört ohne Zweifel zur DNA des Zentrums, wie die aktuelle Forschungsfrage zeigt: Wie sieht sich das AW-ZIB selbst und wie wird es von außen wahrgenommen? Das dazu entwickelte Motto "Inklusiv - Kompetent - Bedeutsam" verglichen die Forschenden mit Aussagen von Lehrenden und Studierenden über das AW-ZIB und seine Arbeit.

Im Ergebnis berichten sie, sei die angezielte Außenwirkung bestätigt worden. "Wir wurden ermutigt, weiterzumachen und unseren Wirkungskreis auch auf Schulen und Unternehmen auszuweiten", erzählt Terfloth. Zu den kritischen Punkten gehört, dass die Bildungsangebote mit Bildungsfachkräften scheinbar nicht immer ausreichend im Seminar vor- und nachbearbeitet werden – bei den Studierenden bleibe so manchmal der Eindruck ungelöster Inklusions-Probleme. Das Plenum schlägt deshalb vor, die Bildungsangebote künftig noch lösungsorientierter zu gestalten. Denkbar sei auch, in neuen Formaten häufiger als inklusives Team aufzutreten. Zunächst soll aber die Datenbasis vergrößert werden, weitere Befragungen sind geplant.

Zum Abschluss werden die Rollen für die nächste Sitzung verteilt. Aufgaben wie die Moderation und Zeitwächter:innen rotieren. Gleichzeitig habe man gelernt, Arbeitsteilung gezielt einzusetzen, sagt Vera Heyl. "So können alle ihre jeweiligen Kompetenzen einbringen."Dabei ist jeder Beitrag wertvoll. "Im Forschungsplenum sind alle gleichwertig, das schätze ich", sagt Bildungsfachkraft Thorsten Lihl. "Die Arbeit hier hat mir gezeigt, dass inklusive Forschung ein notwendiger Schritt hin zu einer Gesellschaft ist, in der Inklusion als selbstverständlich gilt", erzählt Sonderpädagogik-Studentin Hannah Brathuhn. Und auch Wissenschaftlerin Heyl sieht die Arbeitsgruppe "auf einem guten Weg, um produktiv miteinander zu arbeiten". Ohnehin befinde sich die gemeinsame Forschung wie auch das AW-ZIB in einem ständigen Lernprozess.

Was beim Thema Teilhabe wohl für alle gilt: Inklusion dauerhaft in sämtlichen Lebensbereichen zu verankern, ist ein Lernprozess für die gesamte Gesellschaft. Projekte wie das Forschungsplenum des AW-ZIB leben vor, was möglich wird, wenn Ressourcen, Zeit und der Wille da sind. Für Studentin Hannah Brathuhn hat das Vorbildfunktion: "Wenn wir hier schaffen, so viele unterschiedliche Sichtweisen zusammenbringen, dann können wir es auch als Gesellschaft schaffen, Inklusion zu leben."

Weitere Informationen finden Sie unter www.ph-heidelberg.de/aw-zib.

Text: Antje Karbe
Foto: Dr. Birgitta Hohenester