Louis Braille war genügsam. Er erlaube sich hiermit, seine bescheidene Erfindung vorzustellen, warb er vor rund 200 Jahren für ein neues Schriftsystem. Es sollte blinden Menschen das Lesen durch Tasten ermöglichen und war so einfach wie genial: Braille nutzte eine Zelle mit sechs Punkten (je drei Zeilen aus zwei Punkten), um darauf erhabene Punkte anzuordnen. 64 unterschiedliche Kombinationen konnten so mit den Fingerspitzen ertastet werden und standen für unterschiedliche Buchstaben, Zahlen und Zeichen.
Der gerade mal 15 Jahre alte Franzose ahnte 1825 nicht, dass er soeben eine Revolution für die Bildung blinder Menschen losgetreten hatte: Heute wird die Brailleschrift als weltweit anerkanntes System verwendet. "Diese Erfindung hat die Teilhabe-Möglichkeiten für Menschen mit Blindheit revolutioniert und ist noch immer Herzstück der Blindenpädagogik", sagt Professor Dr. Markus Lang, der seit mehr als 20 Jahren an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg zum Förderschwerpunkt "Lernen bei Blindheit und Sehbeeinträchtigung" lehrt und forscht.
"Battle of the Dots"
Die Brailleschrift wurde zum Gamechanger, wie man heute sagt, wenn auch mit Verzögerung. "Sehende Blindenlehrer:innen waren das größte Hemmnis bei der Durchsetzung", erzählt Lang. Während blinde Menschen die Schrift trotz Verbots nutzten, verwendeten damalige Blindenschulen Schwarzschrift – die Schrift der Sehenden – in erhabenen Buchstaben. "Mit begrenztem Erfolg, man geht davon aus, dass höchstens ein Drittel der Schüler:innen mehr schlecht als recht Lesen lernte", sagt Lang.
Dennoch wischte der Pionier des Blindenunterrichts, dem Braille seine Idee vorlegte, diese erstmal vom Tisch: Johann Wilhelm Klein fürchtete, eine eigene Schrift würde blinde Menschen weiter isolieren. "Im Grunde war das sozial-integrativ gedacht", sagt Lang, "aber es verkannte, dass sich mit dem taktilen Punktschriftsystem besser lesen und schreiben lernen ließ."
Erst 1879 mehr als 50 Jahre später, war die Brailleschrift offiziell in Deutschland zugelassen. Nach einer regelrechten "Battle of the Dots" einigte man sich international schließlich auf die original Brailleschrift als einheitliches System. Heute sei das Argument der "Isolation" leichter auszuhebeln, sagt Lang augenzwinkernd. "Einem Computer ist es nämlich egal, ob er visuelle Buchstaben oder Brailleschrift anzeigt, der zugrundeliegende Code ist derselbe." Und so kommt die digitale Barrierefreiheit einer zweiten Revolution gleich, denn jedes digitale Werk – ob Medienberichte oder Weltliteratur – kann heute auch in Brailleschrift umgewandelt oder vorgelesen werden.
Immer noch unverzichtbar
Ist es dann überhaupt noch wichtig, die übungsintensive Brailleschrift zu beherrschen? Wissenschaftler Lang ist zutiefst davon überzeugt und konnte dies auch mit der Studie "Zukunft der Brailleschrift" (ZuBra) belegen: Gemeinsam mit Kolleg:innen der interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich wurden von 2015 bis 2018 Daten zum Nutzungsverhalten von mehr als 800 Braille-Leser:innen erhoben, die zwischen 6 und 89 Jahren alt waren. In einer ergänzenden Studie überprüfte man die Lese- und Schreibkompetenzen von 190 Menschen aus derselben Zielgruppe.
Die Ergebnisse zeigen, dass die Brailleschrift für blinde und hochgradig sehbehinderte Menschen unverzichtbar bleibt, und heute oft in Kombination mit Sprachausgaben genutzt wird. Die Vorteile ergänzen sich: Die Hörgeschwindigkeit ist deutlich höher als das Lesen von Brailleschrift, dafür ermöglicht Lesen ein tieferes Verständnis eines Textes als Hören. Während lesekompetente Sehende im Schnitt 350 Wörter pro Minute lesen können, kämen gute Braille-Leser:innen auf etwa 100 Wörter, sagt Lang. "Das kombinierte Lesen und Hören beschleunigt deutlich." Die Studie zeige aber auch, dass man beides üben müsse und so früh wie möglich damit beginnen sollte.
Um dies noch attraktiver zu machen, entwickeln Lang und Kolleg:innen in weiteren Projekten Lernmaterialien zur Tastförderung von Kindern sowie inklusive Lesematerialien. Letztere führen mit den Geschichten von "Alex und Lilani" sehende wie auch blinde Vorschulkinder an den Schrifterwerb heran. Die bunten Hefte wurden von Designer:innen der Hochschule der Künste Bern gestaltet und 2023 mit dem "New York Product Design Award" in Silber ausgezeichnet. "Es ist unser großes Anliegen, die Brailleschrift aus dem verstaubten Image zu holen“, so Sonderpädagoge Lang. "Wir wollten Hingucker, mit denen sich auch Sehende gerne befassen. Diese Begeisterung kann sich wieder auf Kinder übertragen."
Die Heftreihe ist mittlerweile zu kaufen und wird von Frühförderstellen und Schulen verwendet. Internationale Kolleg:innen haben zudem Interesse an einer niederländischen sowie einer japanischen Version bekundet, und auch mit den USA ist man im Gespräch. Eine Reichweite, auf die das Team ein wenig stolz ist – genauso wie auf die Tatsache, dass ZuBra bislang die weltweit größte Studie zur Brailleschrift ist.
Mit modernsten Technologien kompatibel
Die Vision von Markus Lang und seinen Mitstreiter:innen geht noch weiter. "Wir wollen die Brailleschrift aus der Nische holen und ihr größere Sichtbarkeit im Alltag verschaffen", sagt der Sonderpädagoge, den das Thema in mehr als 20 Jahren als Lehrer und Wissenschaftler nie losgelassen hat. So wie auch ein gemeinsamer (Schul)alltag vermutlich das beste Instrument sei, um das Zusammenleben zur Normalität werden zu lassen.
Den Studierenden bzw. angehenden Lehrkräften der PHHD will er vorleben, dass sich dabei ein neuer Blick auf die Dinge lohnt: Zum einen auf die Leistung sehbehinderter und blinder Menschen, die eine außergewöhnlich hohe Gedächtnisleistung brauchten, um sich in Schule und Alltagsleben zurechtzufinden. Zum anderen darauf, dass in inklusiven Klassen alle Kinder profitieren könnten. "Ein Text, den ich für ein:e blinde Schüler:in vereinfache oder kürze, kommt auch Kindern mit anderem Förderbedarf zugute. In diesem Sinne sollte man Inklusion nicht nur als Mehraufwand sehen, sondern als Gewinn für Alle."
Um überhaupt bis hierhin zu kommen, brauchte es Entwicklungen wie die von Louis Braille, der früh verstarb und den Siegeszug seiner Schrift nicht mehr erlebte. Geehrt wurde er dafür erst 100 Jahre nach seinem Tod, als man ihn in Frankreichs Ruhmeshalle, das Panthéon, überführte. "Ich finde es phänomenal, dass vor 200 Jahren etwas erfunden wurde, das jede technische Entwicklung mitgehen kann", sagt Lang. Begonnen habe es mit einem einfachen Stichel, mit dem jeder Punkt einzeln ins Papier gedrückt wurde. Heute sei das taktile Schriftsystem mit modernsten Technologien kompatibel, so Lang. "Hätte man Braille nicht schon einen Platz im Pantheon zugedacht, man müsste ihn zum 200-jährigen Jubiläum seiner Erfindung glatt adeln."
Weitere Informationen finden Sie unter www.ph-heidelberg.de/blinden-und-sehbehindertenpaedagogik.
Text: Antje Karbe
Foto: Dr. Birgitta Hohenester