Call for Paper - Einreichfrist: 15.07.2022

Was Resilienz stärkt. Chancen und Risiken eines immer populärer werdenden Konzepts

10./11. März 2023, Pädagogische Hochschule Heidelberg

Der Titel für die Tagung ist bewusst doppelsinnig gewählt: Er knüpft einerseits an den Titel des Sammelbandes „Was Kinder stärkt“ von Opp/Fingerle/Freytag (1999) an, der zurecht als „Auftakt zum Resilienzdiskurs in den Erziehungswissenschaften im deutschsprachigen Raum“ eingestuft wurde (Frindt 2021). Somit zielt er auf die Frage nach dem heutigen Wissen darüber, was Resilienz von Kindern und Jugendlichen unterstützt, was ihre seelischen Widerstandskräfte aufbaut und stärkt. Zweifellos ist es eine pädagogisch hochbedeutsame Frage, wie man Selbstvertrauen, Zuversicht, Lebensmut und „Life Skills“ gerade bei jenen Kindern und Jugendlichen fördern kann, die mit erheblichen Entwicklungsrisiken aufgewachsen sind oder aktuell mit besonders belastenden Lebensereignissen zurechtkommen müssen.

Der Titel kann aber auch noch anders verstanden werden, nämlich als Frage danach, welche gesellschaftlichen Tendenzen und welche Konstruktionen von Kindheit und Jugend durch die forcierte Betonung der Resilienz-Thematik, wie sie in den letzten Jahren zu beobachten ist, gestärkt werden. Sind es eventuell Tendenzen der (Selbst-)Optimierung? Phantasmen der Stress-Immunisierung? Trends der Verleugnung von Vulnerabilität, Abhängigkeit oder Angewiesenheit von Kindern und Jugendlichen?

Der sperrige, aus dem Amerikanischen eingedeutschte Begriff „Resilienz“, der ursprünglich aus der Materialforschung stammt, hat seit jenem „Auftakt“ eine erstaunliche, damals kaum vor­auszusehende Karriere gemacht. Die Verwendung des Begriffs in der deutschsprachigen Literatur verzeichnet laut Googles Ngram Viewer seit Anfang der 2000er Jahre ein expotentielles Wachstum und der Trend dürfte sich gerade in den letzten Jahren noch einmal beschleunigt haben. Denn es gibt zahlreiche Belege dafür, dass der Begriff nun auch endgültig in die populärwissenschaftlichen Journale, die Feuilletons, die Lebenshilfebücher und damit in die Alltagssprache diffundiert ist. Eine kaum mehr zu überblickende Zahl von populären Ratgebern zum Thema kommt zumeist mit ziemlich großen Verheißungen und Versprechungen daher. Die Symbolik, die auf den entsprechenden Buchcovern zu finden ist, scheint ebenfalls bezeichnend: Meist ist es das berühmte „Stehaufmännchen“, das als Symbol gewählt wird, häufig aber auch der Schirm, der alle Widrigkeiten des Schicksals und des Alltags abhält oder das Pflänzchen, das unaufhaltsam aus dem unwirtlichen Asphalt hervorsprießt. Oder aber es ist der Lenkdrachen, mit dem man geschickt die Kräfte des Sturmes für eigene Zwecke nutzen kann, bzw. der Fels oder der Leuchtturm, der den heftigen Brandungswellen standhält.

In den Zeiten der Corona-Krise hat das Resilienz-Konzept mächtig an Popularität zugelegt. Denn die Frage nach den seelischen Abwehrkräften, die den Menschen helfen, mit all den Veränderungen, Einschränkungen, Bedrohungen und Belastungen zurechtzukommen, gelassen und zuversichtlich zu bleiben, ist natürlich gerade in Pandemiezeiten besonders „virulent“. Und mit Krieg und Flucht in Europa und dem, was all dies an seelischen Belastungen für die Betroffenen mit sich bringt, gewinnt das Thema aktuell noch einmal eine neue dramatische Dimension.

Natürlich wurde das Resilienzkonzept inzwischen auch in diverse pädagogische Förderprogramme umgesetzt, die z.T. sehr weitreichende Versprechungen machen. So ist z.B. auf dem Cover des Buches „Resilienz. Widerstandsfähigkeit stärken – Leistung steigern von Annie Greef (2008), das „praktische Materialien für die Grundschule mit Kopiervorlagen“ bietet, zu lesen: „Mithilfe der sechs ausgearbeiteten Einheiten des Bandes stärken Sie das Vertrauen der Kinder und Heranwachsenden in die eigenen Fähigkeiten. Die Übungen … fördern und festigen gezielt das Selbstbewusstsein, die Durchsetzungskraft, Widerstandsfähigkeit und Toleranz der Kinder. Das positive Resultat ist eine kontinuierliche schulische Leistungssteigerung“. Und auf dem Trainingsbuch „Die sieben Säulen der Resilienz“ wirbt E. Morell (2021) mit dem Versprechen, den erwachsenen LeserInnen Anleitung zu geben, „Wie Sie mit den Powermethoden eiserne Resilienz trainieren, absolut stressresistent werden und eiserne Widerstandskraft aufbauen“.

Es stellt sich die Frage, inwiefern die immer stärkere Popularisierung des Resilienzkonzepts und die Aufladung mit immer größeren Verheißungen im Hinblick auf die „pädagogische Machbarkeit“ von seelischer Widerstandskraft tatsächlich in direkt proportionalem Verhältnis zu substantiell neuen Erkenntnissen im Feld der Resilienzforschung stehen. Immer noch wird nämlich vor allem auf die „Mutter aller Resilienz-Studien“, die Kauai-Studie von Emmy Werner verwiesen, die bereits im Jahr 1955 gestartet ist und deren letzte Erhebungswelle inzwischen schon mehr als 30 Jahre zurückliegt. Immer wieder werden in der aktuellen Literatur Kataloge von „personalen“ und „sozialen „Schutzfaktoren“ präsentiert, die denen von Werner weitgehend gleichen.

Von Ann S. Masten wurden inzwischen unterschiedliche Phasen der Resilienzforschung beschrieben, die eine Verlagerung von Interessens- und Forschungsschwerpunkten nachzeichnen. Entsprechenden Erkenntnissen gemäß ist im Zusammenhang mit Resilienz heute nicht mehr von „Invulnerabilität“ die Rede, also von Kindern mit ganz besonderen „magischen“ Persönlichkeitseigenschaften, sondern von „Ordinary Magic“ (Masten 2016, S. 13), und es wird betont: „Widerstandskraft geht aus den adaptiven Systemen hervor, wie sie für die Kindesentwicklung gang und gäbe sind“ (ebd., S. 25). Zudem wird im Hinblick auf die Idee der Resilienzförderung neben der Stärkung individueller Ressourcen zunehmend die Notwendigkeit gesehen, auch auf politisch-struktureller Ebene präventiv zu steuern und dafür zu sorgen, dass bestimmte Belastungen erst gar nicht entstehen. Weiterhin ist in jüngerer Zeit eine weitreichende Entgrenzung des Resilienzbegriffs zu beobachten, indem dieser immer mehr auf komplexe Systeme ganz unterschiedlicher Art bezogen wird. Auch hier ist freilich zu fragen, inwiefern es sinnvoll ist, den Resilienzbegriff so auszuweiten, dass er als abstrakter Systembegriff gleichermaßen auf Lieferketten, Unternehmensstrukturen, Finanzinstitute, Gesundheitssysteme, Computernetzwerke und auf kindliche Entwicklungsverläufe sowie auf menschliche Bewältigungsprozesse im weiteren Lebenslauf anwendbar ist.

40 Jahre nach dem Erscheinen des ersten „Resilienz-Buches“ von Emmy Werner und Ruth Smith mit dem Titel „Vulnerable but Invincible. A Longitudinal Study of Resilient Children and Youth (1982) scheint es an der Zeit für eine kritisch-würdigende Bilanz. Zeit dafür, die Frage zu stellen welche markanten Erkenntnisfortschritt es im Bereich der Resilienzforschung seitdem gab. Oder handelt es sich vielleicht eher um „Vermarktungsfortschritte“? Inwiefern wissen wir heute mehr über die Risiko- und Schutzfaktoren der (kindlichen) Entwicklung? In welchen Punkten und in welchen Hinsichten haben wir heute tatsächlich ein klareres, differenzierteres, gesicherteres Wissen darüber, was erforderlich ist, damit Kinder, Jugendliche und Erwachsene aus belasteten Lebensverhältnissen sich zu „starken“, „widerstandsfähigen“, „resilienten“ Menschen entwickeln können, und worauf genau es ankommt, wenn pädagogische Personen, Institutionen und Programme eine solche Entwicklung gezielt unterstützen wollen?

Die Tagung möchte die kritisch-würdigende Bilanz mit konstruktiven Überlegungen für die Resilienzforschung und -förderung angesichts aktueller Krisen- und Transformationsprozessen in unseren Gesellschaften verbinden.

Mit der Tagung wollen wir WissenschaftlerInnen, professionelle AkteurInnen aus Fort- und Weiterbildung sowie pädagogischer Praxis in den verschiedenen pädagogischen Arbeitsfeldern ansprechen.

Es können unterschiedliche Beiträge eingereicht werden: 

  1. Bilanzierende Beiträge und Beiträge aus aktuellen Forschungen: Inwiefern wissen wir heute mehr bzw. was wissen wir aus aktuellen Forschungen Genaueres über die Risiko- und Schutzfaktoren von Entwicklung in bestimmten Lebensphasen (Kindheit, Jugend) und über die Lebensspanne hinweg? In welchen Punkten und in welchen Hinsichten haben wir heute ein klareres, differenzierteres, gesicherteres Wissen darüber, was erforderlich ist, damit Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit belastenden Lebensgeschichten oder in aktuell risikobehafteten Lebenssituationen sich zu „starken“, „widerstandsfähigen“, „resilienten“ Menschen entwickeln können?
  2. Problematisierende Beiträge: Was sind die eventuellen Missverständnisse und Verkürzungen bei der Verwendung des Resilienzkonzepts? Welches sind die Kehrseiten und „unbeabsichtigten Nebenwirkungen“ der Resilienzorientierung? Welche gesellschaftlichen Tendenzen und welche Konstruktionen von Kindheit und Jugend werden durch die forcierte Betonung der Resilienz-Thematik, wie sie in den letzten Jahren zu beobachten ist, gestärkt oder auch geschwächt?
  3. Praxisorientierte Beiträge: Worauf genau kommt es an, wenn pädagogische Personen, Institutionen und Programme den Anspruch verfolgen, Resilienz von Kindern, Jugendlichen und/oder Erwachsenen gezielt stärken zu wollen? Welche Erfahrungen wurden mit welchen konkreten Programmen oder Maßnahmen der Resilienzförderung gemacht?
  4. Biografieorientierte Beiträge: Was können wir aus der Analyse von Lebensgeschichten über die unterschiedlichen Weisen der Verarbeitung von Belastungen, über hilfreiche und weniger hilfreiche Formen (pädagogischer) Unterstützung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen lernen?

Als Beitragsformate sind 20-minütige Vorträge (mit anschließender 10-minütiger Diskussion) vorgesehen.

Wir bitten um Einreichung von Abstracts (800-1000 Zeichen ohne Leerzeichen) bis zum 15.07.2022 an: resilienztagung☞ Bitte fügen Sie an dieser Stelle ein @ ein ☜ph-heidelberg☞ Bitte fügen Sie an dieser Stelle einen Punkt ein ☜de. Rückmeldung zu Ihrem Vorschlag erhalten Sie bis Ende September 2022.

Auf Ihre Vorschläge freut sich das Tagungsteam

Prof. Dr. Rolf Göppel & Prof. Dr. Ulrike Graf