Bildungsphilosophische Stolpersteine – Was war es, was wir mit Hannah Arendt verstehen woll(t)en?

Die Auseinandersetzung mit dem Werk und den Perspektiven Hannah Arendts bleibt von ungebrochener Aktualität. Ihre Überlegungen zu Schlüsselthemen wie Öffentlichkeit, Macht und Gewalt prägen nicht nur die politische Theorie und Philosophie, sondern liefern auch wertvolle Impulse für das Verständnis moderner Gesellschaften und politischer Handlungen. Diese Impulse überschreiten jedoch die Grenzen der politischen Theorie und berühren ebenso zentrale Fragen der Erziehungswissenschaft und Bildungsphilosophie. Arendts Konzepte stellen eine fundierte Grundlage für die Reflexion über die soziale Ordnung und die Bedingungen von Bildung.

In der Erziehungswissenschaft sind bereits einzelne Arendt’sche Perspektiven aufgegriffen worden, etwa ihre Überlegungen zu Streit (Hilbrich, 2023), zu einer Bildung der ‚grünen Bürgerlichkeit‘ (Drerup/Felder/Magyar-Haas/Schweiger, 2022), zu Unterricht (Rémon, 2021) oder zu Inklusion (Su/Bellmann, 2021). Doch im Vergleich zur politischen Theorie wurde bisher nur wenig von Arendts Denken in der pädagogischen Theorie ausführlich reflektiert. Ziel dieses Projekts ist es, eine systematische und dezidiert allgemeinpädagogische Auseinandersetzung mit ihrem Œuvre nachzuholen und es im Kontext bildungstheoretischer Fragestellungen neu zu verorten.

In diesem Rahmen veranstalten wir eine Tagung vom 20. bis 21. Juni an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, die eine Gelegenheit zum vertieften Dialog bietet. Die Tagung lädt dazu ein, die vielfältigen Aspekte von Arendts Denken zu diskutieren und ihre Relevanz für die Bildungsphilosophie zu reflektieren.

Dabei möchten wir in drei zentralen Bereichen einen vertieften Dialog anregen, der sowohl das Potenzial als auch die Irritationen von Arendts Denken für die Erziehungswissenschaft thematisiert. Die Einladung zur Diskussion erfolgt mit dem Ziel, kritische und produktive Perspektiven zu entwickeln:

1. Denkfiguren – Irritationen

Die Auseinandersetzung mit den Denkfiguren Hannah Arendts in der Erziehungswissenschaft steht noch am Anfang. Es wurde bereits mit einzelnen Konzepten wie das Politische (Meints-Stender, 2011), die Natalität (Brumlik, 1992), das Öffentliche (Reichenbach, 2001) und die Autorität (2011) gearbeitet. Doch Arendts Denken enthält noch viele weitere Konzepte, die ebenso das Potenzial bieten, die pädagogische Theorie zu bereichern. Ihre Denkfiguren stiften Irritationen und führen dazu, dass man über gewohnte Perspektiven stolpert. Der Begriff der amor mundi (Liebe zur Welt) etwa verweist auf die Spannung zwischen der Verantwortung für das Werden des Kindes und dem Schutz der Welt gegen den Ansturm des Neuen. Ihre Überlegungen zum Urteilen, zur Pluralität und zur kommunikativen Praxis des Urteilens zeigen, wie Arendt mit der Idee von Subjektivität und universellem Anspruch zu einer Unterscheidung des Wissens kommt, die auch das pädagogische Handeln herausfordert.

2. Arendt (Weiter)„Denken ohne Geländer“

Arendt entfaltete ihr Denken nicht immer geradlinig, sondern ließ oft eine Spannweite zwischen den theoretischen Positionen erkennen. Gerade diese streitbaren und unvollständigen Positionierungen bieten aus unserer Perspektive einen produktiven Zugang zur Auseinandersetzung mit Arendt. Ihre Konzeption von Öffentlichkeit, als Raum des Handelns, in dem sich soziale Strukturen formen und Bedeutung gewinnen, überschneidet sich mit ihrer Auffassung von Politik und Handeln, die auf der Idee der Natalität basieren. Arendt regt zur Weiterentwicklung ihrer Überlegungen durch die Betrachtung der Unschärfen und Mehrdeutigkeiten an, etwa durch ihre Kritik an der Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit. Diese Unschärfen fördern ein Denken, das ohne die üblichen 'Geländer' auskommt und sich der Komplexität von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft öffnet.

3. Antisemitismus, Totalitarismus und die Banalität des Bösen – Zwischen Vergangenheit und Zukunft

Arendts Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus und ihre Erfahrungen als Jüdin im 20. Jahrhundert sind von großer Bedeutung für das Verständnis ihrer politischen Theorien. Ihre Analyse der Entstehung und Funktionsweise totalitärer Regime, insbesondere des Nationalsozialismus und des Stalinismus, und ihre Überlegungen zur „Banalität des Bösen“ haben heute wieder eine hohe Relevanz. Die Frage, wie sich Arendts Beobachtungen zu den gesellschaftlichen Entwicklungen in der Gegenwart, etwa im Hinblick auf den Rechtspopulismus, spiegeln, ist nach wie vor aktuell. Zudem bietet ihre Auseinandersetzung mit den Menschenrechten und der Staatenlosigkeit einen fruchtbaren Raum für Diskussionen, der auch aktuelle Fragen zu Flucht, Exil und dem Verlust der Staatsbürgerschaft anspricht.

Die Tagung ist gemeinsam erdacht und organisiert von Gabriele Weiß, Lukas Pfister, Roland Reichenbach und Steffen Wittig. Wir laden Sie ein, diese Perspektiven weiterzudenken und in die aktuellen Diskussionen einzubringen. Es erwartet uns ein spannender Austausch zu den vielfältigen Aspekten von Hannah Arendts Denken und deren Auswirkungen auf die Bildungsphilosophie.