Buchempfehlung im Juni: „Wolf“

Kemi hatte sich auf die Ferien gefreut – aber ganz sicher nicht auf ein einwöchiges Zeltlager mitten in der Natur. Kein Internet, keine gemütliche Couch, keine Konsole – stattdessen matschige Wanderwege, nervige Stechmücken und seltsame Gruppenregeln. Als wäre das nicht schon schlimm genug, erfährt er auch noch, dass er sein Hüttenzimmer mit dem wahrscheinlich unbeliebtesten Jungen der Klasse teilen muss: Jörg. Ausgerechnet Jörg! Der Junge trägt viel zu große, sackartige Kleidung und sein Gesicht wird von einer riesigen Brille mit dicken Gläsern umrahmt. Er redet kaum, beobachtet lieber: Bäume, Insekten und Menschen. Sein Wissen über die Natur ist beeindruckend, aber für die anderen Kinder einfach nur „komisch“. Und genau deshalb wird er schnell zur Zielscheibe: Ein Außenseiter, verspottet und ausgeschlossen.

Doch dann geschieht etwas Unerwartetes: In der Nacht hören Kemi und Jörg ein seltsames Heulen, das sich anhört, als käme es von einem angsteinflößenden, riesigen Wolf. Ist da draußen wirklich ein Wolf oder bilden sie sich das nur ein? Während um sie herum der Lageralltag weiterläuft, wächst zwischen den beiden Jungen eine leise, vorsichtige, aber auch mutige Freundschaft. Und mit ihr wächst in Kemi etwas Neues: Zweifel. Wie lange kann man schweigen, wenn man sieht, wie jemand ungerecht behandelt wird und ab wann macht das Schweigen einen selbst zum Teil des Problems? Jörg zeigt Kemi, die Welt mit neuen Augen zu sehen: Die Schönheit eines seltenen Schmetterlings, wie viel Kraft in der Stille des Waldes liegt – und was es bedeutet, zu sich selbst zu stehen. Er sagt nicht viel, aber wenn er spricht, sind seine Worte bedacht und ehrlich. Seine Stärke ist leise: Sie zeigt sich in seiner Gelassenheit und in seinem Mut zu sich selbst zu stehen. Kemi beginnt, sich zu verändern. Er stellt Fragen, beobachtet genauer – und beginnt, sich gegen die Ausgrenzung zu wehren. Der Wolf wird dabei zum Symbol: für das Wilde in Kemi selbst und für den Mut, den es braucht, anders zu sein. Für den Moment, in dem man endlich nicht mehr wegschaut, sondern hinsieht und zu handeln beginnt. Kemi entdeckt in diesem Sommer nicht nur eine unerwartete Freundschaft, sondern auch eine neue Seite an sich selbst: eine, die bereit ist, sich gegen Unrecht zu stellen – und für das einzustehen, was wirklich zählt.

Mit dem 2024 verliehenen deutschen Jugendliteraturpreis für das Kinderbuch „Wolf“ stellt Saša Stanišić ein Werk vor, das sich sensibel und zugleich kraftvoll mit wichtigen Themen wie Ausgrenzung, Freundschaft und Zivilcourage auseinandersetzt. Stanišić gelingt es, diese ernsten Inhalte mit alltagsnaher und zugleich feinfühlig-humoristischer Sprache zu vermitteln, die sowohl für junge Leser:innen ab etwa zehn Jahren, als auch für Erwachsene geeignet ist, da es sprachlich poetisch und zugleich kindgerecht geschrieben ist. Das zentrale, sich durch den Roman ziehende metaphorische Bild des Wolfes, dient als kluges Symbol für die anhaltenden inneren Konflikte, Ängste und schließlich den Mut des Protagonisten, sich an Jörgs Seite zu stellen und gegen das Unrecht zu kämpfen. Die ansprechenden schwarz-gelben Illustrationen von Regina Kehn ergänzen den Text als eine Art „stiller Begleiter“ und verstärken die Atmosphäre und emotionale Tiefe der Erzählung. Sie sind keine bloße Ausschmückung, sondern unterstützen die Sprache Stanišićs, indem sie das vertiefen, was oft unausgesprochen bleibt: Zweifel, Freundschaft, innere Zerrissenheit und Veränderung. „Wolf“ ist somit ein vielschichtiges Werk, das Leser:innen ermutigt, nicht wegzusehen, sondern Verantwortung zu übernehmen und Empathie zu zeigen – jedoch nie mit erhobenem Zeigefinger, sondern eingebettet in eine atmosphärische Geschichte, die die Gefühle von Kindern ernst nimmt und tief berührt.

verfasst von Lisa Klär

 

Tabelle mit Informationen zum Buch

Informationen zum Buch
KategorieInformation
TitelWolf
Autor/inSaša Stanišić
Erscheinungsjahr2023
VerlagCarlsen
Seiten 185
Altersempfehulungab 10-11 Jahren
ISBN978-3-551-65204-1
Preis14,00 €