Das AW-ZIB hat am 13. und 14. Oktober 2023 in Kooperation mit dem Deutschsprachigen SUI-Netzwerk, dem Aktionsbündnis Teilhabeforschung und der Lebenshilfe Heidelberg e.V. eine Tagung zum Thema "Expert:innen in eigener Sache in Forschung, Lehre und beruflicher Bildung" im hybriden Format veranstaltet.
Expert:innen in eigener Sache sind Menschen, die persönliche Erfahrungen aus ihrer Lebenswelt und mit Unterstützungsangeboten reflektieren. Ihre Erfahrungen können sie in Diskussionen und Prozesse für die Lehre und Forschung sowie die berufliche Bildung einbringen.
Für die Beteiligung von Expert:innen in eigener Sache kann der Ansatz „Service User Involvement (SUI)“ aus der Sozialen Arbeit nützlich sein. Der SUI-Ansatz fordert die Ergänzung von Wissen aus Forschung, Theorie und Berufserfahrung. Adressat:innen erleben soziale Dienste und Bildungsangebote und werden als Expert:innen ihres eigenen Lebens bezeichnet. Sie sollen aber nicht nur an den eigenen Hilfeprozessen und –verläufen beteiligt werden, sondern ihre Erfahrungsexpertise kann auch die aktuelle und zukünftige Gestaltung von Hilfsangeboten sowie (akademischer) Ausbildung von angehenden Fachkräften verbessern.
SUI ist ein partizipativer Ansatz: „Partizipation bedeutet die aktive Beteiligung von Einzelnen und Gruppen an Entscheidungen, die das eigene Leben/eigene Angelegenheiten oder das Leben in der Gemeinschaft betreffen, respektive an der Suche, (Weiter-)Entwicklung und Umsetzung von damit verbundenen Maßnahmen oder Lösungen.“ (Chiapparini et al. 2020, S. 10)1.
In Einrichtungen der Erwachsenenbildung, wie beispielsweise in Hochschulen oder bei Anbietern der beruflichen Bildung, steht bis heute vor allem wissenschaftliches Wissen im Zentrum. Dieses Wissen entwickeln in der Regel wissenschaftliche Mitarbeiter:innen in der Forschung und geben dies über hochschulische Lehre oder Publikationen an Lernende und die Fachwelt weiter. Darüber hinaus setzen sich Lernende auch mit eigenen Erfahrungen in der Berufspraxis auseinander – dem Praxiswissen. Expert:innen in eigener Sache und deren Erfahrungsexpertise spielen an Hochschulen bisher hingegen kaum eine Rolle.
Die Ziele der Tagung waren es,
- Lehrende, Forschende und Expert:innen in eigener Sache an Hochschulen und in der beruflichen Bildung miteinander in den Austausch kommen zu lassen.
- Verknüpfungsmöglichkeiten von wissenschaftlichem Wissen, Praxiswissen und Erfahrungswissen zu diskutieren.
- mögliche Potentiale auszuloten, die der Einbezug von Expert:innen in eigener Sache für Bildung und Empowerment verspricht.
- darüber in Austausch zu kommen, welche (zusätzlichen) Ressourcen für den Einbezug von Expert:innen in eigener Sache notwendig sind.
Im Rahmen der Tagung wurde diskutiert, wie Expert:innen in eigener Sache ihr Erfahrungswissen in folgende drei Themenbereiche einbringen und diese dadurch bereichern können:
Der Ansatz SUI ist bereits 2004 in die „Global Standards for the Education and Training of the Social Work Profession“ (IASSW/IFSW 20202) aufgenommen worden. Eine konsequente Umsetzung des Einbezugs von Expert:innen in eigener Sache in hochschulische Lehre ist bisher nur in Großbritannien zu finden. Dort ist SUI seit dem Jahr 2003 für die Zulassung eines Studiengangs Sozialer Arbeit zwingend notwendig.
Im deutschsprachigen Raum werden schon in vielen verschiedenen Formaten und an vielen verschiedenen Hochschulen Expert:innen in eigener Sache beteiligt. Es gibt auch hochschulübergreifende Vernetzung zu diesem Thema sowie zahlreiche Veröffentlichungen, in denen die Bedeutsamkeit dieses Ansatzes untermauert wird. Allerdings gibt es keine systematische und verbindliche Verankerung. Diesem Defizit soll mit dem Themenbereich „Partizipative Lehre“ dieser Tagung durch unterschiedliche Diskussionsforen und thematische Vertiefungen entgegengewirkt werden.
Mögliche Fragestellungen:
- Welche Formate von SUI an Hochschulen lassen sich derzeit erkennen und unter welchen Bedingungen werden diese derzeit realisiert?
- Was sind Gelingensbedingungen und Herausforderungen für einen konzeptionellen Einbezug von Expert:innen in eigener Sache in Lehrveranstaltungen?
- Welche Gewinne sehen Studierende im Einbezug von Expert:innen in eigener Sache, welche benennen Lehrende und welche die Expert:innen selbst?
2
Partizipative Forschung ist ein Sammelbegriff für Forschungsansätze, bei denen Bürger:innen beziehungsweise Expert:innen in eigener Sache an verschiedenen Schritten eines Forschungsprojekts beteiligt sind. Sie sind nicht hauptberuflich Forschende und werden häufig als so genannte Co-Forscher:innen bezeichnet.
Ziele partizipativer Forschungsansätze sind die partnerschaftliche Erforschung und Beeinflussung sozialer Wirklichkeiten. Partizipative Forschung soll zur Selbstbefähigung und Ermächtigung der Co-Forschenden beitragen (Empowerment). Die Forschungsfragen partizipativer Forschungsansätze ergeben sich aus der Innensicht Betroffener und gehen von relevanten Praxisproblemen aus. Partizipative Forschung ist nicht wertfrei, sondern stellt vielmehr ein „klar wertebasiertes Unterfangen (dar): Soziale Gerechtigkeit, Umweltgerechtigkeit, Menschenrechte, die Förderung von Demokratie und andere Wertorientierungen sind treibende Kräfte“ (Unger, 2014, S. 1)3.
Mögliche Fragestellungen:
- Welche Herausforderungen und Lernfelder zeigen sich in partizipativen Forschungsansätzen?
- Wie können methodische Vorgehensweisen und Gütekriterien wissenschaftlicher Forschung angepasst werden, damit gemeinsame Entscheidungen aller Beteiligten im Forschungsprozess möglich sind sowie Machtverhältnisse reflektiert werden?
- Welche Gelingensbedingungen (mit Blick auf Forschungsmethode und Forschungspraxis) können für partizipative Forschungsprozesse benannt werden?
- Wie können Erkenntnisse aus partizipativen Forschungsprojekten erfolgreich in die soziale Wirklichkeit übertragen werden, sodass diese beeinflusst und nachhaltig verändert wird?
- Wie kann die Akzeptanz von partizipativer Forschung in der Wissenschaft gestärkt und auch die spezifische Ausgangslage bei der Finanzierung solcher Projekte berücksichtigt werden?
3 Unger, Hella von (2014): Partizipative Forschung. Einführung in die Forschungspraxis. Wiesbaden: Springer (Lehrbuch).
Möglichkeiten der beruflichen Bildung und Arbeit von und für Expert:innen in eigener Sache vielfältig und personenzentriert zu gestalten, ist eine wichtige Aufgabe und Voraussetzung, um Teilhabechancen in der Arbeitswelt zu eröffnen. Dabei können bestehende berufliche Qualifizierungs- und Tätigkeitsmöglichkeiten von Expert:innen in eigener Sache weiterentwickelt und auch innovative Wege, die tragfähige Konzepte zur differenzierten inklusionsorientierten beruflichen Bildung und Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt liefern, erschlossen werden. Im Fokus stehen herbei die Konzeption von Qualifikationen/Ausbildungsgängen und Arbeitsmöglichkeiten, in denen die Erfahrungsexpertise von Service Usern als Ausgangspunkt für die Qualifizierung und auch für die sich anschließende berufliche Tätigkeit einbezogen werden.
Mögliche Fragestellungen:
- Wie können überregional Qualifizierungskonzepte für Expert:innen in eigener Sache ausgeweitet und finanziell bis zu einer Anschlussbeschäftigung auf dem Allgemeinen Arbeitsmarkt gesichert werden?
- Welcher Wert wird der Arbeit von Expert:innen in eigener Sache zugeschrieben? Wie können Unternehmer:innen / Arbeitgeber:innen für den Beitrag von Expert:innen in eigener Sache sensibilisiert werden?
- Welchen Einfluss hat das Durchlaufen einer Qualifizierung zu Expert:innen in eigener Sache auf das Erfahrungswissen und den Status als Stellvertreter:innen für eine Personengruppe?
- Welche Schwierigkeiten/Herausforderungen birgt die Qualifizierung von Expert:innen in eigener Sache bspw. im Hinblick auf deren Authentizität.
Das ausführliche Programm zur Tagung finden Sie hier:
Die Programm-Übersicht finden Sie unter “Mehr anzeigen”:
- 10.00 bis 11.15 Uhr
Begrüßung
Vortrag 1: Perspektivwechsel als ein Schlüsselmoment von gelingenden Beteiligungsprozessen (Emanuela Chiapparini)
- 11.15 Uhr bis 11.45 Uhr
Kaffeepause
- 11.45 Uhr bis 13.15 Uhr
Ihre Beiträge: Einzelbeiträge, Symposien, Workshops zu den Themenbereichen
- 13.15 Uhr bis 14.15 Uhr
Mittagspause
- 14.15 Uhr bis 15.15 Uhr
Vortrag 2: „Partizipativ forschen… Wer? Wie? Was?“ (Vera Tillmann und Andreas Mauracher)
- 15.30 Uhr bis 17.00 Uhr
Ihre Beiträge: Einzelbeiträge, Symposien, Workshops zu den Themenbereichen
- 17.15 Uhr bis 18.15 Uhr
Austausch: Offene Gruppen, Treffpunkt Expert:innen in eigener Sache
18.30 Uhr
Abendessen im Restaurant BräuStadel
- 09.00 Uhr bis 10.00 Uhr
Begrüßung
Vortrag 3: Berufliche Qualifizierung und Teilhabe an Arbeit von Expert:innen in eigener Sache (Maren Plehn und Heidrun Loth)
- 10.15 Uhr bis 11.15 Uhr
Ihre Beiträge: Einzelbeiträge, Symposien, Workshops zu den Themenbereichen
- 11.15 Uhr bis 11.45 Uhr
Kaffeepause mit Snack
- 11.45 Uhr bis 13.15 Uhr
Gespräch auf der Bühne (Podium): Erfahrungsexpertise an Hochschulen etablieren - durch die Kombination von Erfahrungswissen, Praxiswissen und wissenschaftlichem Wissen Lernprozesse bereichern (Moderation Judith Rieger)
- 13.15 Uhr bis 13.30 Uhr
Kaffeepause
- 13.30 Uhr
Verständigung über das Standpunktepapier
Abschluss
Ein Ziel der Tagung bestand in der Erarbeitung eines Standpunktpapiers, das den Tagungsteilnehmer:innen, Interessierten und (politischen) Entscheidungsträger:innen zur Verfügung gestellt wird und als Anregung für hochschulische Weiterentwicklungsprozesse dienen soll.
In diesem Papier wird die spezifische Qualität der drei Bereiche partizipative Lehre, partizipative Forschung und berufliche Bildung im Kontext Hochschule beschrieben. Darüber hinaus umfasst das Papier konkrete Forderungen, die für die Umsetzung der einzelnen Bereiche unter Berücksichtigung des aktuellen Standes notwendig sind.
Das Papier wurde durch das Organisationsteam erstellt, während und im Nachgang der Tagung mit den Referent:innen und Teilnehmer:innen diskutiert und wurde durch Capito in Einfache Sprache überführt.
______________________________
1 Chiapparini, Emanuela/Schuwey, Claudia/Beyeler, Michelle/Reynaud, Caroline/Guerry, Sophie/Blanchet, Nathalie/Lucas, Barbara (2020): Modelle der Partizipation armutsbetroffener und -gefährdeter Personen in der Armutsbekämpfung und -Prävention. Forschungsbericht Nr. 7/20. Bundesamt für Sozialversicherungen BSV.