Der rassistische Antisemitismus in der Zeit des Nationalsozialismus zerstörte etablierte lokale Lebensgemeinschaften zwischen Juden und Christen und ein vielerorts sehr lebendiges jüdisches Gemeindeleben. Bis heute bleiben Leerstellen. Wir gingen den sichtbaren und unsichtbaren Spuren in unseren Heimatorten nach.
1. Einleitung
Mit dieser Inschrift erinnert ein Mahnmal auf dem Rathausplatz des Heidelberger Stadtteils Rohrbach an die jüdische Gemeinde und ihre Synagoge. Es wurde 1985 am ehemaligen Standort der Synagoge errichtet. Der Grundriss der Synagoge ist mit weißem Stein im Boden nachgezeichnet. Das Mahnmal hat einen prominenten Platz im alten Ortskern von Rohrbach. Nebenan ist das Rathaus, gegenüber sind Cafés, teils mit Bestuhlung auf dem Platz neben dem Mahnmal, auf Bänken nebenan sitzen Spaziergänger.
Wer mit gesenktem Blick läuft, findet beim Spaziergang durch Rohrbach auch die Stolpersteine vor den Häusern der jüdischen Bewohner des Ortskerns. Mahnmal und Stolpersteine sind die heute sichtbaren Hinweise auf Leerstellen („Voids“ – wie sie im Jüdischen Museum Berlin genannt werden): Wer waren die Bewohner der Häuser? Wie lebten sie? Und wie lebten sie und die nicht-jüdischen Rohrbacher zusammen? Wie verschwanden sie und mit ihnen die jüdische Gemeinde von Rohrbach?
Um das „Verschwinden“ der jüdischen Gemeinde Rohrbachs zu erzählen, bietet es sich an, bei den Biografien ihrer Mitglieder anzuknüpfen. Dabei beschränke ich mich auf die Mitglieder, die im alten Ortskern um die Rathausstraße herum wohnten. Die Auswahl der biografischen Beispiele ist also durch den Ort bestimmt und kann sich nicht nach der Quellenlage richten. So fand ich im Rahmen dieser Arbeit keine autobiografischen Zeugnisse der Personen und nur wenige Fotos. Aber von allen sind ihr Schicksal in der NS-Zeit und die Auswirkungen der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik dokumentiert, und von allen ist ihr Wohnort heute noch sichtbar. Es waren gewöhnliche“ Menschen, die als Individuen in den Zwängen ihrer Zeit handelten. So bilden sie alle die „Biografie“ der jüdischen Gemeinde Rohrbachs und können das „Verschwinden“, den Verlust einer solchen Gemeinde mit ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihren lebendigen Persönlichkeiten veranschaulichen.
Da ich im Rahmen dieser Arbeit zu den einzelnen Gemeindemitgliedern nur wenige Quellen gefunden habe, ist es schwierig, die Forderung nach Multiperspektivität zu erfüllen. Die Fragestellung bringt zunächst eine Konzentration auf die Perspektive der jüdischen Rohrbacher mit sich. Aber es gibt einige wenige Berichte, die eine nicht-jüdische Rohrbacher Sicht auf das Zusammenleben zumindest anleuchten.
Zur Wahrnehmung der zunehmenden Verfolgung liegen mir ebenfalls keine direkten Zeugnisse vor. Diese lässt sich also nur aus den dokumentierten Handlungen und Reaktionen auf die Maßnahmen der Nationalsozialisten erschließen. Dadurch ist es schwierig, an diesen Beispielen Handlungsspielräume aufzuzeigen. Aber allein die Unterschiedlichkeit der Schicksale und der Reaktionen der verschiedenen jüdischen Rohrbacher, die natürlich auch von ihren persönlichen Lebensumständen abhingen, zeigt eine – wenn auch kleine – Varianz in der Nutzung eines durch die Verfolgung sehr beschränkten Handlungsspielraums durch die Verfolgten. An wenigen Punkten der Geschichte der Rohrbacher Gemeinde werden Zuschauer und Mittäter5 erwähnt. Auch hier soll ein kurzer Blick auf möglichw Handlungsspielräume erfolgen.
Die Wohnhäuser der Gemeindemitglieder sind noch alle – kaum verändert – vorhanden. Sie verstärken den regionalen Bezug und stellen Anschaulichkeit und emotionale Anknüpfungspunkte her.
2. Die jüdische Gemeinde von Rohrbach zu Beginn der 1930er Jahre
Die jüdische Gemeinde von Rohrbach entstand im 17. Jahrhundert und gehörte damit zu den besonders traditionsreichen Gemeinden.7 Die höchste Mitgliederzahl ist für die jüdische Gemeinde mit 122 Personen für 1865 verzeichnet.8 Danach nimmt – wie auch allgemein in den ländlichen Gemeinden in Baden vermutlich durch Abwanderung in die Städte und Überalterung – die Mitgliederzahl ab: Für 1910 sind nur noch 39 Mitglieder genannt. Die Gemeinde hatte zu ihren Hochzeiten eine jüdische Schule und für religiöse Aufgaben einen Lehrer, der auch als Vorbeter und Schochet tätig war. Auch eine eigene Mikwe (heute eine Lücke zwischen den Häusern Rathausstr. 47 und 53) war vorhanden. Nachdem der Betsaal in einem der Wohnhäuser Anfang der 1840er Jahre deutlich zu klein geworden war, konnte die Gemeinde ein Grundstück direkt auf dem Rathausplatz erwerben und dort über Darlehen finanziert eine Synagoge bauen. Eine nicht-jüdische Sicht auf die Weihefeier am 16. Dezember 1845 ist durch den anwesenden katholischen Ortsgeistlichen überliefert. Die „Allgemeine Zeitung des Judentums“ zitiert seinen Bericht aus dem Rohrbacher Journal:
„Die Feier war erhebend und erbauend sowohl durch den schönen Gesang _ als auch durch die vom Rabbiner gesprochene Weihepredigt. Nicht nur der deutliche würdevolle Vortrag und die durchsichtige, wohl gelungene Durchführung des Themas, sondern auch vor allem der reine Gottesdienst und die vortreffliche sittliche Anwendung der Zeremonie war es, was der seltenen Feier eine wahrhaft religiöse Weihe verlieh, und selbst die Gemüter der mit dem Judentum sonst nicht befreundeten nicht unbewegt und unerbaut ließ.“ (Zitiert nach
Aus den Worten des katholischen „Kollegen“ scheint berufsbedingte echte Wertschätzung für die theologische Leistung des Rabbiners und die liturgische Feierlichkeit zu sprechen. Eine Synagogenweihe zu erleben, war etwas Besonderes. Anscheinend waren noch weitere nichtjüdische Personen anwesend, da „mit dem Judentum sonst nicht befreundete“ erwähnt werden. „Nicht befreundet“ ist hier vermutlich im Sinne von „nicht vertraut“ zu verstehen und nicht als „feindlich gesinnt“, da nicht anzunehmen ist, dass die Personen sonst bei der Weihefeier anwesend gewesen wären und „bewegt und erbaut“ werden könnten.
Die Synagoge stand nun mitten in der Rohrbacher Altstadt direkt neben dem Rathaus. Das Foto von einer Glockenweihe für die evangelische Kirche zeigt den Festzug, der die Rathausstraße hinauf an der Synagoge vorbeikommt. Auch wenn sich hier nicht direkt etwas über die Art des Zusammenlebens jüdischer und nicht-jüdischer Rohrbacher*innen erschließen lässt, so ist dadurch doch eine äußerliche Integration der Gemeinde gegeben, die sicherlich auch zumindest zu einer Gewöhnung führte: Wer täglich am jüdischen Gotteshaus vorbeiging, wird dieses nicht mehr als fremd oder nicht zugehörig wahrgenommen haben.
In der Rathausstr. 3 nahe der katholischen Kirche wohnten Cäcilie (*1883) und Heinrich Wahl (*1877). Cäcilie stammte aus einer alteingesessenen Rohrbacher Familie. Ihr gehörte das Haus, in dem sie ein kleines Bekleidungsgeschäft mit Änderungsschneiderei betrieb. Die Kinder Walter, Richard Bernhard und Fanny Waltut (genannt Trudel) waren schon aus dem Haus. Vermutlich durch die Weltwirtschaftskrise waren sie in eine finanziell schwierige Lage geraten, so dass sie 1930 das Haus an die H&G-Bank überschreiben mussten.
Schräg gegenüber in der Rathausstr. 10 wohnten Sophie Wolff (*1857) und ihr Sohn Nathan (*1880). Nathans Vater Benjamin Wolff (1851-1917) stammte aus einer der ersten jüdischen Familien, die sich nach dem Pfälzischen Erbfolgekrieg um 1700 in Rohrbach niederließen. Nathan war reisender Kaufmann und dann Prokurist der Badischen Möbelwerke AG. Nathans Schwester Ernestine hatte den Möbelhändler und Erben der Badischen Möbelwerke Gustav Basnitzki geheiratet, der dann mit Nathan die Verwaltung der Möbelwerke in Heidelberg übernahm. Sein Bruder Ferdinand war seit 1914 Rechtsanwalt in Heidelberg und Mitglied der SPD.
Ging man weiter die Rathausstraße hinauf an der katholischen Kirche vorbei, erreichte man links die Synagoge und etwas versetzt dahinter zwischen Synagoge und Rathaus das 1841 erbaute Haus Nr. 41 der Familie Mayer, die ebenfalls zu den alteingesessenen Familien gehörte. Karl Mayer (*1868) arbeitete erfolgreich als Tabakprüfer und -händler. Er und seine Frau Berta (*1884) schickten ihre drei Töchter Irma Luise (*1909), Johanna (*1914) und Ruth Sofie (*1917) auf das Mädchen-Realgymnasium in der Plöck und ermöglichten ihnen im Anschluss eine Berufsausbildung. Karl Mayer übernahm Ämter in der jüdischen Gemeinde und in der Rohrbacher Freiwilligen Feuerwehr. Seit 1910 war er dort 1. Kommandant, 1933 wurde er für seine 40jährige Mitgliedschaft geehrt.
Weiter die Straße hinauf zweigt rechts die Amalienstraße (damals Schlossstrasse) zum Rohrbacher Schlösschen ab, das damals schon Teil der Tuberkuloseklinik (heute Thoraxklinik) war. In der Amalienstraße 4 wohnte Familie Ehrmann mit Oskar Salomon Ehrmann (*1894), seiner Frau Regina geb. Menges (*1896), den Söhnen Hans (*1923) und Rolf (*1925) und Reginas Mutter Berta Menges geb. Metzger (*1860) und deren Schwester Sofie Metzger (*1863). Auch Metzgers gehörten zu den alteingesessenen Familien. Oskar Salomon übernahm von seinem Schwiegervater die Mehl- und Futterartikelhandlung im Erdgeschoss und richtete noch einen Landprodukte- und Zigarrengroßhandel ein. Die Söhne besuchten die Volksschule in Rohrbach und danach die Oberrealschule in Heidelberg. Als 1935 die Familie bei einem Verwandtenbesuch in Detmold einen Verkehrsunfall hatte, bei dem Regine Mayer starb, berichtete die hiesige Tageszeitung den Hergang des Unfalls und schloss:
„Nebst dem Gatten bedauern zwei schulpflichtige Knaben und die hochbetagte Mutter den Verlust. Auch seitens der Rohrbacher Einwohner wird der schwergeprüften Familie herzliche Teilnahme entgegengebracht.“ (Zitiert nach: Broschüre Heidelberger Stolpersteine zu Familie Ehrmann/Menges/Metzger S. 8,
Auch wenn ohne weitere Recherche schwierig zu entscheiden ist, ob es sich hier um mehr als eine übliche Teilnahmeformel handelt, zeigt der Bericht, dass Ehrmanns in Rohrbach bekannt und etabliert genug waren, dass ihr Schicksal allgemein wahrgenommen wurde und auch von der Zeitung nicht übersehen werden durfte. Nach dem Tod von Reginas Tante 1934 und Reginas Mutter 1935 blieb Oskar nun mit seinen Söhnen allein zurück.
Folgte man der Rathausstraße aufwärts in Richtung der evangelischen Kirche, kam links die Mikwe und rechts gegenüber die „Nudeln- und Mazzenfabrikation“ der Familie Beer im Haus Rathausstr. 64. Sigmund (*1886) und Bertha Beer (*1890) waren erst 1919 nach Rohrbach gekommen, wo ein Jahr später ihr Sohn Ernst Berthold geboren wurde. Sie übernahmen jedoch ein schon etabliertes Geschäft und konnten sich im oberen Stockwerk des Hauses gut einrichten. Ernst Berthold besuchte die Grundschule in Rohrbach und dann eine weiterführende Schule in Heidelberg. Vermutlich durch die Weltwirtschaftskrise ging es den Beers allerdings finanziell Ende der 1920er Jahre zunehmend schlechter.
Die fünf kurzen Darstellungen zeigen die Rohrbacher Gemeindemitglieder als repräsentativ für die jüdische Bevölkerung der Region. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung war klein (in Rohrbach insgesamt mit den neueren Stadtteilen 0,7%), sie gehörten dem Mittelstand an und waren vor allem als Selbständige mit kleinen Geschäften oder im Handel mit Lebensmitteln und Genusswaren (in der Region vor allem Tabak) tätig.
Ihre Situation zu Anfang der 1930er Jahre lässt einen integrierten Alltag der jüdischen Familien erahnen. Es lässt sich nicht erkennen, wie die nachbarschaftlichen Verhältnisse zu den nichtjüdischen Rohrbacher*innen tatsächlich waren. Natürlich werden sie auch bei jeder der fünf Familien individuell verschieden gewesen sein. Karl Mayer hatte als Feuerwehrkommandant eine wichtige Rolle im Rohrbacher Vereinsleben. Beim Dorffest zum 50jährigen Gründungsjubiläum der Feuerwehr sprach er den Willkommensgruß. Die anschließende Löschübung zum Probealarm fand auf dem Gelände der Beer’schen Fabrikation statt.
Nur von den Ehrmanns sind Fotos erhalten. Ein Bild zeigt die Familie zum Foto aufgestellt mit Mutter und Tochter einer Nachbarsfamilie, im Hintergrund Wald. Ob die Kinder miteinander spielten und man deshalb zusammen Ausflüge machte?
3. Die Auswirkungen der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik auf die Gemeinde
Bei den Reichstagswahlen 1933 war Rohrbach der Heidelberger Stadtteil mit dem höchsten NSDAP-Stimmenanteil. Die sofort einsetzenden Maßnahmen der Nationalsozialisten trafen auch die Rohrbacher jüdische Gemeinde. In dem von der NSDAP-Kreisleitung versendeten „Verzeichnis jüdischer Geschäfte Heidelbergs“, bei denen nicht mehr eingekauft werden sollte, standen auch das Bekleidungsgeschäft der Wahls, die Nudeln- und Mazzenfabrikation der Beers und der Landprodukte- und Zigarrengroßhandel Oskar Ehrmanns. Für Wahls bedeutete dies eine weitere Verschlechterung ihrer finanziellen Lage. Cäcilie Wahl starb 1936, zwei Jahre später musste Heinrich Wahl in das „Judenhaus“ in der Bunsenstraße 3 umziehen, da die H&G-Bank das Haus in Rohrbach verkaufte. Auch Beers konnten sich wirtschaftlich so nicht mehr erholen. Sie versuchten vermutlich, das Haus zu verkaufen. 1940 fiel es durch Zwangsversteigerung an den Kreisobersekretär Ludwig Reinhardt und sie mussten in das „Judenhaus“ Marktplatz 7 umziehen. Oskar Ehrmann sah vermutlich schon früh, dass seine Familie keine Lebensgrundlage mehr in Deutschland finden würde. Er verkaufte das Haus 1936 an den Badischen Landesverband zur Bekämpfung der Tuberkulose (heute Thoraxklinik) und zog zunächst mit seinen Söhnen in seinen Geburtsort Nußloch. Von hier begann er mit den Vorbereitungen zur Auswanderung. Von Karl Mayer ist bekannt, dass sich sein Einkommen aus seiner Berufstätigkeit von 1935 bis 1937 um ca. 60% verringerte und dann ganz ausfiel. Ein besonderer Fall ist die Badische Möbelwerke AG, bei der Nathan Wolff arbeitete. Wohl aufgrund ihres Namens wurde sie nicht als jüdisches Geschäft wahrgenommen und erlitt zunächst keine finanziellen Einbußen.
Entzog der Boykott den jüdischen Familien die wirtschaftliche Lebensgrundlage, so entzog das „Gesetz gegen die Überfüllung von deutschen Schulen und Hochschulen“ der jüngeren Generation die Zukunft: Die Töchter von Karl und Berta Mayer wanderten schon 1934 und 1936 nach Argentinien aus.27 Ernst Berthold Beer konnte sein Berufsziel Maschinenbauingenieur in Deutschland nicht mehr erreichen und emigrierte 1938 in die USA. Die Söhne Oskar Ehrmanns mussten die Oberrealschule in Heidelberg verlassen.
Auch andere Repressalien beeinflussten immer stärker das Leben der jüdischen Familien Rohrbachs. Ferdinand Wolff war als Rechtsanwalt und SPD-Mitglied zunehmendem Druck ausgesetzt und emigrierte 1934 nach Brasilien. Von Karl Mayer ist bekannt, dass er – nur 2 Jahre nach seiner Ehrung – 1935 aus der Rohrbacher Feuerwehr „austrat“.
Wie veränderte sich das Zusammenleben zwischen nichtjüdischen und jüdischen Rohrbacher*innen in dieser Zeit? Zerbrachen nachbarschaftliche Freundschaften? Leider lassen die bekannten Fakten darauf keine Rückschlüsse zu. Deutlich ist nur, dass die jüdischen Rohrbacher ihr Leben in Rohrbach zunehmend als unmöglich empfanden und sich fast alle um Auswanderung bemühten. Die Eltern Mayer verkauften 1937 das schöne Haus neben der Synagoge und folgten 1938 ihren Töchtern nach Argentinien. Oskar Ehrmann gelang es, trotz „Reichsfluchtsteuer“ einen Teil seines Vermögens zu retten. Ein befreundeter Tischler baute 12 Leica-Kameras in ein Möbelstück ein, das 1937 mit in die USA umzog. Dort konnte er die Kameras dann verkaufen.33 1838 war schließlich auch die Badische Möbelwerke AG „arisiert“ worden. Nathan Wolffs Schwager Gustav Basnitzki floh mit Nathans Schwester 1939 in die Schweiz. Nathan selbst konnte 1940 nach Brasilien fliehen.34 Zuvor aber erlebte er wie auch die Beers die Pogromnacht in Rohrbach. Am Morgen des 10. November kamen Angehörige von SA-Studentensturm und Pioniersturm aus Heidelberg nach Rohrbach, zertrümmerten die Einrichtung der Synagoge und zündeten sie an. Danach zogen sie auch zum Haus der Beers. Zeug*innen erzählten, dass die Mehlsäcke der Nudelnfabrikation ausgeleert auf der Straße lagen. Dass die Rohrbacher Synagoge nicht abbrannte, verdankt sich einem Brandmeister der Feuerwehr. Ein SA-Sturmführer hatte befohlen, nur das Übergreifen des Brandes auf die umliegenden Häuser zu verhindern. Der Brandmeister widersetzte sich dem und löschte auch den Brand in der Synagoge. Es ist nicht bekannt, ob er dies nur aus Sorge vor der Brandentwicklung tat oder ob er möglicherweise auch an seinen ehemaligen Feuerwehrkameraden Karl Mayer dachte, dessen ehemaliges Haus er neben der Synagoge sehen konnte. Sicher ist, dass der Brandmeister seine Autorität und seinen Handlungsspielraum nutzte, um sich dem SA-Sturmführer zu widersetzen und nicht mehr Mittäter zu sein.
Nathan Wolff und Sigmund Beer wurden in den folgenden Tagen verhaftet und für einige Wochen in Dachau interniert. Dies hat Nathan Wolff sicher darin bestärkt, seine Flucht planen. Es ist anzunehmen, dass auch die Beers daran dachten, dem Beispiel der anderen Rohrbacher Gemeindemitglieder und ihres Sohnes zu folgen. Sie hatten jedoch nicht mehr die finanziellen Mittel für eine Auswanderung. Sie wurden am 22. Oktober 1940 mit den anderen Bewohnern des Hauses Marktplatz 7 nach Gurs deportiert. Auch Heinrich Wahl konnte anscheinend Deutschland noch nicht verlassen. Er entging der Deportation durch Untertauchen. Seine Tochter Trudel hatte 1932 den evangelischen Hermann Trittelvitz standesamtlich geheiratet. Vermutlich versteckte Heinrich Wahl sich auch im Heimatort seines Schwiegersohnes bei dessen Familie. 1941 konnte er schließlich über Spanien in die USA fliehen. Seine Tochter konvertierte 1942 und heiratete Hermann Trittelvitz auch kirchlich. Sie zogen in Hermanns Heimatort. Es sind keine Repressalien wegen der „Mischehe“ bekannt. Die Nachbarn dort scheinen weder die „Mischehe“ noch die Besuche Heinrich Wahls angezeigt zu haben. Handlungsspielräume ergaben sich auch im Nicht-Handeln.
4. Die Gemeinde nach dem Krieg
1945 waren 13 Mitglieder der jüdischen Gemeinde Rohrbach ausgewandert. Zwei Mitglieder, Sigmund und Bertha Beer, wurden deportiert und in Auschwitz ermordet. Ein Mitglied, Trudel Trittelvitz geb. Wahl, überlebte durch ihre „Mischehe“ woanders in Deutschland. Damit war die jüdische Gemeinde in Rohrbach vollständig verschwunden, genauer: vertrieben und vernichtet. Der hohe Anteil an Auswanderern entspricht im Vergleich nicht den Verhältnissen im sonstigen Heidelberg. Arno Weckbecker stellt mit 51,8% Auswanderung „nicht-arischer“ Bürger für Heidelberg eine geringere Auswanderungsquote fest als für Deutschland allgemein:
„Daß überdurchschnittlich viele Heidelberger Juden auf eine rechtzeitige Auswanderung verzichteten, findet möglicherweise seine Erklärung in dem traditionell guten Kontakt mit der nichtjüdischen Bevölkerung und der vorbildlichen Kultur- und Sozialarbeit der israelitischen Gemeinde, zwei Faktoren, die eigentlich geeignet schienen, das jüdische Leben unter der Verfolgung zu erleichtern und nun in tragischer Paradoxie zum Gegenteil beitrugen.“ (Weckbecher S. 70)
Vielleicht hat in Rohrbach die frühe Auswanderung der Mayer-Töchter als Vorbild gewirkt. Sicher spielte auch eine Rolle, dass Mayers und Ehrmanns wohlhabend waren und einen Teil des Vermögens auch bei der Auswanderung retten konnten. Über die sicherlich entscheidenden individuellen persönlichen Gründe ist jedoch nichts mehr bekannt.
Vieles ist durch die Quellenlage über die Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Rohrbach und über ihre Wahrnehmung der Veränderungen ab 1930 nicht bekannt. Einiges kann durch die Kontextualisierung vermutet werden. Die Schicksale und Handlungsräume der Gemeindemitglieder sind individuelle Schicksale und Handlungsräume. Es ist nicht zu erwarten, dass sie im Kleinen ein genaues Abbild der allgemeinen Verhältnisse geben. Dennoch können sie exemplarisch aufzeigen, wie die nationalsozialistische Verfolgung das Leben für Jüdinnen und Juden in den 1930er Jahren immer unmöglicher machte, wie der Entzug der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebensgrundlage schließlich zum Entzug der Heimat oder sogar des Lebens führte. Und zur Entstehung von nicht wieder zu füllenden Leerstellen, die heute immer wieder sichtbar gemacht werden müssen.
Gautschi, Peter, Vom Nutzen des Biografischen für das historische Lernen, in: Didaktische Impulse, S. 171-179. Online unter:
Harders, Levke, Historische Biografieforschung, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 31.10.2020:
Heyl, Matthias, Dass der Unterricht sich in Soziologie verwandle. Erziehung nach und über Auschwitz, in: Claudia Lenz, Jens Schmidt, Oliver von Wrochem (Hg.), Erinnerungskulturen im Dialog. Europäische Perspektiven auf die NS-Vergangenheit, Hamburg-Münster 2002, S. 231-241.
Moraw, Frank, „Die Juden werden abgeholt.“ Die erste große Deportation aus dem deutschen Südwesten am 22. Oktober 1940. Täter, Opfer und Zuschauer in Heidelberg, in: Heidelberg. Jahrbuch zur Geschichte der Stadt, herausgegeben vom Heidelberger Geschichtsverein 16 (2012) S. 157-166.
Moraw, Frank, Die nationalsozialistische Diktatur, in: Andreas Cser u.a., Geschichte der Juden in Heidelberg (Buchreihe der Stadt Heidelberg Bd. 6), Heidelberg 1996, S. 440-555.
Schmidt-Herb, Ludwig, Tabellarische Chronik von Rohrbach, zusammengestellt von Ludwig Schmidt-Herb, hg. vom Heimatmuseum Rohrbach, Redaktionsstand 20. März 2016. Online unter:
Schneider, Gerhard, Personalisierung/Personifizierung, in: Michele Barricelli, Martin Lücke (Hg.), Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts Bd. 1, Wochenschau: Schwalbach 2012, S. 302-315.
Weckbecker, Arno, Die Judenverfolgung in Heidelberg 1933-1945, Heidelberg 1985.
Internetangaben:
Die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Wiesloch reicht weit zurück. Bereits im Mittelalter wohnten jüdisch-gläubige Personen phasenweise (nach Vertreibungen) in Wiesloch. Im 17. Jahrhundert entstand dann jene Gemeinde, die bis ins Dritte Reich bestand. Der jüdischen Gemeinde in Wiesloch gehörten im Jahr 1933 noch 69 Personen an. 20 von ihnen wurden am 22. Oktober 1940 in das Lager Gurs deportiert, darunter die Familie Flegenheimer.
Die Familie war bis zum Beginn des Dritten Reichs und auch währenddessen gut in die Gemeinde Wieslochs integriert: Lion wohnte mit seiner Frau und den Kindern in der Ortsmitte direkt gegenüber einer Wirtschaft, man war mit nicht-jüdischen Einwohner*innen befreundet, die Kinder spielten gemeinsam mit anderen auf der Straße und die beiden Familienoberhäupter und Brüder Lion und Samuel Oskar zählten in ihrer Pferdehandlung jüdische und nicht-jüdische Personen zu ihren Kunden. Mit den Jahren erfuhr jedoch auch die Familie Flegenheimer zunehmend Repressalien und Diskriminierungen, die sich etwa darin äußerten, dass Sohn Paul ab 1936 nach Heidelberg in eine „jüdische Klasse“ gehen musste und Lion und Samuel ihre Pferdehandlung 1936 schließen mussten, möglicherweise aufgrund sinkender Kundschaft und steigenden Repressalien.
In der Mitte des 17. Jahrhunderts liegen auch die Anfänge des jüdischen Friedhofes in Wiesloch. Zu dieser Zeit regierte Kurfürst Karl Ludwig (1649-1680). In den Jahren seiner Verbannung in den Niederlanden hatte Karl Ludwig niederländische Juden kennengelernt. Dabei schätzte er ihre Tüchtigkeit. Da ihm nach der Zerstörung des Dreißigjährigen Krieges an der wirtschaftlichen Wiederherstellung der Pfalz gelegen war, wurde jüdischen Personen die Einreise und der Aufenthalt gestattet. Im Rahmen der kurpfälzischen „Judenpolitik“ war es üblich, in Städten wie Wiesloch fünf oder sechs „Judenfamilien“ zuzulassen. Diese verstärkte Einreise jüdischer Familien erforderte die Anlegung jüdischer Friedhöfe. Bis dahin wurden die Verstorbenen der Kurpfalz in Worms begraben. Wiesloch wurde als Begräbnisort gewählt, da es zentral gelegen war für die jüdischen Gemeinschaften in den Orten südlich des Neckars. Damit war der jüdische Friedhof in Wiesloch, wie alle ländlichen Judenfriedhöfe, ein Verbandsfriedhof.
In der Zeit des Nationalsozialismus ist es auch auf dem jüdischen Friedhof in Wiesloch zu Zerstörungen gekommen. Nach der Deportation der badischen Juden nach Gurs im Oktober 1940 wurde von der Gemeinde Wiesloch am 20. September 1941 beschlossen, diesen Friedhof käuflich zu erwerben, um ihn als Lagerplatz zu nutzen. Das absehbare Kriegsende hat den völligen Niedergang des jüdischen Friedhofes verhindert; bereits nach dem Krieg sind Aufräumungs- und Instandsetzungsarbeiten aufgenommen worden. In der Reichspogromnacht am 09.11.1938 wurde auch die Synagoge in der Synagogengasse (während des Dritten Reichs Kleine Gasse) im Inneren komplett zerstört. SA-Männer vernichteten den halbkreisförmigen vorspringenden Raum der Synagoge mitsamt dem Toraschrein völlig. Der Toraschrein repräsentierte das Allerheiligste innerhalb der Synagoge. Während eines Gottesdienstes wurde der Toraschrein geöffnet und die Torarollen herausgenommen, um den Toraabschnitt zu verlesen. Im Januar 1936 wurde der bauliche Zustand der zu jenem Zeitpunkt 97 Jahre alten Synagoge als „ziemlich gut“ eingeschätzt. In der Reichspogromnacht schändeten und verbrannten die SA-Männer außerdem auf dem nahegelegenen Kirchplatz Kultgegenstände, Schriften und Einrichtungsgegenstände. Nachdem das Synagogengebäude zeitweilig als Garage genutzt worden war, wurde es 1957 abgerissen. Die an die drei Nachbarn bereits 1939 verkauften Grundstücksteile wurden in deren Neubebauung einbezogen. Nach Abriss der Synagoge wurde ein Teil des Eingangsportals mit der Inschrift in die Umfassungsmauer des jüdischen Friedhofes in Wiesloch eingemauert. Seit 1974 erinnert eine Hinweistafel an den Standort der Synagoge. Im Jahr 1988 wurde eine weitere Gedenktafel angebracht, die an die jüdische Gemeinde in Wiesloch erinnert. Die Umgebung der Synagoge und besonders ihre Nähe zu einer christlichen Kirche deuten darauf hin, dass jüdisch- und christlich-gläubige Einwohner*innen in unmittelbarer Nähe zueinander ihre Religionen ausübten. Auch die bisher rekonstruierten Wohnverhältnisse und Geschäfte einzelner jüdischer Einwohner*innen lassen vermuten, dass Juden und Christen in einem nachbarschaftlichen Verhältnis miteinander lebten.
Nähere Informationen zur Pferdehandlung
Bis nach 1933 bestanden u.a. folgende jüdische Handels- und Gewerbebetriebe in Wiesloch: Modegeschäft Frieda Bodenheimer (Blumenstr. 6), Vieh- und Pferdehandlung Moses Flegenheimer & Söhne (Schwetzinger Str. 59), Pferdehandlung Marschall (Hesselgasse 8). Hervorzuheben ist die geografische Lage dieser Betriebe. Sie befanden sich in unmittelbarer Nähe zum Stadtkern sowie zum alten Bahnhof. Diese zentrale Lage lässt vermuten, dass auch nicht-jüdische Einwohner*innen zur Kundschaft zählten. Samuel Oskar und Lion Flegenheimer mussten 1936 ihre Pferdehandlung schließen. Gründe zur Schließung können nur vermutet werden. Am 1. April 1933 kam es zum Aufruf des Boykotts jüdischer Geschäfte. Auch wenn hierfür in den ersten Monaten der NS-Herrschaft noch keine Gesetzgebung die wirtschaftliche Lage der jüdischen Bevölkerung beeinträchtige, kann davon ausgegangen werden, dass solch eine Propaganda die nicht-jüdische Kundschaft schmälerte. Im Jahre 1935 wurde die nicht-jüdische Bevölkerung verstärkt darauf hingewiesen, das Einkaufen in jüdischen Geschäften zu unterlassen. Das Ziel, welches das NS-Regime mit den zunehmenden diskriminierenden Vorschriften verfolgte, war, möglichst viele jüdisch-gläubige Deutsche zum Auswandern zu bewegen. Die Gemeinden wurden angehalten, keine Geschäfte mehr mit ihren jüdischen Einwohner*innen zu tätigen. Möglicherweise gelang es Lion und Samuel Oskar Flegenheimer unter der zunehmenden prekären, diskriminierenden und geschäftswidrigen Lage nicht mehr, ihre Pferdehandlung zu halten. Bis August 1937 mussten drei jüdische Geschäfte aufgeben, drei wurden an nicht-jüdische Personen verkauft. Im September 1938 bestand nur noch die Tabakfabrik Ebner & Kramer sowie das Textilgeschäft von Adolf Rosenthal. Die Verordnung des Reichswirtschaftsministeriums vom 23.11.1938 legte fest, dass alle jüdischen Einzelhandelsgeschäfte geschlossen werden mussten oder in nicht-jüdisches Eigentum übergehen sollten, wenn es die Versorgung der Bevölkerung erforderte.
Siehe die Hinweise zu
Das Bestehen der jüdischen Gemeinde war im Wesentlichen durch ihren Erfolg und die Einbindung in das gesellschaftliche Leben ausgezeichnet. Über längere Zeit waren die Jüd*innen anerkannte Bürger*innen Neustadts. Bezüge und Berührungspunkte zur nicht-jüdischen Bevölkerung ergaben sich im alltäglichen Leben, bedingt durch die zentrale Wohnlage und die Handelsunternehmen der jüdischen Einwohner*innen.
Der großen jüdischen Gemeinde war es möglich, einen eigenen Friedhof, eine Synagoge sowie ein Altenheim zu unterhalten. Der unten angefügte Stadtplan von 1920 veranschaulicht die genannten Aspekte und zeigt auf, dass Jüd*innen mit Nichtjüd*innen in direkter Nachbarschaft wohnten. Dass es ein belebtes jüdisches Leben vor den Ereignissen ab 1933 gab, wird selten erkannt. In diesem Zeitrahmen war die jüdische Bevölkerung aktiv an der Gestaltung des gesellschaftlichen und vor allem des wirtschaftlichen Lebens Neustadts beteiligt.
Die Zunahme der sozialen Spannungen und die Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse ab 1933 hatten letztlich einen tiefgreifenden Wandel des politischen Klimas zur Folge. Das Verlangen nach soziokultureller Distanz gegenüber einer wirtschaftlich und sozial zunehmend als Konkurrenz empfundenen Bevölkerungsgruppe hat sich schließlich in der Zustimmung von Teilen der deutschen Gesellschaft zu den antisemitischen Gesinnungen des Nationalsozialismus geäußert.
Vom 9. auf den 10. November 1938, der Reichspogromnacht, fielen auch die Synagoge und das Altenheim der Gewalt zum Opfer. Außerdem kam es zu einigen Festnahmen, wie zum Beispiel von Dr. Karl Strauß sowie Daniel Morgenthau, dem Bruder von Adele Morgenthau. Die beiden Männer wurden in das Konzentrationslager Dachau deportiert und dort Wochen festgehalten.
Die Ausweisung der Juden verlief unter dem Schirm der sog.
Biografien mit Bezug zu Neustadt:
Habermehl, P./ Schmidt-Häbel H. (Hrsg): Vorbei – Nie ist es vorbei. Beiträge zur Geschichte der Juden in Neustadt an der Weinstraße. Neustadt an der Weinstraße 2005.
Spieß, P.: Kleine Geschichte der Stadt Neustadt an der Weinstraße. Leinfelden-Echterdingen 2009.
Die jüdische Gemeinde in Worms zählte im 20. Jahrhundert zu den ältesten dieser Art. Das älteste Zeugnis über Jüdinnen* u. Juden* in Worms stammt aus dem Jahr 960 und der älteste Nachweis über eine jüdische Gemeinde in Worms ist die Bauinschrift der Synagoge aus dem Jahr 1034. Die Wormser Synagoge war damit bis 1938 die älteste Synagoge nördlich der Alpen.
Ab dem 11. Jahrhundert wurden der jüdischen Bevölkerung in Worms und später auch im ganzen Heiligen Römischen Reich privilegierte Rechte, beispielsweise beim Zoll, von den Kaisern verliehen. Doch folgte danach eine Zeit der Verfolgung und Diskriminierung. So entstand etwa im 14. Jahrhundert ein jüdisches Ghetto in der Judengasse. Diese Abgrenzung zeigt unter anderem, dass Jüd*innen und Nicht-Jüd*innen zu dieser Zeit nicht gleichberechtigt waren und der jüdischen Bevölkerung verschiedene Rechte verwehrt wurden. Jüd*innen ließen sich jedoch nicht aus der Stadt vertreiben und führten in dem Ghetto ein Eigenleben, bei dem die jüdische Kultur und die Bräuche weitergelebt wurden und sich entwickelten. Das Wormser Ghetto wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufgelöst, wodurch die jüdische Bevölkerung Zugang zu dem Rest der Stadt erhielten. Nach und nach erlangte sie eine gleichberechtigte Bürgerschaft. Zur Situation der Wormser Jüd*innen schrieb ein jüdischer Historiker kurz vor Beginn des ersten Weltkriegs: „Sie erfreuen sich der Achtung ihrer Mitbürger und beteiligen sich an der Förderung der Stadt, die von Jahr zu Jahr weiter fortschreitet. Nur die enge Judengasse, die alte Synagoge und der Begräbnisplatz erinnern noch an die finsteren und trüben Zeiten, die auch für die Wormser Juden längst vergangen sind.“ (Levy, Die Juden in Worms, S.20 zitiert nach Schlösser, 1989, S.21) Die meisten dieser Jüd*innen fühlten sich als Deutsche und Wormser*innen, die sich lediglich in der Konfession von anderen Wormser*innen unterschieden. So kam es auch, dass einige Personen jüdischen Glaubens im ersten Weltkrieg Seite an Seite mit nicht-jüdischen Wormsern kämpften, was unter anderem durch die Rede eines Rabbiners bei der Enthüllung des Denkmals für gefallene Soldaten im Jahr 1932 betont wurde. Zur Jahreswende 1932/33 war die jüdische Gemeinde in Worms etwas mehr als 1100 Mitglieder groß.
Die Wormser Einkaufsstraßen der Innenstadt waren durch jüdische Geschäfte wie Warenhäuser und Spezialgeschäfte geprägt, aber auch einige jüdische Fabriken gehörten zu Worms. Trotz des Ansehens gab es immer wieder Misstrauen gegen Jüd*innen vor allem bei erfolglosen Konkurrenten oder in wirtschaftlichen Krisen, aber auch feindliche Witze und Redewendungen kamen vor. Die meisten Jüd*innen beobachteten die Entwicklungen ab 1933 besorgt, konnten sich aber längere Zeit nicht vorstellen, nicht mehr als Deutsche gesehen zu werden. Bis August 1933 war der NSDAP-abgeneigte Wilhelm Rahn Oberbürgermeister in Worms. Sein Nachfolger Heinrich Bartholomäus und der Beigeordnete Gustav Adolf Körbel gehörten beide früh der NSDAP an und blieben bis 1945 im Amt. Es kam zunehmend zu Schikanen und Verhaftungen gegenüber politischen Gegnern und Jüd*innen, weshalb im Mai 1933 die Anordnung zur Errichtung eines Konzentrationslagers im nahegelegenen Osthofen gegeben wurde. Als Begründung wurde genannt, dass es in Worms mehr Verhaftungen gab, als die Stadt selbst an Hafträumlichkeiten hatte. Kurz darauf wurden die ersten Häftlinge, hauptsächlich politische Gegner aber auch Personen jüdischen Glaubens ohne politische Betätigung, nach Osthofen gebracht. In der Regel dauerte die Haft dort vier bis sechs Wochen und die Verpflegung war unzureichend. Das Lager bestand bis Juni 1934 und es wurden keine Todesfälle oder schwerwiegenden Misshandlungen in dem Konzentrationslager Osthofen bekannt.
Im Jahr 1934 wurden Feierlichkeiten mit berühmten Jüd*innen aus verschiedenen Gegenden zum 900-jährigen Bestehen der Synagoge veranstaltet. Diese Veranstaltung wurde außerhalb der Gemeinde nicht erwähnt oder berücksichtigt. Dies zeigte den zunehmenden Ausschluss der jüdischen Bevölkerung aus der Gesellschaft, was wiederum zu deren Rückzug in die jüdische Gemeinde führte. Zwar wurde jüdischen Kindern erst ab November 1938 offiziell der Besuch öffentlicher Schulen untersagt, doch aufgrund von Diskriminierungen besuchten schon früher einige Kinder die im Jahr 1935 gegründete jüdische Schule der Gemeinde. Die Schule war im Gemeindehaus in der Hinteren Judengasse 2 eingezogen und nahm auch Kinder aus der Umgebung auf. Für den Lehrplan ergab sich die Frage, ob die Kinder für einen weiteren Verbleib in Deutschland oder eine mögliche Auswanderung vorbereitet werden sollten. Zum Höhepunkt besuchten 120 Kinder in vier Klassen die jüdische Schule in Worms. Der nicht-jüdischen Öffentlichkeit war die Schule nicht bekannt, was erneut die Abgeschiedenheit der jüdischen Bevölkerung zeigt.
In Worms wurde, wie in vielen anderen deutschen Städten auch, im Zuge der Reichspogromnacht im November 1938 die über 900 Jahre alte Synagoge angezündet und brannte vollständig aus. Schätzungsweise 100 Wohnungen und mindestens 11 Geschäfte wurden verwüstet und 87 jüdische Männer aus der Gegend verhaftet und in das Konzentrationslager Buchenwald gebracht. Zu diesem Zeitpunkt wohnten in Worms noch etwas mehr als 400 Jüd*innen in ca. 130 Wohnungen sowie dem verschont gebliebenem Altersheim. Der Rabbiner Dr. Frank berichtete über die Brandstiftung der Synagoge folgendes:
„Nachdem ich von Herrn Präsidenten Spies vor 6 Uhr am Morgen des 10. November 1938 von dem Brand der Synagoge informiert worden war, ging ich so schnell ich konnte zur Synagoge. Im Haus des Synagogendieners Weis gegenüber der Synagoge rief ich die Feuerwehr an. Man sagte mir, »wir sind zu beschäftigt hier« (kurz vor 7 Uhr in der Frühe!), »daß wir nicht zum Löschen kommen können«. Auf meine nächste Frage, »können wir selbst löschen?« konnte man mir keine eindeutige Antwort geben. Darauf nahmen ein paar Schüler der Bezirksschule, die inzwischen gekommen waren, und ein paar junge Männer unserer Gemeinde mit Wasser gefüllte Eimer vom Hause Weis, gingen damit in die Synagoge, und das Feuer war in ganz kurzer Zeit gelöscht. Ich selbst ging in die Synagoge zur Besichtigung und fand, daß der Brandschaden nur gering war. Ich glaubte damals, daß die Synagoge gerettet sei, da ich keine Ahnung hatte, daß die Zerstörung der Synagoge eine für das ganze Reich geplante nationalsozialistische Maßnahme war und daß die Synagoge ein paar Stunden später zum zweiten Mal angezündet wurde, diesmal von Brandstiftern, die ihr Metier weit besser verstanden. Bald danach, ungefähr um 8 Uhr, wurde ich auf dem Platz vor der Synagoge zusammen mit vier jungen Männern verhaftet.“ (Niedergeschrieben von Dr. Frank in einem Brief 1982, zitiert nach Schlösser,1989, S.41f.)
Weiter erinnerte sich Dr. Frank: „Gegen Mittag wurden wir unter Polizeiaufsicht zur Moltke-Anlage 83 gebracht, um dort aufzuräumen, damit der Straßenverkehr ungestört weitergehen konnte. Niemals kann ich den Anblick vergessen, der sich uns bot, als wir zum Hause Löb-Hochheimer kamen. So etwas hatte ich noch nie vorher gesehen. Eine Matratze hing zum Fenster heraus, die Federn von aufgeschlitzten Betten kamen von den Fenstern herunter, so daß es aussah, als würde es schneien. All dies mit zerbrochenen Möbeln und Haushaltsgeräten, die auf der Straße herumlagen.[…] Sie können sicher verstehen, wie schwer es mir war, selbst als Rabbiner den Frauen Trost und Aufrichtung in dieser Lage zu bringen.“ (zitiert nach Schlösser, 1989, S.43f.)
Durch die verschiedenen Boykott-Aufrufe sowie der Propaganda gegen die jüdische Bevölkerung mussten immer mehr jüdische Geschäfte schließen oder gingen in nicht-jüdische Hände über. Dies führte zum einen zu einer Veränderung der Innenstadt, zum anderen zogen einige jüdische Geschäftsleute aus Worms weg, da sie keine Existenzmöglichkeit mehr hatten. Als Folge dessen lebten bei der Volkszählung im Mai 1939 noch ca. 315 sog. „Rassejuden“ in Worms. Die verschiedenen Aktionen und Deportationen in den folgenden Jahren führten dazu, dass beim Einmarsch der US-Streitkräfte am 01.04.1945 keine Jüd*innen mehr in Worms lebten. Bei einer mühsamen Zusammenstellung der Todesopfer und Überlebenden des Holocausts ergaben sich folgende Zahlen: 464 Wormser Jüd*innen starben durch den Holocaust oder an dessen Folgen. Knapp 800 jüdische Wormser konnten durch Emigration in verschiedene Länder der Ermordung entgehen. Eine eigene jüdische Gemeinde besteht in Worms seit der NS-Zeit nicht mehr. Um die Belange der Wormser Gemeindemitglieder kümmert sich nun die Jüdische Gemeinde in Mainz, da sich die jüdischen Gemeinden der Städte Worms, Mainz und Speyer bereits seit dem 12. Jahrhundert im sog. SchUM-Verbund zusammentaten. Als Eigentümerin der wiederaufgebauten Synagoge in Worms nutzt sie diese wieder verstärkt für Gottesdienste.
Schlösser, Annelore und Karl: Keiner blieb verschont. Die Judenverfolgung 1933 - 1945 in Worms. 2. Aufl. Worms 1989 (Der Wormsgau, Beiheft 31).
SchUM-Städte Speyer, Worms, Mainz e.V.: Worms. Online verfügbar unter
Tourist Information der Stadt Worms: Jüdisches Worms. Online verfügbar unter
Wormser Stadtarchiv: Adressbücher der Stadt Worms. Teilweise digitalisiert: Online verfügbar unter