Wir entschieden uns in Bezug auf die Deportation im Oktober 1940 für Wiesloch, da wir in Nachbargemeinden wohnen und somit ein regionaler Bezug besteht. Für die Familie Flegenheimer entschieden wir uns, da wir schon öfter an dem Haus in der Hauptstraße 131 vorbeiliefen und dabei die für die Familie verlegten Stolpersteine wahrnahmen. Das nahe Heidelberg gelegene Wiesloch, umgeben von Weinbergen und einem Stadtwald, versprüht einen gewissen Charme. Im Stadtkern laden Geschäfte, Cafés und Bistros zum Verweilen ein. Die Recherche zu der Familie Flegenheimer und zur jüdischen Gemeinde in Wiesloch zeigte, dass in Wiesloch Juden und Christen in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander ihre Heimat fanden. Unser künftiger Weg durch den Stadtkern in Richtung Stadtbibliothek, die sich in direkter Nähe zum Polizeirevier (ehemals Landwirtschaftsamt) befindet, wird gedanklich auf die jüdische Bevölkerung in Wiesloch gerichtet sein, die ihre Heimat auf diesem Weg verlassen musste.
Dieses Porträt wurde erarbeitet von:
Johanna Fertig, Isabelle Wipfler
Lebenslauf
Familie Lion und Robertine Flegenheimer, Wiesloch
- 06.09.1892: Geburt von Lion Flegenheimer in Wiesloch
- vor 1926: Heirat von Lion mit Robertine Bernheim, geb. am 27.7.1892, in Baiertal
- 04.09.1926: Geburt des Sohnes Paul in Wiesloch
- 09.12.1927: Geburt der Tochter Lore in Wiesloch
- 1936: Schließung der Vieh- und Pferdehandlung Moses Flegenheimer & Söhne
- ab 1936: Paul besuchte die „jüdische Klasse“ in Heidelberg
- 22.10.1940: Deportation der gesamten Familie Flegenheimer nach Gurs
- 10.03.1941: Verlegung der Familie in das Familienlager Rivesaltes
- 1941: Rettung von Lore aus Rivesaltes
- Nov. 1941: Verlegung von Lion und Paul in das Männerlager Les Milles bei Marseille
- Mai 1942: Verlegung von Robertine in ein bewachtes Hotel in Marseille
- vor Jahresmitte 1942: Rettung von Paul aus Les Milles
- 14.08.1942: Deportation von Lion und Robertine nach Auschwitz, Ermordung beider zu einem unbekannten Zeitpunkt
- nach Kriegsende 1945: Rückkehr von Paul und Lore nach Wiesloch
- 1949: Umzug von Paul und Lore in die USA. Paul besaß eine Gerberei und lebt heute noch dort. Lore starb in jungen Jahren.
Lebenslauf
Familie Samuel Oskar und Miry Flegenheimer, Wiesloch
- 24.12.1899: Geburt von Samuel Oskar Flegenheimer in Wiesloch
- (unbekanntes Datum): Heirat von Samuel Oskar mit Miry Leopold, geb. am 22.9.1906 in Bad Ems
- 13.04.1939: Geburt des Sohnes Joel in Frankfurt
- 22.10.1940: Deportation der gesamten Familie Flegenheimer nach Gurs
- 14.03.1941: Verlegung von Samuel Oskar, Miry und Joel in das Familienlager Rivesaltes
- 29.09.1941: Rettung von Joel aus Rivesaltes
- (unbekanntes Datum) Ausreise von Joel zu Verwandten nach New York
- 24.09.1941: Verlegung von Samuel Oskar in das Männerlager Les Milles nahe Marseille
- 28.02.1942: Verlegung von Miry in ein bewachtes Hotel in Marseille
- 07.09.1942: Deportation von Samuel Oskar und Miry nach Auschwitz; Ermordung von Miry zu einem unbekannten Zeitpunkt
- Deportation von Samuel Oskar Richtung KZ Buchenwald, Todeszeitpunkt und -ort unbekannt
- Joel lebt heute noch in den USA.
Lion (weitere Schreibweise: Lyon) Flegenheimer besaß gemeinsam mit seinem Bruder Oskar Samuel eine
In Wiesloch pflegte Samuel Oskar den Ruf eines sehr freundlichen und hilfsbereiten Menschen. Berichtet wird, dass er einem befreundeten Bauern während der Erntezeit kostenlos ein Pferd auslieh. Auch die Wieslocherin Frieda Schuhmacher soll Samuel Oskar mit Erzeugnissen aus seiner Landwirtschaft versorgt haben. Sie war sehr jung Witwe geworden und trug die alleinige Versorgung ihrer beiden kleinen Kinder. Da ihr verstorbener Mann noch keine zehn Jahre in der Pflege- und Heilanstalt in Wiesloch gearbeitet hatte, erhielt Frieda keine Witwenrente. Samuel Oskar soll in der Dunkelheit, wenn es keiner mitbekam, die Lebensmittel auf ihre Treppe oder auf das Fensterbrett abgestellt haben. Auch für die Kommunion ihres Sohnes soll er den erforderlichen Quark für einen Käsekuchen, den ihr Sohn so gern mochte, vor die Tür gestellt haben. Für Frieda Schuhmacher waren zur damaligen Zeit die Zutaten für solch einen Kuchen unbezahlbar. Nachdem Samuel Oskar, seine Frau Miry und sein Sohn Joel am 22. Oktober 1940 für den Transport nach Gurs abgeholt wurden und mit der Gestapo die Uferstraße entlanglaufen mussten, soll Samuel Oskar Frieda Schumacher zugerufen haben: „Wir sehen uns nicht mehr!“.
Lions Sohn Paul besuchte zunächst in Wiesloch die Schule. Später als Erwachsener erinnerte sich Paul hierzu, dass er in der Schule Angst vor Spott und den Angriffen durch andere Kinder haben musste. Paul musste 1936 die Schule in Wiesloch schließlich verlassen und von nun an jeden Schultag nach Heidelberg fahren, um dort in eine „
Lions Tochter Lore war fest in Wiesloch verwurzelt. Es wird berichtet, dass sie öfters gemeinsam mit anderen Mädchen Rollschuh fuhr. Bei den Einwohner*innen Wieslochs war sie als hübsches Mädchen bekannt. Zum Zeitpunkt der Deportation nach Gurs war sie 12 Jahre alt.
Lion, seine Frau Robertine und die beiden Kinder Paul und Lore wohnten in der Hauptstraße 131 in Wiesloch. Von dort wurden sie am 22. Oktober 1940 zur Deportation nach Gurs abgeholt, währenddessen wurden auf dem landwirtschaftlichen Betrieb ihre Tiere aus den Ställen geholt und mitgenommen. Paul hatte noch versucht, sich in einer Scheune zu verstecken, wurde jedoch bald entdeckt. Zu diesem Zeitpunkt war er 14 Jahre alt.
Ein Cousin von Paul berichtete der Stolperstein-Initiative, dass die Familie in der Zeit davor nach Südamerika hätte auswandern können. Eine fremde Sprache und die Hoffnung darauf, dass ihr Leben bald wieder besser werden würde, hielten die Familie jedoch in Wiesloch.
Am Tag der Deportation wurde Lion mit seiner Frau und den Kindern zunächst in das Gebäude des Landwirtschaftsamtes in Wiesloch (das heutige Gebäude der Polizei) und später an den Bahnhof in Heidelberg gebracht. Der Leiter des Landwirtschaftsamtes, Rat Rösch, wurde am Abend vor der Deportation darüber informiert, dass die Räume der Landwirtschaftsschule am 22.10.1940 beschlagnahmt seien. Es wird vermutet, dass Rösch am Tag der Deportation deshalb auswärtigen Geschäften nachging, da er den jüdischen Einwohner*innen nicht gegenübertreten wollte und nichts für sie tun konnte.
Samuel Oskar, Miry und Joel wurden wie Lion, Robertine, Paul und Lore zum Landwirtschaftsamt gebracht. Dort soll sich eine Szene ereignet haben, die vermutlich Joel betraf, denn auf der offiziellen Liste der Deportierten war kein anderes kleines Kind vermerkt. Frau Hodapp, Röschs Sekretärin, war anwesend. Sie soll sich erinnert haben, dass eine Mutter für ihr Kind eine Milchflasche mitgebracht hatte. Diese Milchflasche sei auf den Boden gefallen und zersprungen. Das kleine Kind, womöglich Joel, hätte den ganzen Tag vor Hunger geweint. Aufgrund der Wachen vor dem Gebäude habe sich Frau Hodapp nicht getraut, Milch für das Kind zu organisieren.
Vom Bahnhof in Heidelberg aus wurde die ganze Familie Flegenheimer in drei Tagen in das Lager Gurs deportiert. Joel verbrachte dort zunächst einige Zeit im Lagerkrankenhaus. Über das Leben im Lager berichtete Paul auf einem Gedenktag zur Deportation später: „Das Leben im Lager bestand hauptsächlich aus dem Bemühen, sich sauber zu halten, um nicht krank zu werden, einen Extra-Löffel Suppe und Gemüse zu ergattern und darauf zu achten, dass niemand die karge Ration schimmeligen Brotes stahl, die es morgens mit etwas Kaffee gab. Mittags und abends gab es Suppe mit Gemüse der Saison, hauptsächlich Rüben und Artischocken. Die Suppe sah so aus, dass ein paar Gemüsereste in Wasser schwammen, fünf bis sechs Wochen gab es ständig dasselbe Essen.“ (Stolperstein-Initiative Wiesloch 2012, S. 12)
Nach fünf Monaten in Gurs kam Lion mit seiner Frau und den Kindern am 10. März 1941 in das Familienlager Rivesaltes in der Nähe von Perpignan. Tochter Lore wurde aus diesem Lager gerettet und in ein französisches Kinderheim gebracht. Sie ging während des Krieges zum französischen Widerstand, zur Résistance. Lore überlebte den Krieg.
Im November 1941 wurde Lion zusammen mit seinem Sohn Paul in das Männerlager Les Milles bei Marseille gebracht. Seine Frau Robertine kam im Mai 1942 ebenfalls nach Marseille in eines der Hotels, die der Unterbringung und Bewachung inhaftierter Frauen dienten, die in nächster Zeit in die USA auswandern sollten. Die Familie besaß hierfür eine Ausreisenummer, die auf der Warteliste zu jenem Zeitpunkt relativ weit oben stand. Paul wurde von einer schweizerischen Rot-Kreuz-Schwester aus dem Lager Les Milles gerettet und gelangte zur Organisation ORT („Organisation reconstruction travail“). Lion durfte ihn bis dorthin begleiten, kehrte dann jedoch wieder nach Les Milles zurück. Die Organisation ORT schickte Paul in die Landwirtschaftsschule „La Roche“ bei Agen, wo er eine Ausbildung zum Landwirt begann. Nach seiner Zeit in der Schule zog er auf einen Bauernhof, um dort mitzuarbeiten. Er ging ebenfalls zur Résistance und später ab 1944 auch zur französischen Armee. Paul überlebte den Krieg. Er kehrte danach gemeinsam mit seiner Schwester zunächst nach Wiesloch zurück, 1949 zogen die beiden in die USA. Paul änderte seinen Nachnamen in „Flagg“ und lebt heute noch dort.
Ab August 1942 verschärften sich die Bemühungen, die „Juden“ in den Osten abzutransportieren. Die weiter bestehende Hoffnung Lions und seiner Frau Robertine auf baldige Ausreise in die USA wurde damit zusammenhängend am 14. August 1942 jäh zerstört: An jenem Freitag wurden die beiden zunächst in das Sammel- und Durchgangslager Drancy bei Paris transportiert. Von dort wurden Lion und Robertine mit einem der Deportationszüge nach Auschwitz gebracht, wo sie ermordet wurden.
Samuel Oskar, Miry und Joel wurden am 14.03.1941 ebenfalls in das „Familienlager“ Rivesaltes verlegt. Joel wurde aus Rivesaltes gerettet. Es wird angenommen, dass er mit Unterstützung der Schweizer Kinderhilfe am 29.09.1941 in eine Kinderkrippe bei Limoges gebracht wurde. Joel kam nach seinem Aufenthalt in der Kinderkrippe zunächst nach Paris und Marseille. Dann kam er schließlich zu Verwandten nach New York. Es wird berichtet, dass Joel bis dahin nur französisch sprach und zunächst kommunikative Schwierigkeiten mit seiner Tante und seinem Onkel hatte. Joel lebt heute in den Vereinigten Staaten.
Samuel Oskar war vom 19.07.1941 bis 09.09.1941 von Rivesaltes aus bei der „Commission Todt“. Dies entsprach der nationalsozialistischen „Organisation Todt“, die häufig Häftlinge einsetzte. Samuel Oskar wurde am 24.09.1941 in das Lager Les Milles bei Marseille verlegt. Am 06.12.1941 schrieb er an den Lagerchef in Gurs. In seinem Schreiben bat Samuel Oskar um eine Bescheinigung über gute Führung im Lager Gurs für seine Frau und sich. Diese Bescheinigung benötigte er für eine Emigration in die USA. Ein Dokument aus Rivesaltes gibt an, dass Miry das Lager am 28.02.1942 verlassen konnte. Sie kam vermutlich wie Robertine und die anderen Frauen, deren Ausreise potenziell bevorstand, in ein überfülltes und überwachtes Hotel.
Mit der Verschärfung der Situation zerplatzte jedoch auch die Hoffnung Samuel Oskars und Mirys auf baldige Ausreise. Es wird angenommen, dass die beiden am 07.09.1942 auf einem Transport nach Auschwitz waren und Miry höchstwahrscheinlich direkt nach der Ankunft ermordet wurde. Samuel Oskar wurde von Auschwitz nach Buchenwald deportiert (eventuell im Zuge der „Todesmärsche“) und starb möglicherweise in einem der Außenlager des KZ, Näheres ist hierzu nicht bekannt.
Literatur
Brändle, Brigitte und Gerhard Brändle: Gerettete und ihre Retterinnen. Jüdische Kinder im Lager Gurs: Fluchthilfe tut not – eine notwendige Erinnerung, Karlsruhe 2020.
Günther, Karl: Der jüdische Friedhof in Wiesloch. In: Stadtarchiv Wiesloch (Hrsg.): Wiesloch. Beiträge zur Geschichte, Ubstadt-Weiher 2000, Band 1, S. 225-242.
Hahn, Joachim: Erinnerungen und Zeugnisse jüdischer Geschichte in Baden-Württemberg, Stuttgart 1988.
Niedermann, Paul: Briefe • Gurs • Lettres. Briefe einer badisch-jüdischen Familie aus französischen Internierungslagern. Lettres d’une famille juive du Pays de Bade internée dans les camps en France. Erinnerungen – Mémoires, Karlsruhe 2011, S. 449.
Teschner, Gerhard J.: Die Deportation der badischen und saarpfälzischen Juden am 22. Oktober 1940. Vorgeschichte und Durchführung der Deportation und das weitere Schicksal der Deportierten bis zum Kriegsende im Kontext der deutschen und französischen Judenpolitik, Frankfurt am Main et al. 2002.
Internetangaben
Alemannia Judaica: Wiesloch, 2003. Online verfügbar unter
Rhein-Neckar-Zeitung (Hg.): Holocaust-Überlebender aus Wiesloch. Seine Kindheit endete jäh mit Verfolgung, Deportation und Krieg. Paul Flagg aus den USA war im Rathaus zu Gast - Kleiner Empfang bei OB Dirk Elkemann, 2018. Online verfügbar unter:
Stolperstein-Initiative Wiesloch: Stolpersteine Wiesloch. Erste Verlegung 15. November 2012. Online verfügbar unter
Abbildungsverzeichnis:
Die Abbildungen der Kennkarten wurden aus dem Online-Archiv der Gedenkstätte Yad Vashem (Central Database of Shoah Victims‘ Names) übernommen:
Paul F.:
Lore F.:
Lion F.:
Robertine F.:
Samuel O. F.: