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Elterninitiative trifft auf Wissenschaft

Vor 40 Jahren wurde die Initiative "Gemeinsam leben – gemeinsam lernen" für mehr Inklusion gegründet. Noch heute steht sie in engem Austausch mit der PHHD. Prof. em. Kornmann erzählt von den Anfängen.

 

Die Elterninitiative "Gemeinsam leben – gemeinsam lernen" feiert diesen Oktober ihr 40-jähriges Jubiläum. Seit 1985 setzt sie sich in der Rhein-Neckar-Region dafür ein, dass Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam lernen und aufwachsen können. Von Beginn an hatte sie dabei die Pädagogische Hochschule Heidelberg an ihrer Seite, unter anderem in Person von Prof. Dr. em Reimer Kornmann.

Er begleitete die Initiative damals von Seiten der – gemeinsam mit seinem Kollegen Prof. Dr. Wolf Rüdiger Wilms aus der Lernbehindertenpädagogik - und erinnert sich gut an die vorausgehenden bewegten 1970er Jahre. "Deutschlands Bildungssystem war im Aufbruch, bundesweit entstanden neue Universitäten und Schulformen mit innovativen Konzepten", erzählt der emeritierte Psychologe. Die kritische Studierendenschaft war ohnehin in Bewegung, aber auch von staatlicher Seite wollte man das Bildungssystem auf neue Beine stellen – und stellte dafür reichlich Gelder bereit.

Kornmann hatte 1971 seinen Ruf an die PH Heidelberg erhalten. Auf der Professur für "Psychodiagnostik der Lernbehinderten" war sein Forschungsschwerpunkt die Verbesserung der "Selektionsdiagnostik". Damals waren gerade die Vorsorgeuntersuchungen (U 1 – U 11) für Kinder und Jugendliche eingeführt worden, die Familien heute noch absolvieren. "Man versuchte, diagnostizierten Auffälligkeiten schon im vorschulischen Bereich mit Therapie- und Fördermaßnahmen zu begegnen", berichtet der Wissenschaftler. So seien Frühförderungsstellen, Sonderkindergärten und die Sonderschulen entstanden.

Neue Fachgebiete wie die Sonderpädagogik und "Behindertenpädagogik" befassten sich damit, "Auffälligkeiten" in der Kindesentwicklung zu diagnostizieren und Ansätze für therapeutische Maßnahmen zu finden. "Gleichzeitig führte die Existenz von Sondereinrichtungen dazu, dass Menschen hierfür gekennzeichnet und ausgewählt werden mussten", sagt Kornmann. "So kam es zur aussondernden Diagnose und Separierung schon junger Menschen, die als Behinderte bezeichnet wurden."

Sonderpädagogik begleitete inklusive Modellversuche

Nur in Sonderschulen würden diese Kinder ausreichend gefördert, lautete das Argument. Alternativlos war der Ansatz nicht: Italien entschied sich 1977 für den inklusiven Weg und schaffte sämtliche Sondereinrichtungen ab – alle Kinder besuchten fortan die regulären Bildungseinrichtungen. Aber auch in Deutschland formierten sich kritische Stimmen, an Hochschulen und in Familien, die argumentierten, dass ein separierendes System Menschen mit Behinderungen isoliere und soziale Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten verhindere.

Die Sonderpädagogik der PHHD und die Hochschulgruppe der Gewerkschaft Erziehung und Bildung (GEW) nahmen damals Kontakt zu einer Gruppe Heidelberger Eltern auf, die dafür kämpften, ihre Kinder in Regelkindergärten schicken zu dürfen. "Wir wollten unser fachliches Selbstverständnis weiterentwickeln", sagt Kornmann. Eine gemeinsame Erziehung sei schon länger Thema im Fachbereich gewesen. Es gab Veröffentlichungen dazu, wie 1977 die Publikation "Unterricht und Erziehung Behinderter in Regelschulen" von Rudolf Schindele aus der Sehgeschädigtenpädagogik.

Eine Veranstaltung der GEW zu Integration mündete schließlich in ein Positionspapier: Reimer Kornmann, der Lehrer Manfred Weiser und Erika Ritter, Mutter eines Kindes mit Beeinträchtigung, schlugen darin die Gründung einer Initiative vor, um dies praktisch umzusetzen. Beginnen wollte man im Elementarbereich, aber auch eine Teilzeit-Abordnung von Sonderschullehrkräften an Regelschulen sollte ein erster Schritt sein. "Uns schwebte vor, mit der Schaffung eines integrativen Schulsystems direkt vor Ort zu beginnen", erzählt Kornmann. "Wir waren überzeugt, dass der Unterricht für alle insgesamt die Qualität verbessern würde, wie wir an der PHHD über Unterricht nachdenken."

Den Text sieht Kornmann als eine Grundlage für die darauffolgende Gründung der Elterninitiative "Rhein-Neckar – Gemeinsam leben, gemeinsam lernen e.V.", die sich bis heute für Inklusion in allen Lebensbereichen einsetzt. Mit großer Hartnäckigkeit hätten Eltern von Kindern mit Behinderung hier Ansätze für eine gemeinsame Erziehung erstritten. So konnte nach vielen Hindernissen erstmals eine integrative Gruppe im Kindergarten „Viernheimer Weg“ eröffnet werden, weitere Projekte folgten in Weinheim.

Das Rektorat stellte der Elterninitiative Räume zur Verfügung. Sonderpädagog:innen der Hochschule trafen sich regelmäßig mit der Gruppe und begleiteten wissenschaftlich die ersten integrativen Schulversuche in Baden-Württemberg. Auch hochschulintern beeinflusste der Kontakt die Lehrinhalte. "Als wesentliche Aufgabe haben wir angesehen, die Lehrkräfte dieser Schulversuche praxisbegleitend zu qualifizieren", sagt Kornmann.

Eltern sind treibende Kraft für Inklusion

Vier Jahrzehnte später ist die Inklusion ein ganzes Stück weitergekommen, aber noch nicht am Ziel. Kornmann findet dies nur natürlich. "Alles bleibt in Bewegung, wir sollten unsere Denk- und Handlungsmöglichkeiten immer wieder erweitern." Umso erfreulicher, dass die Elterninitiative nach wie vor in der Region aktiv ist – und weiterhin Kontakt zur PHHD pflegt.

Beispielsweise besuchen die "Heidelberger Glückskekse" regelmäßig Sonderpädagogik-Seminare von Prof. Dr. Karin Terfloth: Die Betreiber des Heidelberger Glückscafés mit inklusivem Team wird als Unternehmen unter anderem von Mitgliedern aus der Initiative betrieben. Vom Kontakt profitierten beide Seiten, sagt die Wissenschaftlerin. "Studierende erleben Projektarbeit live und ein gut funktionierendes Praxisbeispiel für Inklusion. Und wir können gelegentlich praktische Beratung anbieten, zum Beispiel in Sachen Software."

Das Engagement von Elterninitiativen braucht es damals wie heute, ist Terfloth überzeugt. Sie seien ein wesentlicher Motor, um mehr Teilhabe für Menschen mit Beeinträchtigungen durchzusetzen. "Viele Entwicklungen in der Inklusion kamen oft erst ins Rollen, weil sich Eltern dafür stark gemacht haben."

Weitere Informationen finden Sie unter .

Text: Antje Karbe

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